»Wo ist unser Koffer?«, ruft meine Frau. Sie trägt dabei diesen Gesichtsausdruck. Diesen ganz bestimmten Gesichtsausdruck, den nur verheiratete Frauen draufhaben. Auf der Skala erwartbarer Gesichtsausdrücke von »Ooooh, ich liebe dich, du bist der tollste Mann der Welt!« bis »Was, deine Mutter kommt heute zu Besuch, und sie steht schon vor der Tür?« ist ihr aktueller Gesichtsausdruck eine Stufe vor letzterer, also auf dem Level »Du hast nachts besoffen auf Instagram deine Bauchnabelfusseln gepostet? Und dich hab ich geheiratet?«
Diesen Gesichtsausdruck trägt sie gerade. Ich rekapituliere kurz: Ich habe nicht besoffen die Fusseln aus meinem Bauchnabel gepostet. Ich habe im Bauchnabel keine Fusseln. Und wenn doch, würde ich die nie posten. Weiterhin steht meine Mutter nicht klingelnd vor der Wohnungstür. Hier ist gar keine Wohnungstür. Wir befinden uns seit Stunden in einem Schrebergarten, draußen im Freien am Rand von Potsdam.
Kurz nach fünfzehn Uhr lud uns mein Schwager am schönen Potsdamer Shopping-Hauptbahnhof in sein Auto, um uns und unser Familiengedöns hierhin zu fahren. Und jetzt, nur zweieinhalb Stunden später, fällt uns auf, dass wir unseren Koffer brauchen. Weil wir da was rausholen wollen. Aus dem Rollkoffer, der vorhin mit uns in der S-Bahn nach Potsdam gefahren ist. Wo der Koffer ist, will meine Frau wissen.
Ich antworte: »Hä?«
Der Koffer sei nicht im Auto, sagt sie. Mein Schwager habe ihn auch nicht eingeladen, sagt er.
Wir haben den Koffer also am Hauptbahnhof in Potsdam stehen lassen. Drei Erwachsene haben es verpeilt, einen einzigen Koffer in ein Auto einzuladen. Vielleicht, weil die drei Erwachsenen zwei Kleinkinder dabeihatten und damit überfordert waren.
Auf jeden Fall ist das jetzt nicht so gut, denn im Koffer befindet sich so ziemlich alles, was wir und die Kinder für zwei Übernachtungen brauchen. Wunderbar. Ich mache das Naheliegende: Ich google »Potsdam Hauptbahnhof Sperrung Koffer Sprengung«.
Nichts.
Aha. Sonst steht das doch immer sofort da, wenn irgendwo ein Koffer rumsteht. Damit die ganze Republik Angst vor einem Koffer hat. Wir haben doch hier im Land eine gefährdete Sicherheitslage. Überall sind Terroristen unterwegs, permanent werden Leute in Hinterhalte gelockt, entführt, ausgeraubt, islamisiert, einen Kopf kürzer gemacht und danach abgeknallt. Oder umgekehrt. Auf jeder Landstraße, auf jeder Autobahn haben Freischärler und Bürgerkriegsmilizen Checkpoints errichtet. Das weiß doch jeder aus seiner Telegram-Gruppe. Man guckt ja schon ganz neidisch nach Syrien oder Mexiko, weil es in diesen Ländern trotz allem (Sonne, Hitze, Staub, blaue Bohnen) viel sicherer ist als hier. Aber jetzt frage ich Google »Potsdam Hauptbahnhof Koffer Explosion hallo?« Und Google sagt: nix.
Tja. Am Potsdamer Hauptbahnhof kann der Koffer also nicht sein.
Vielleicht ist Google News heute langsamer als sonst? Immerhin ist Samstag, es ist schönes Wetter, vielleicht sind die Google-News-Mitarbeiter alle im Freibad? Zur Sicherheit schaue ich bei Twitter nach, ob Beatrix von Storch was gepostet hat, die ist immer schneller als Google, die twittert schon, bevor der Selbstmordattentäter explodiert ist. Aber auch hier: nichts. Und das ist jetzt wirklich seltsam.
Die Tatsache, dass Beatrix von Storch nichts Hysterisches zu einem herrenlosen Koffer am Potsdamer Hauptbahnhof getwittert hat, beunruhigt mich. So weit haben sie mich schon!
Keine Koffersprengung. Weil: kein Koffer. Der Koffer ist weg. Verdammt!
Derweil googelt meine Schwester das Fundbüro und ruft die Nummer gleich mal an. Niemand hebt ab. Vermutlich findet im Fundbüro keiner das Telefon, haha.
»Gut, wir fahren da jetzt hin. Hilft ja nichts. Wir brauchen den Koffer.«
Eine halbe Stunde später sind wir am Bahnhof. Meine Nichte, mein Schwager und ich. Bevor wir das Auto ins Parkhaus fahren, passieren wir eine Sitzbank mit Potsdamer Trinkern drauf und danach die Stelle, wo uns der Schwager abgeholt hat. Könnte ja sein, dass der Koffer da immer noch steht. Ist aber nicht so. Da steht kein Koffer. Vielleicht stand er da auch nie? Vielleicht hab ich ihn bei McDonald’s vergessen, wo ich dem Kind, nachdem wir aus der S-Bahn gestiegen waren, zur Beruhigung einen Cheeseburger gekauft habe. Wir fragen nach. Beim selben Verkäufer, der mich vor knapp drei Stunden bediente. Auf meine Frage, ob ich in seinem Laden eventuell einen schwarzen Rollkoffer vergessen hätte, setzt er einen grübelnden Blick auf und schickt eine Mitarbeiterin in diesen dunklen Raum hinter dem Tresen, wo vermutlich aus Langzeitarbeitslosen Chicken McNuggets hergestellt werden. So genau weiß man das aber nicht. Und man will es auch gar nicht wissen. Aber bekanntermaßen verschwinden ja ständig Leute aus der Arbeitslosenstatistik. Und tauchen nie wieder auf. Und keiner fragt sich, wo die hin sind.
Die Mitarbeiterin kommt zurück und hält eine braune Baseballkappe hoch, die vor Kurzem noch einem Menschen gehörte. Mich fröstelt es. Und dann setze ich einen grübelnden Blick auf. Es gibt viele Menschen, denen man ansieht, dass sie oder ihre Vorfahren nicht von hier sind, dass sie die hießige Sprache nicht auf Anhieb beherrschen. Das macht ja nichts. Aber diese beiden hier vor mir sehen so aus, als seien sie von hier. Und jetzt präsentieren sie mir, der nach einem Rollkoffer fragte, eine Baseballmütze. Entweder stumpfen die Arbeit bei McDonald’s und der Aufenthalt in diesem McDonald’s-Dunst mehr ab, als man glaubt. Oder aber die beiden sind doch nicht von hier und sprechen lediglich die McDonald’s-Sprache, die nur aus den Menükomponenten und »Klein? Mittel? Groß? Ketchup oder Mayo?« besteht. Und das Wort »Rollkoffer« ist nun mal nicht dabei. Ergebnis: Ratlosigkeit auf beiden Seiten. Und kein Koffer.
Also ab zur nächsten Such-Station: dem S-Bahn-Servicepoint. Kann ja sein, dass ich den Koffer in der S-Bahn vergessen habe. Ein bulliger Brandenburger Bahnmitarbeiter nimmt sich meiner an. Nehme ich an. Und stelle meine Frage. Und ohne im Gesicht auch nur einen Muskel zu bewegen, dreht er sich um und läuft von mir weg. Ich folge ihm. Ich weiß, dass die Einwohner Potsdams laut Statistik zu den unzufriedensten Menschen Deutschlands gehören. Und jetzt folge ich gerade ihrem König. Dieses Gesicht hat zum letzten Mal gestrahlt, als Erich Honecker versprach, dass die Mauer auch in hundert Jahren noch stehen werde.
Der Mann mit dem Plattenbaugesicht sagt was, schnell stelle ich mich vor ihn, um mich in der Illusion zu wiegen, er spräche mit mir: »Vielleicht haben ihn die Reinigungsjungs gefunden und mitgenommen.«
»Ja, aber die S7 ist doch gleich wieder nach Berlin zurückgefahren, vorhin, da sind die doch gar nicht durch«, sage ich.
»Die S-Bahn wird hier immer gereinigt. IMMER!«, funkelt er mich an. Noch ein Wort, Freundchen, und du bist der Prellbock!
Jetzt haben wir die Reinigungsjungs erreicht.
»Jungs, habt ihr einen Koffer gefunden?«
»Nö.«
»Tja, also hier isser dann wohl nicht.«
»Und wenn ihn jemand anders gefunden hat?«
»Dann kommt der Koffer zu uns, bleibt zwei Wochen und landet dann im zentralen Fundbüro der Bahn in Wuppertal.«
»Wo?«
»In Wuppertal.«
»Wieso das denn?«
»Keine Ahnung, vielleicht haben die die Wende verschlafen.«
Das sagt jemand, der augenscheinlich die Wende, die Nachwende, den Tod von Lady Di, die Hochzeit von Elton John und die Insolvenz der SPD verschlafen hat. Aber: wieder kein Koffer.
Nächste Station Bahnhofsfundbüro. Wo keiner ans Telefon gegangen ist. Meine Nichte, mein Schwager und ich googeln, wo das Fundbüro ist. Hoffentlich finden wir das Fundbüro, haha.
Aha, da: Parkhaus Ebene 0, Einfahrt Babelsberger Straße. Da gehen wir hin. Das dauert ein bisschen, denn wir müssen durch den halben Bahnhof. Und zwar da, wo ein Kaufhaus ist, ein Kino, ein Teppichbodenparadies, ein Nagelstudio, ein Dönerladen, ein Eiscafé, ein Kaffeehaus und eine Drogerie.
»Was ist das denn – ein Dandy-Effekt?«, fragt mich meine Nichte.
»Hä? Ach so, du meinst den Laden da«, sage ich. »Du hast dich verlesen. Da steht ›Handy defekt‹. Dandy-Effekt wäre ein etwas säuischer Herrenduft von Axe gewesen. Aber Handy defekt? Vielleicht hauen die in dem Laden mit dem Hammer drauf, damit man das Ding mal zur Seite legt. Oder das ist ein Handyschuster, der das Ding mit neuer Schutzfolie besohlt. Aber so genau weiß ich das auch nicht. Meine Güte, hier gibt’s ja wirklich alles zu kaufen!« Ich staune.
Warum hat man hier eigentlich Schienen verlegt, man braucht doch gar nicht wegzufahren. Hier gibt es alles, was man braucht! Kann man auch gleich dableiben. Und damit das auch viele machen, hält in dieser Landeshauptstadt nicht mal ein ICE. Nur wenn er sich verfährt oder wenn die Elbe wieder Hochwasser führt und der ICE über Magdeburg umgeleitet wird, eine andere Landeshauptstadt, in der er nie hält. Sonst stoppen hier in Potsdam nur die S-Bahn, einige Regionalverbindungen und gerüchtehalber ein Intercity. Und das, obwohl Günther Jauch hier wohnt! Da kommt man ja selbst aus Chemnitz besser weg.
So, wir sind angekommen, wo das Fundbüro sein soll. Das Fundbüro im Potsdamer Hauptbahnhof erkennt man daran, dass nicht dransteht, dass es das Fundbüro ist. Man erfährt, dass hier das Fundbüro ist, wenn man im Kabuff der Parkhausaufsicht nach dem Fundbüro fragt. Das Fundbüro hätten wir also gefunden. Aber nicht den Koffer. Denn hier ist er nicht. Und wenn er im Bahnhof gefunden worden sein sollte, würde er hier eh erst in zwei Tagen ankommen, weil er zwischendurch durch eine Art Koffer-Transferzentrum muss, bevor er Asyl im Fundbüro kriegt, erklärt uns der Fundbüromann im Fundbüro. Außerdem sagt er: »Sie müssen allerdings auch damit rechnen, dass jemand den Koffer geklaut haben könnte. Soll ja vorkommen, sowas.«
Verschwörerisch blinzelt er zum Abschied, bevor er das Rollo seiner Aufsichtskabine wieder runterlässt. Damit ihn keiner finden kann.
Eine Stunde Koffersuche ist rum. Meine Nichte, mein Schwager und ich spekulieren, was wir mit dem Koffer tun würden, wenn wir ein Kofferdieb wären. Wir spielen das durch wie FBI-Profiler.
»Also, ich würde mit dem Koffer auf irgendeine weitläufige Grünfläche hier am Bahnhof verschwinden. Ich würde mich dort hinter einer Hecke verstecken und den Koffer durchwühlen. Das Bargeld, die Diamanten, die Kreditkarten und die externe Festplatte mit den Bitcoins drauf würde ich einstecken, den ganzen unbrauchbaren Rest, also Kulturbeutel, Unterwäsche, Socken und so weiter würde ich ins Gebüsch schmeißen und schlussendlich meinen Darm darauf entleeren, um meiner abgrundtiefen Verachtung für die kleinbürgerliche Existenz des Kofferbesitzers Ausdruck zu verleihen«, sage ich.
»Genauso würde ich das auch machen«, sagt meine Nichte.
Wir suchen also die Grünflächen rund um die Nordseite des Potsdamer Hauptbahnhofs ab. Wir spähen durch die Lücken eines Bauzauns. Wir schleichen über die Gleise der S-Bahn. Wir spielen kurz mit dem Gedanken, im Media-Markt eine Drohne zu kaufen, die wir fliegen und von oben suchen lassen. Der Koffer ist wohl weg. Resigniert kaufen wir uns Eis. Ich kaufe auch schon mal Zahnbürsten und Zahnpasta. Ich schaue mich auch nach Handtüchern um.
Eine Stunde später habe ich in allen Läden des Potsdamer Hauptbahnhofes einmal mit EC-Karte bezahlt. Jeder von uns dreien ist mit zwei Tüten beladen, wo alles Lebensnotwendige für zwei Übernachtungen im Schrebergarten drin ist. Noch ein letztes Mal, nur zur Sicherheit, checken wir den Platz neben den Fahrradständern, wo mein Schwager uns vor gefühlt einer Woche ins Auto geladen hat. Noch einmal schwenke ich mit dem Kopf rüber zu den Trinkern auf der Sitzbank. An denen wir vorhin mit dem Auto schnell vorbeigefahren sind. Und schwenke zurück. Und schwenke wieder hin. Irgendwas saugt meinen Blick an. Und zwar mein Schlafsack. Dessen Hülle ich über den Griff unseres Rollkoffers gehängt hatte. Den ich jetzt voll im Fokus habe. Weil der Rollkoffer neben den Trinkern an der Sitzbank steht.
Ich staune immer noch, wie schnell ich mit den Tüten in der Hand sprinten kann, während ich bereits in einer Staubwolke vor dem Rollkoffer abbremse, den Koffer schnappe und abzischen will. Doch rechtzeitig fällt mir ein, einen der verdutzten Trinker zu fragen, wie der Koffer hierher kommt: »Na, der stand da vorne am Fahrradständer rum. Den wolltick dem Wachschutz jeben, wegen Terrorjefahr, aber die wollten den Koffer nisch. Der Mann vom Wachschutz hat mir jesacht: ›Kannste behalten, den Koffer. Nimm mit, das Ding. Da haben wir weniger Arbeit.‹«
Das hat der Mann vom Wachschutz dem Trinker gesagt.
Ich gebe dem freundlichen Mann, der nach Bierblumen duftet, einen Geldschein. Damit er noch möglichst lange auf seiner Bank sitzen und Terroranschläge verhindern kann.
Und ich muss mich an dieser Stelle beim Wachschutz des Potsdamer Hauptbahnhofs bedanken. Für die Besonnenheit, die Lässigkeit, die sehr aktive Terrorangstignoranz, für die Barmherzigkeit gegenüber den Ausgestoßenen unserer Gesellschaft und dafür, dass ich unseren Koffer sehr viel schneller wiederbekommen habe, als wenn er in die Mühle aus bahneigenem Fundbüromechanismus und Stückgutrückgabekette gelangt wäre. Wenn ich ihn da überhaupt wiederbekommen hätte.
Darum meine Forderung: Gebt den Trinkern mehr Sitzbänke, denn sie geben auf uns acht!
Allerdings habe ich jetzt sechs volle Einkaufstüten mit Kram, den ich nicht mehr brauche. Ich frage den Mann, ob er das Zeug in der Shoppingmall im Bahnhof für mich umtauschen kann. Mit den Kassenbons. Das Geld kann er behalten. Zum Dank.
Nee, sagt er, auf keinen Fall, in diesen Bahnhof geht er nicht rein. Dort verschwinden immer Leute. Bei McDonald’s. Die müssen dann da arbeiten, dürfen nichts trinken und verlieren den Verstand, sagt er. Da bleibt er doch lieber hier draußen sitzen und passt auf, dass nichts passiert.
Ich nicke ihm zu. Dank ihm und seinen Kumpels ist Potsdam Statistiken zufolge eine der sichersten Städte des Landes.
Und wer das nicht glaubt, der kann ja nach Mexiko oder nach Syrien ziehen.
Und wenn er für die Reise dorthin einen Koffer braucht, kann er ihn sich in Wuppertal holen.