Premiumkunde bei der Deutschen Bahn
Ich habe mich lange geziert, es zuzugeben. Aber irgendwann wäre es eh rausgekommen. Also sag ich’s einfach: Ich bin Premiumkunde der Deutschen Bahn. Seit mehr als zehn Jahren besitze ich die Bahncard 100. Die kaufe ich mir jedes Jahr neu. Denn ich bin reich.
Warum bin ich reich?
Ich nehme seit Jahren im Keller des Berliner Bayer-Werkes an erlebnisintensiven und sehr gut bezahlten Tablettenverkostungen teil.
Alles, was ich esse, schmeckt seitdem nach Hüttenkäse mit Kapern. Nur Hüttenkäse mit Kapern nicht. Außerdem habe ich beide Nieren per Hypothek an ein reiches arabisches Emirat vermacht. Wenn schon Organspende, dann auch für Leute, die ordentlich dafür zahlen. Und diese reichen Araber da unten leiden oft, hab ich mal gelesen, an Diabetes. Weil sie nämlich viel zu viel völlig überzuckerten schwarzen Tee und fette Gebäckteilchen konsumieren. Davon gehen ihre Nieren kaputt. Also verkaufe ich denen meine.
Ich selber besitze schon eine Ersatzniere, die ich mir aus dem 3D-Drucker rausgelassen habe. Für die Jüngeren: Ein 3D-Drucker ist kein neues Phänomen, sowas gab’s früher auch schon. Damals hieß das nur anders.
Und zwar: »strickende Oma«.
Weil ich so unfassbar viel Geld absahne, besitze ich selbstverständlich die Bahncard 100 für die 1. Klasse. Die nutze ich aber nie, weil ich stets mit einem SUV zu den Auftritten fahre. Und zwar fahre ich immer neben einem ICE her, in dem ich sitzen könnte. Aus reiner Lust am Provozieren. Denn stänkern ist in. Ich will beim Querdenken mitmachen, aber auf meine Weise.
Zurück zum eigentlichen Thema: Ich bin Premiumkunde der Deutschen Bahn. Ich habe der Bahn, diesem privat-staatlichen Homunkulus, schon so viel Kohle überwiesen, dass mir der Laden zur Hälfte gehört. Fahrkartenkontrolleure schlagen vor mir die Hacken zusammen. Sie zeigen mir unaufgefordert ihre Patschehändchen, damit ich kontrollieren kann, ob ihre Fingernägel sauber sind. Es ist toll, zur Elite zu gehören.
Der Bahnchef gibt mir zu Ehren alljährlich einen Empfang, bei dem es richtiges Essen gibt. Nicht wie im Bordrestaurant diesen vorverdauten Nährschlamm aus dem Dampfgarer.
Immer zur Weihnachtszeit läutet ein livrierter Bote an meiner Tür und überreicht mir einen Präsentkorb mit Champagner, Kaviar und dem jährlichen Aktkalender des kompletten Bahnvorstandes.
Außerdem steht mir permanent ein privater ICE zur Verfügung, der in der Nähe meines Auftrittsortes mit laufendem Elektromotor parkt. Und wenn die Zugabe beendet ist, fährt mich der Lokführer persönlich mit einem Rikschataxi zum Zug, wo ich an der Bar noch einen Drink nehme, bevor ich mich in eins der dreißig nur für mich eingebauten Wasserbetten lege, um in süße Träume abzutauchen, während der ICE mit Tempo dreihundert zwischen Frankfurt und Bonn hin und her fährt – egal, wo ich vorher aufgetreten bin. Denn nur auf dieser Hochgeschwindigkeitsstrecke sind schienengebundene Parabelflüge möglich, so dass ich richtig gut schlafen kann. Dafür hat die Deutsche Bahn zu sorgen. Schließlich bin ich ihr Kunde, ein Premiumkunde!
So jedenfalls sollte meinen Vorstellungen zufolge der Ist-Zustand sein. Für mich, den Besitzer einer Bahncard 100.
Die Realität sieht aber anders aus. Wir sprechen hier schließlich von der Bahn.
Neulich kam per Brief eine Einladung zu »Acht Begegnungen«, also zu acht Premium-Kunden-Events, deren Aufzählung meinen Pulsschlag jetzt gleich drastisch beschleunigen wird.
Ich kann zum Beispiel auf dem Güterbahnhof Maschen bei Hamburg beim An- und Abkoppeln von Güterwaggons zugucken. Einen ganzen Tag lang! Ich stelle mir vor, wie das sein wird. Zusammen mit den anderen Trainspottern stehen wir dicht an dicht auf dem Aussichtsturm. Wir tragen unsere robustesten Funktionsjacken. Lauter kleine, aufgeregte Jungen, gefangen in den stämmigen Körpern siebenundfünfzigjähriger Verwaltungsbeamter. Man könnte uns für die Teilnehmer eines Peter-Altmaier-Ähnlichkeitswettbewerbs halten. Wir haben belegte Brote mit Harzer Käse dabei. Und hartgekochte Eier. Wir filmen, was das Zeug hält. Wir freuen uns diebisch darauf, das Rohmaterial später im Jugendzimmer mit dem Windows Movie Maker YouTube-kompatibel zu schneiden.
Ab und zu kommt Mama ins Zimmer und bringt ihrem siebenundfünfzigjährigen Sohnemann ein Graubrot mit Rügenwalder Mühlenwurst. Und eine schöne warme Flasche Bier. Mama ist dabei sehr flink und atmet durch den Mund, denn im nur unzureichend gelüfteten Zimmer riecht es nach Selbstbefriedigung, Zwiebeln und viel zu lange getragenem Schlüpfer.
Sie möchte da schnell wieder raus sein, bevor ihr der Junge im Fachjargon wie so oft Herkunft, Ziel und Fracht des Güterwaggons Typ »Hupac in Leichtbauweise« erläutert, den er auch heute wieder gefilmt hat. Sie liebt ihren Sohn. Aber nicht so sehr, dass sie sich jeden Abend stundenlang seinen Rangierfahrt-Ankoppel-Abkoppel-Nerdkram anhören möchte. Das treibt sie sonst endgültig in die EiEiEi-Verpoorten-Abhängigkeit.
Jetzt aber raus aus meinem Tagtraum und weiter mit den »Acht Begegnungen«, die mir meine Bahn AG in ihrer exklusiven Broschüre anbietet. Wenn ich mich mit einem persönlichen Code online registriere, kann ich im »kleinen und exklusiven« Kreis in der Fahrplan- und Verkehrsleitung Rhein-Main-Gebiet zuschauen, wie ein Fahrplan entsteht.
Wow!
Oder ich werde in der Reisenden-Information Frankfurt darin eingeweiht, wie »detaillierte Reisenden-Informationen den Kunden erreichen«.
Ganz ehrlich: Ich hab mich immer schon gefragt, wie das wohl passiert! Das zu erfahren, ist doch purer Nervenkitzel! In die »Reisenden-Information Frankfurt« machen saudi-arabische Kampfpiloten Betriebsausflüge, wenn sie in einer Pause zwischen zwei langweiligen Jemen-Bombardierungen mal was Richtiges erleben wollen!
Augenblicklich erträume ich mir weitere Events. In meiner Fantasie werde ich im berühmten »Servicecenter Fahrgastrechte« dabei sein, wie das Schreizimmer geöffnet wird. Dahin schickt die Bahn ihre geschundenen Mitarbeiter zur Kur. Und zwar solche, die auf besonders schlimmen Regionalbahnstrecken arbeiten müssen.
Im Schreizimmer dürfen sie in Gedanken an ihre Fahrgäste so laut schreien, bis ihnen der Hassspeichel flockig aus dem Mund flattert. Sie dürfen Hartmut-Mehdorn-Puppen zerbeißen. Es gibt Weitkotzwettbewerbe auf Fahrgastrechteformulare. Und Kochkurse, in denen aus zermatschten Tauben, die ein Speed-Dating mit einer ICE-Lok hatten, das berühmte Chili con Carne zubereitet wird. Nach diesem zweiwöchigen Aggressionsabbau ist der Mitarbeiter wieder robust genug für den Einsatz auf sächsisch-thüringischen DB-Regio-Verbindungen. Gerne samstagnachmittags, wenn die Fans der ostdeutschen Traditionsvereine Thor Steinar Zwickau oder NSU Jena euphorisiert und betrunken genug für den totalen Krieg vom Auswärtsspiel heimkehren.
Vielleicht lässt mich die Bahn, meine Firma, ja sogar ins Allerheiligste? Ich male mir aus, wie ich höhnisch lachend Regie führe bei der großen Wagenstandsanzeigerverschwörung. Ich kann einfach so den Hebel mit der Aufschrift »Verstehen Sie Spaß?« umlegen und in den Hauptbahnhöfen von Köln, München oder Frankfurt – der ist schön groß – die Bahnkunden, diese dusseligen Rollkofferamöben, mit pfeifenden Lungen von Abschnitt A zu Abschnitt G hecheln lassen, haha!
Vielleicht darf ich auch den Knopf drücken, der den ICE in Wolfsburg durchbrettern lässt, haha!
Ich könnte auch einen ganzen Tag lang in der Abteilung Bermudadreieck zu Gast sein, wo die Reservierungsanzeigen verschwinden. Weil dort unzählige Rumpelstilzchen, die alle das Gesicht von Ronald Pofalla haben, jede dritte Sitzplatzreservierung ausdrucken, in den Reißwolf werfen und aus den Schnipseln ein Feuerchen machen, über das sie springen, während sie mit hohen, teuflischen Stimmchen rufen: »Heute verspäte ich mich, morgen mach ich die Klos kaputt und übermorgen klaue ich der Königin ihr Kinderabteil!«
Seitdem ich diese Einladung besitze, quälen mich schlaflose Nächte voller stiller Freude.
Meine Aufregung hinderte mich bislang, eins der acht Megaevents auszuwählen. Nachher rutsche ich noch auf der Maus aus und klicke das Falsche an! Und was, wenn das hier nur der Beginn von etwas viel Größerem ist? Wenn alle anderen Serviceunternehmen, deren Kunde ich nun mal bin, auch auf die Idee kommen, mich mit einer Einladung zu überraschen?
Darf ich beim Obstbauern miterleben, wie die kleinen Aufkleber auf die Äpfel geklebt werden, auf denen steht, dass das ein Apfel ist? Damit der Kunde weiß, dass er keine Banane in der Hand hält?
Und wie wird es sein, wenn mein Stromversorger mich vor eine Solarzelle setzt, damit ich mal zugucken kann, wie die das so macht?
Oder lädt mich gar mein Bioladen ein, den Bananen beim Braunwerden zuzugucken?
Ich bin mir sicher, irgendwann werde ich all diese Einladungen kriegen. Und ich werde sie annehmen.
Und dann kann ich sagen: Ich war dabei!