Die Domina in Weiß

Ich bin ein Relikt der jüngeren europäischen Geschichte, ein Zeitzeuge des Kalten Krieges. Ich habe den Kampf zwischen Sozialismus und Kapitalismus live miterlebt, die Kapitulationsurkunde der Verlierer trägt auch meine Unterschrift. Ich habe Zahnfüllungen aus beiden Gesellschaftssystemen im Mund. Die erzeugen Strom. Ich bin autark. Wenn ich mein Smartphone aufladen muss, beiße ich rein.

Manchmal muss ich eine der besonders alten Füllungen restaurieren lassen. Und immer öfter kommt der Zahnarzt dabei nicht weiter. Dann schickt er mich zu einem Spezialisten. Einem Endodontologen. Wenn Sie nicht wissen, was das ist, könnte Sie die folgende Reportage interessieren. Viel Vergnügen!

Ich befinde mich in der Praxis eines Endodontologen. Der Endodontologe ist der Ausputzer, der Reinemacher. Ein Auftragsmörder im Zahnarztkittel. Beim Endodontologen landet man, wenn der Zahnarzt mit seinem Latein am Ende ist. Der Endodontologe steht ganz oben auf der dentalen Karriereleiter. Er ist der Endgegner der Entzündung, der Bestatter der Bakterien.

Der Arbeitsplatz eines Endodontologen befindet sich zwar wie der eines schnöden Zahnarztes zwischen den aufgerissenen Zahnreihen eines Menschen. Aber ER, der Endodontologe, guckt durch ein Bildschirmmikroskop da rein. Er ist fast ein Drohnenpilot. Er könnte auch von zu Hause aus arbeiten. Aber er geht gern in die Praxis. Dort gibt’s Frei­getränke. Grauburgunder satt. Außerdem wird der Endodontologe sehr viel besser bezahlt als ein Zahnarzt. Und zwar vom Patienten.

Aber lassen wir ihn, den Profi, selbst zu Wort kommen: »Ich wollte schon immer was mit Menschen machen. Am liebsten draußen an der frischen Luft. GSG 9 vielleicht, Löcher in Terroristen bohren, mit dem G 36. Das wär’s gewesen. Wird aber nicht gut bezahlt. Ist halt staatlich. Also mach ich jetzt das hier. Guantanamo mit Eintritt. Ich bin die Domina in Weiß, hahaha.«

Ich weiche seinem Grauburgunderatem aus und notiere.

Er erzählt weiter: »Die Krankenkasse übernimmt meine Behandlung nicht, die Zahnzusatzversicherung deckt das auch nicht ab. Die Leute müssen das schön selber zahlen. Und ohne Betäubungsspritze kostet extra. Das ist mein Service für Impfgegner. Biete ich erst seit Kurzem an, geht aber richtig durch die Decke. Der Impfgegner wischt der Pharmalobby eins aus, und ich kann mir zwei Teslas vor die Tür stellen. Den einen lade ich auf, den anderen fahre ich leer. Der Kunde hier«, er zeigt auf den aktuellen Patienten, »wollte auch das Komplettpaket. Keine Betäubung und besonders grobe Bohraufsätze aus dem Kaukasus – Kaukasus, hahaha, verstehen Sie? Und er wollte einen Stuhl, der beim Bohren mit vibriert. Er will das Bohren richtig spüren, richtig erleben. Er ist Freund des Ursprünglichen, hat er gesagt. Zurück zu den Wurzeln, hat er gesagt. Das ist gut, das ist auch mein Motto. Was ich hier mache, ist ja komplett bio: keine Zusätze und richtig schön teuer. Herrlich. Früher habe ich gern Yoko Ono singen hören. Und jetzt lasse ich ihre Lieder von meinen Kunden nachträllern, har har har!«

Ich notiere.

Herzhaft lachend wendet er sich dem Bündel zu, das gefesselt auf dem Behandlungsstuhl liegt. Freiwillig. Die Beine sind zwischen Hüfte und Knöchel mit Gaffertape verklebt. Seine Handgelenke und Ellenbogen wurden mit Kabelbindern an den Armlehnen fixiert. Passt, wackelt nicht und hat keinen Platz. Aus den Winkeln des weit geöffneten Mundes ragen zwei dicke Saugstutzen.

»Ach komm, so schlimm wird das schon nicht werden«, muntert der Dienstleister seinen Kunden auf, »denken Sie einfach an was Schönes. Eine Hexenverbrennung, das Gesicht von Wolfgang Kubicki. Oder eine Hexe mit dem Gesicht von Wolfgang Kubicki. Na, tut gleich weniger weh, gell?«

Zu mir gewandt spricht der Facharzt: »Eigentlich wäre ich gern Metzger geworden. Aber Tiere sind so ausdrucksarm, das stört mich. Die reagieren nicht so kreativ auf Schmerzen, die gucken immer gleich dämlich. Da ist die menschliche Schmerzmimik irgendwie abwechslungsreicher. Und das reizt mich. Zu sehen, wie ein mir völlig Fremder aus sich rausgeht, wenn ich in ihn reingehe. Verstehen Sie? Haha.«

Und schon treibt der Endodontologe seinen Zahnarztbohrer mit dem dabei entstehenden Obertongeräusch in den Kiefer seines Patienten. Das menschliche Bündel vibriert wie ein Mobiltelefon bei Anruf. Hinter der blauen Baustellenfolie, mit der die Mundhöhle verkleidet ist, wimmert jemand um Gnade. Mit einer Stimme aus dem Jenseits.

»Der jammert ja noch besser als Yoko Ono. Hahaha. Wissen Sie was?«

Ich verneine.

»Meine Geräte lasse ich mit echtem Atomstrom antreiben. Original aus Russland. Hab mir extra ein Kabel legen lassen. Von Gerhard Schröder persönlich. Man muss den Putin unterstützen, wo es geht. Guter Mann. Außerdem liefert nur Atomstrom die Power, die ich hier brauche. Windenergie oder Strom aus Licht, das ist doch Pussysaft. Mit Solarzellen kann man höchstens Leselampen betreiben, hahaha. Es gibt ja auch Leute, die sich von Licht ernähren. Alles Spinner. Für echten Strom müssen Atome gespalten werden. Mit dem Presslufthammer. Von echten Kerlen mit freiem Oberkörper. Wie Putin. Is so!«

Mit diesen Worten schaltet der Spezialist seine Grubenlampe an. Dabei blickt er in sein Spezialmikroskop, das den kaputten Zahn seines Patienten auf Saarlandgröße heranzoomt. »Mit diesem Gerät kann ich den kaputten Zahn auf Saarlandgröße heranzoomen.«

Ich bin gespannt, was er sieht.

»Ach du Scheiße! Das Saarland! Alles entzündet. Ich muss einmarschieren. Astrid«, damit meint er seine Assistentin, die mal Maschinenbau studiert hat, »wir gehen jetzt auf drei Millionen Umdrehungen.«

Der Endodontologe setzt sich eine Schweißerbrille auf, »Nur zum Spaß!«, und beschleunigt seinen Bohrer. Das Jaulen der Maschine steigert sich zunächst in das schon mal gehörte druckvolle Fiepen, bevor es fürs menschliche Ohr unhörbare Frequenzen erklimmt. Aus der Mundhöhle steigt gelber Rauch. Draußen vor dem Fenster heulen drei Hunde synchron auf. Dann knallt es. Ein Mops hat einen Nervenzusammenbruch erlitten und ist von außen gegen das Fenster gesprungen. Nun rutscht der fladenbrotige Mopskörper in Zeitlupe zuerst die Scheibe und dann die Hauswand herunter. Ein Mitarbeiter der Berliner Stadtreinigung fönt ihn mit dem Laubbläser in den Rinnstein. Damit keiner drauf ausrutscht.

Man könnte diesen Laubbläser hören, wenn nicht zeitgleich im Inneren der Praxis ein Industriestaubsauger angeworfen worden wäre.

»Damit sauge ich meinen Arbeitsplatz frei, ich hab’s gern sauber«, sagt der Weißkittel, während er den Sauger in den Kopf seines Patienten steckt. »Wie das blutet, nice! Da habe ich wohl einen Brunnen gebohrt, hahaha!«

Er freut sich wie ein Kind und lichtet mit dem Smartphone sein Werk ab. »Gleich mal posten.«

»Sie posten den Zustand Ihres Patienten? Sie unterliegen doch der ärztlichen Schweigepflicht!«, empöre ich mich.

»Ja, glauben Sie, ich bin unter meinem Klarnamen bei Facebook? Ich bin doch nicht bescheuert. Und Schweigepflicht hat ja wohl gerade der da! Außerdem ist das immer wieder ein Highlight auf der Weihnachtsfeier der Ärztekammer, wenn sich die Kollegen aller Fachbereiche gegenseitig ihre Schnappschüsse aus dem OP zeigen. Oder glauben Sie, Proktologen machen keine Selfies auf der Arbeit? Vor der Tunneleinfahrt? Der zugedröhnte Halbnackte kriegt das doch gar nicht mit!«

Er posiert vor seinem Patienten, der auf dem Liegestuhl vor sich hin wackelt, während der Sauger dessen Kopf leerschlürft, und erläutert uns seine kommenden Arbeitsschritte. »Wenn der ganze Abraum aus dem Tagebau unter mir abgetragen ist, spüle ich mit hochkonzentriertem Chlor nach. Dann jage ich einen Impulslaser da rein, der das Chlor hochenergetisch aufpimpt. Das ist die gleiche Technik, die Gott beim Urknall verwendet hat. Wenn alles schön sauber geätzt ist, stecke ich Füllstangen in den Zahn und zünde sie über Bluetooth an. Die Stangen bestehen aus dem gleichen Schwarzpulver wie die Feuerwalzen von Rammstein. Die fackeln alles ab und schweißen hinter sich zu. Dieser Zahn wird sich zukünftig genau überlegen, ob er noch mal nervt. Früher musste ich zum Versiegeln mit Hammer und Sichel uranverstärkte Plomben in die Zähne kloppen, aber diese Methoden aus der Zeit des Warschauer Pakts gehören Gott sei Dank der Vergangenheit an.«

Und damit verabschiede ich mich. Ich habe genug gesehen. Ich wünsche dem Endodontologen noch alles Gute und werde heute Abend, das schwöre ich mir, wirklich wieder drei volle Minuten Zähne putzen. Und diesmal nicht mit Cola nachspülen. Das ist nämlich schlecht für die Zähne. Hab ich im Internet gelesen.