Wichtiger Hinweis: der folgende Text enthält vulgäre Sprache. Er wurde nach dem Genuss extrem schlechter Musik verfasst, und zwar in einem seltsamen Zustand unerklärlicher Entspannung und Gleichgültigkeit. Vielleicht haben Sie, liebe Leserin, so etwas ja auch schon mal am eigenen Leib erfahren.
Scheißmusik. Sie ist überall. Im Radio. In der »New Yorker«-Filiale. Im Autoscooter. Auf den Handys der anderen. Auf der CDU-Wahlkampfparty. Die Scheißmusik.
Aber an Plätzen, an denen sich die Trinker gern versammeln, am Ausgang des Hamburger Hauptbahnhofs beispielsweise, da, wo es zur U-Bahn hinuntergeht, ist die Musik nicht scheiße. Ausgerechnet dort läuft feinste Klassik. Um die Trinker zu vertreiben. Vermutlich weil man denkt, dass die Trinker denken: »Ah, das ist Feine-Leute-Musik, die der Elite vorbehalten ist. Also ziehe ich von dannen. Ich weiß schließlich, wo mein Platz ist. Nicht hier. Der Grund für meine Lebenssituation ist irgendwas Genetisches. Habe ich bei Thilo Sarrazin gelesen. Und jetzt läuft hier Klassik, schnell weg. Ich bin schließlich nur ein einfacher Trinker und kein weltgewandter Clochard.«
Dass die Trinker das denken, ist zumindest der Plan.
Funktioniert aber genauso gut wie andere Pläne. Nämlich gar nicht: Die Trinker sind ja auch nur Menschen. Die mögen Klassik. Die schunkeln dazu. Die haben ihren Lebensstandard wegen der tollen Musik sogar upgegradet. Sie trinken den Rotwein nicht mehr aus dem Tetrapack, sondern aus Actimel-Bechern. Ich habe dort sogar mal einen gesehen, der hat RICHTIGES Bier getrunken. Duckstein, das Oettinger für Yachtbesitzer. Wenn rauskommt, wer das wirklich trinkt, ist Ducksteins Image im Arsch! Das darf nicht rauskommen.
Man sieht: Gute Musik ist schlecht für das Zementieren des sozialen Status. Scheißmusik jedoch ist wichtig, damit alles so bleibt, wie es ist. Sie macht antriebsschwach. Sie ist textarme Durchhalteparole und dreiakkordiges Sedativum. Methadon zum Hören. Irgendein Hitradio an – und niedergeschlagen sein. Gäbe es keine Scheißmusik, würde das ganze System zusammenbrechen. Dann wäre es fürchterlich still auf dem Weihnachtsmarkt. Und auch auf dem Wolkenmarkt.
Dann würden die Menschen nicht mehr nur auf der Autobahn mit Tempo zweihundert aus sich rausgehen. Sondern auch im realen Leben. Sie würden spüren, dass sie am Leben sind. Sie würden Gedichte verfassen, Farben fühlen und die Wolken beim Fluffig-werden bestaunen. Sie würden begeistert ausrufen: »Schaut auf diese Wolken! Habt ihr schon mal solche fluffigen Wolken gesehen?« Wenn die Leute das täten, sähe jeder einen Sinn im Leben. Keiner würde mehr so funktionieren, wie es das System für ihn vorsieht.
Also: Lasst die anspruchsvolle Musik den Hipstern. Ein paar Leute müssen schließlich auf den Zeitgeist achtgeben. Gut, dass diese Hipster das der schweigenden Mehrheit abnehmen. Kann sich doch nicht jeder während seines Studiums zum Fooddesigner mit Tocotronic auseinandersetzen. Wer holt denn den Müll, wer fährt die Kehrmaschine, wer steuert den Regionalzug oder sitzt bei Primark an der Kasse, wenn alle nur noch niveauvolle Mucke hören, bei der man sich so sehr konzentrieren muss, dass man den Rest des Tages nicht mehr ohne eine Rhabarberschorle übersteht? Niemand.
Scheißmusik muss sein. Sie saugt dir an der Fontanelle, schäumt das Gehirn auf und dichtet dich von innen ab. Sie jagt dir eine Gänsehaut übers Zahnfleisch. Damit du vergisst, wie wenig du in dem Job verdienst, der dich zwingt, am helllichten Tag im Shoppingcenter Billiglumpen aus Bangladesch zu verkaufen. Wenn du das acht Stunden am Stück gemacht hast, helfen dir nur folgende Zeilen, um nicht durchzudrehen:
»Lass uns die Wolke vier bitte nie mehr verlassen, weil wir auf Wolke sieben viel zu viel verpassen.«
»Ich muss nur noch kurz die Welt retten, denn ich bin einer von achtzig Millionen, hallo Lieblingsmensch, die immer lacht, die immer lacht, die immer lacht.«
Wer sowas hört, ohne schreiend mit Anlauf durch ein doppeltverglastes Fenster zu springen, hat nichts mehr zu verlieren, weil er schon alles verloren hat. Wer sowas hört und daraus Kraft bezieht, hat verdammt noch mal seine Gründe. Wer sowas laut stellt, ohne seine inneren Organe in einem Strahl auszukotzen, verdient unseren Respekt. Denn seine Nerven sind so zerrüttet, dass nur noch Scheißmusik in der Lage ist, sie ruhigzustellen. Damit er keinen Unsinn macht.
Zum Beispiel noch mehr Scheißmusik.
Es gibt schließlich schon genug davon.