Wir brauchen keinen Krieg, wir haben einen Generationenkonflikt. Den kann man grob folgendermaßen zusammenfassen: Sture über Fünfzigjährige haben keinen Bock, sich die Welt von woken, neunmalklugen Mittzwanzigern erklären zu lassen, die nicht mal wissen, was eine Chromdioxidkassette ist. Oder eine Margarethe Schreinemakers. Beide, also die Kassette und die Margarethe, feierten Mitte der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts ihre letzten großen Erfolge.
Das, was ich nun schildere, liegt noch einige Monde länger zurück. Ich habe es aufgeschrieben, weil eins meiner Kinder mir neulich sagte, dass ich doch so alt sei und ihm sicher sagen kann, wie groß so ein Dinosaurier ist. Denn schließlich habe ich als Kind ja noch Dinosaurier gesehen. Und was soll ich sagen – das Kind hat recht. Also schildere ich mal, wie das war, damals, mit der Wiedervereinigung.
Über dreißig Jahre ist das jetzt her, dass über Nacht alles anders wurde im Osten. Die Grenze ging auf, man fuhr rüber. Man kam zurück mit hundert D-Mark. Oder mit Dosenbier für hundert D-Mark. Oder mit Westkartoffeln, die man neugierig gekauft hatte. Diese Dinger hatten im Gegensatz zu Ostkartoffeln keine braunen Froststellen und keine Wurmlöcher. Und sie waren behaart. Lustig. Die Kartoffelsorte hieß Kiwi. Und nun wollte man natürlich wissen, was passiert, wenn man die rasiert. Waren das Schamhaare?
Man wusste ja, dass die Westdeutschen total prüde waren. Dass sie nicht ständig nackt rumliefen wie die Ossis. Die Menschen im Osten haben ja alles nackt gemacht: am Hochofen arbeiten, Parteilehrjahr, aufs Auto warten, nach Schuhen anstehen, sogar beim Sex waren die Ostdeutschen nackt. Kann sich heute keiner mehr vorstellen.
Wir haben uns also aus Neugierde im November ’89 verklemmte Kartoffeln gekauft, dann haben wir sie zu Hause rasiert, haben ihnen die Schale abgezogen, haben sie gekocht, und: sie waren danach immer noch grün und sauer. Schöne Scheiße! Schade um das schöne Westgeld!
Was man noch mitbrachte aus dem Westen, war ein schwerer Augenschaden. Denn die Farben der freien Welt waren greller, die Menschen schöner, die Häuser bunter und die Autos haben viel mehr geglänzt als unsere. Außerdem hat nachts bei der Autofahrt nach Hause beim Aufblenden alles reflektiert auf den Weststraßen: die Seitenpoller, die Mittelstreifen und die Katzenaugen der Katzen, die man überfuhr, weil man das schwer beladene Auto nicht mehr richtig steuern konnte. Es war sehr schwer beladen mit Dosenbier, mit behaarten, prüden Kartoffeln und mit viel, viel Begrüßungsgeld, weil sich das jeder Ossi zehnmal geholt hatte. Mit dem Personalausweis, dem FDJ-Ausweis, dem Pionierausweis, dem FDGB-Ausweis, dem DSF-Ausweis, dem GST-Ausweis und sogar mit dem SED-Parteiausweis. Die doofen Westdeutschen stempelten für einen Hunderter alles ab, die kannten ja unsere offiziellen Dokumente nicht.
Mit dem Übertritt über die Grenze im November ’89 schalteten wir um: vom friedliebenden Sozialisten auf marktradikalen Schnäppchenjäger. Jetzt war die Devise nicht mehr »Mein Arbeitsplatz, mein Kampfplatz für den Frieden«, sondern »Ganz legal die Sparkasse ausrauben und dann Sonderangebote jagen!«.
Eine Nacht im Westen reichte, um uns blind zu machen. Es war so gleißend hell gewesen. Viele Ostdeutsche taumelten zudem mit einem Hörsturz zurück in ihre Heimat. Ihr Gehör hatte einen allergischen Schock erlitten, weil die Bewohner des mittleren Westens zwischen Hamburg und Kassel ganz ungewohnt sprachen: hochdeutsch nämlich. Wer jedoch nach Südwesten, nach Bayern gefahren war, um sich sein Geld zu holen, kehrte sogar mit zerborstenen Trommelfellen zurück. Denn die Menschen dort unten im Bergland sprachen tatsächlich wie Meister Eder und Franz Josef Strauß. Da hatte man jahrelang gedacht, die Bayern würden im Westfernsehen nachsynchronisiert, damit der traurige unterdrückte Ostdeutsche mal was zu lachen hat, wenn er sie sprechen hört. Und jetzt sprachen die Bayern wirklich so, erzählten die, die aus Bayern zurückkamen! Angst machte sich breit.
Und niemand konnte ahnen, dass es weiter westlich noch einen schlimmeren Dialekt gab: schwäbisch. Das erfuhr zunächst auch niemand. Denn die, die es zum Geldabgreifen bis nach Stuttgart runter schafften, kehrten nie zurück. Entweder kippten sie beim ersten Wortwechsel am Geldausgabeschalter in der Sparkasse tot um oder es befiel sie eine Schreckstarre, eine Lähmung. Eine Blitzassimilation. Sie schafften es nicht mehr aus dem Stuttgarter Kessel raus, sondern schlossen Bausparverträge ab, schafften bei Daimler, sprachen plötzlich selber schwäbisch oder gründeten den ersten Ortsverband der AfD – Jahrzehnte, bevor es diese Partei überhaupt gab!
Waren sie einige Zeit später komplett assimiliert, kehrten sie in den Osten zurück, wurden zu Chefs ihrer ehemaligen Freunde, kauften neue Immobilien und wollten ihr Alteigentum zurück. Ihre Geschäftspartner vor Ort in der alten Heimat waren Leute, die den Spruch »Eine Hand wäscht die andere« immer noch in allen Sprachen des ehemaligen Ostblocks aufsagen konnten. Diese frischgebackenen regionalen Unternehmer hatten jahrelang als bauernschlaue Parteifunktionäre ihre eigene DDR-Karriere gefestigt. Den Kapitalismus, dessen Theorie sie in Ruhe aus der Ferne, aus dem Schutz des doppelt umzäunten Deutschen Demokratischen Schrebergartens studiert hatten, setzten sie nun endlich in die Tat um, beispielsweise als Bauunternehmer. Oder als Makler. Zusammen mit windigen Geschäftsleuten aus dem Westen lebten sie ihre immer schon vorhandene Chefmentalität völlig enthemmt an den armen Mitbürgern aus, die schon zu Ostzeiten unter ihnen hatten leiden müssen. Selber schuld, wer den Kapitalismus haben wollte, ohne zu wissen, was er damit kriegte.