Kasseler Leberwurst

Jetzt, wo ich gerade in meinen Erinnerungen krame, fördere ich doch tatsächlich noch mehr zutage aus der Zeit, als sich die Welt änderte: 1990, das Jahr der Träume. Jeder Tag war »Another day in paradise«.

Endlich waren wir frei. Die Welt stand uns offen.

Ein Wunder war geschehen: Wir hatten Pässe. Also würden wir uns jetzt erst mal die BRD angucken, den goldenen Westen, und dann den Rest der Welt. Geld spielte keine Rolle, wir hatten uns ja im November ’89 genug Begrüßungsgeld ergaunert. Allein schon der Name: Westdeutschland. Das roch nach Lenor, das schmeckte nach Ferrero Rocher. Das war einfach das bessere Deutschland. Also nichts wie rüber. Endlich würde ein Traum in Erfüllung gehen, Wahnsinn!

Und dann standen wir in Kassel!

Und waren erschrocken. Hatten wir uns verfahren? Waren wir aus Versehen ganz, aber ganz woanders gelandet? Es war nicht auszuschließen, dass die SED/PDS-Schergen kurz vor der Grenze falsche Schilder aufgehängt hatten, um uns in die Irre zu führen. Sie hatten uns schon so oft belogen, sie würden es immer wieder tun. Vermutlich standen wir gerade ausgehungert und orientierungslos in Schmalkalden! Überprüfen ließ sich das nicht auf die Schnelle: Wir hatten kein Navi! Wir waren komplett am Arsch. Und das in Schmalkalden. Na danke!

Egal, erst mal was essen, dann weiterfahren. Große Frage: Was isst man denn hier so in Schmalkalden?

Guck mal da, eine regionale Spezialität: »Döner«.

Noch nie gehört. Aber wann ist man auch schon mal in Mittelthüringen? Immerhin konnten wir das aussprechen: »Dönor«. Ein typisches DDR-Essen. Mangelwirtschaft zum Runterschlucken. In ein altes Brötchen stopfte man Salatreste und runtergefallenes Krustenfleisch. Oder waren das zerschredderte und kurz angebratene Parteiausweise? Die gab’s ja jetzt ohne Ende. Zum Schluss dick Zwiebeln drüber, damit man das alles nicht sah und nicht roch.

»Und dafür wollen die auch noch Geld?«, hörte ich empört meinen Vater schimpfen. »Kommt jar nich in die Tüte, wir haben Bemmen dabei.«

Und schon hatte der praktisch veranlagte Mann eine selbstgeschmierte dicke Klappstulle mit grober Mansfelder Leberwurst in der Hand, von der er mit absoluter Entschlossenheit abbiss. Augenblicklich stand eine dicke Wolke ehrlicher ostdeutscher Leberwurstgeruch in der Luft, wie eine Mauer. Es roch nach Jugendwerkhof, Parteilehrjahr und abgebrannter Stasi-Zentrale.

Sofort stoppte ein Trabi neben uns, der vertraute Duft hatte ihn wohl magisch angezogen. Die Scheibe auf der Beifahrerseite wurde runtergeleiert, und ein Mann sagte: »Ich glaub, wir haben uns verfahren, hier riecht’s wie im Osten, wisst ihr den Weg Richtung Grenze?«

Der Kunde war witzig. Wenn wir den Weg in den Westen wüssten, stünden wir dann hier rum? Nee!

»Habt ihr noch ’ne Bemme übrig? Wer weiß, wie weit die Strecke noch is. Und eh ich hier im Osten irgendeinen Scheiß kaufe …«

»Richtig, meiner!« Mein Vater gab ihm ein Leberwurstbrot. »Macht zwanzig Mark.«

»Hä?«

»Ich üb schon mal für’n Kapitalismus, haha. War’n Witz. Kannste behalten. Guten Appetit. Lass es dir schmecken!«

Der Mann nahm die streng riechende Streichwurstschnitte und leierte das Beifahrerfenster hoch. Im Inneren des Trabis stöhnte jemand laut, aber umsonst, auf. Bevor er vermutlich starb.

Plötzlich kam aus Richtung der Imbissbude hinter uns ein Schrei: »Ey, könnt ihr mit eurem Stinkezeug mal weggehen? Ihr versaut mir meine ganze Ware!«

Der Imbissmann rannte auf uns zu und machte Armbewegungen, die uns verscheuchen sollten.

Wir fragten den Mann, wie wir aus diesem Kaff am schnellsten nach Kassel kämen. Und prompt wurden wir aus­gelacht.

Denn wir befanden uns, das mussten wir einsehen, tatsächlich, wirklich, echt: in Kassel!

Was?! Das konnte unmöglich sein. Das hier war der Westen? Warum wussten wir davon nichts? Dann wären wir doch zu Hause geblieben.

Denn zu Hause ist es immer noch schöner als in Kassel. Hier, im Herzen der Ernüchterung, bekamen wir die ersten Zweifel, ob das richtig war mit der Maueröffnung. Sollte uns das Westfernsehen all die Jahre wichtige Details über Westdeutschland vorenthalten haben? Damit wir ja nicht auf den Gedanken kamen, wie schön die DDR eigentlich ist?

Es gab ziemlich offensichtliche Gründe, wieso der ZDF-Landarzt nicht in Kassel praktizierte. Außerdem war im ZDF gerade die Serie »Zwei Münchner in Hamburg« angelaufen. Mit Uschi Glas und Elmar Wepper. Warum wollten diese beiden Münchner nicht nach Kassel? Warum spielte Kir Royal nicht in Kassel? Schließlich hieß eine der bekanntesten Fernsehserien auch »Schwarzwaldklinik« und nicht etwa »Seuchenhospital Kassel-Wilhelmshöhe«. Nicht mal Schimanski traute sich her. Der machte sein Ding in Duisburg.

Aber Kassel – wir fragten uns, warum es diese Stadt überhaupt gab? Das ergab doch keinen Sinn! Beim kurzen Spaziergang durch dieses Ghetto waren wir der festen Überzeugung, durch eine Kulisse zu laufen. Eine Kulisse für Filme, die in der DDR spielen. Wo man jahrelang nicht drehen durfte und jetzt nicht mehr drehen wollte. Und auch nicht musste. Weil man den Film in Kassel drehen konnte. Als Komparsen brauchte man nicht mal Ostdeutsche, die Hessen reichten völlig.

Hessische Zonenrandgesichter glichen, was Entbehrung und Elend anging, jeder Bitterfelder Hackfresse bis auf die letzte Kummerfalte. Beim Anblick eines hessischen Gesichtes suchte man automatisch nach einer Münze oder einer Möhre, die man dem armen Menschen in die Hand drücken wollte. Dieses Elend hatten die Rodgau Monotones schon Mitte der Achtziger besungen, im Song »Erbarmen, die Hesse komme«.

Es war also höchste Zeit, mit quietschenden Reifen die Flucht anzutreten. Fliehen konnten wir ja, haha! Nichts wie weg hier, und zwar dahin, wo es schön war. Nach Duisburg. Das kannten wir aus dem Fernsehen. Einen Zwischenhalt hatten wir auch eingeplant: Bielefeld.

Wir waren uns sicher, das würde unvergesslich werden!