Wenn’s beim Ostmann zweimal klingelt

Was Anfang der Neunziger im Osten abging, kann sich kein normaler Mensch vorstellen.

Man musste alles neu lernen. Und es gab keinen, der es den Leuten vormachte. Man musste sich wirklich alles selbst beibringen. Es gab keine Handbücher, es gab keine Tutorials. Es gab ja kein YouTube.

Wenn man heute nicht weiß, wie man mit dem Löffel isst, dann googelt man das. Wenn man nicht weiß, wie man Obst schält, dann trinkt man das als Smoothie. Wir leben heute im Zeitalter des allumfassenden Stützrades. Für alles gibt’s ein Forum, eine WhatsApp-Gruppe, eine Hilfeseite im Internet, eine Warnweste und einen Helm. Aber damals, vor dreißig Jahren, wurde eine große Gruppe Menschen kollektiv ins kalte Wasser geworfen, egal, ob die Leute dabei schwimmen lernten oder nicht. Es war auch piepegal, dass das Wasser eine zugefrorene Eisdecke hatte und viele dieser Menschen sich erst mal was brachen. In der Regel ihr Rückgrat.

Uns hat damals auch niemand gesagt, was passiert, wenn die Grenze aufgeht. Erst dachten wir jahrelang, die geht nie auf. Dann dachten wir, die geht nur für uns auf. Und nur in eine Richtung. Und nur die eine Grenze nach Westen.

Was waren wir doch doof. Dass die DDR auch eine Grenze in Richtung Osten hatte, interessierte die meisten von uns gar nicht. Dahinter wohnten doch auch nur die polnischen, die rumänischen, die russischen und all die anderen Klassenbrüder. Verwandte also. Noch ärmer als wir. Was ist der Unterschied zwischen Verwandten und Freunden? Freunde kann man sich aussuchen.

Wovon wir völlig überrascht waren: WIR waren für die der Westen! Und nun kamen sie zu uns: Russlanddeutsche, Sinti und Roma, Rumäniendeutsche und viele andere, denen es im Ostblock viel dreckiger gegangen war als uns Ostdeutschen. Wovon wir aber nichts wussten. Das hatte uns nie jemand erzählt. Warum auch? Der Nachkriegssozialismus war schließlich eine osteuropäische Erfolgsgeschichte, über die in ganz Osteuropa nicht diskutiert werden musste. Und nun, wo uns kollektiv freigekauften Ostdeutschen, die wir uns immer schon für etwas Besseres hielten, für einige Monate die Sonne aus dem Arsch schien, wollten wir verständlicherweise auch nichts vom Elend der anderen wissen.

Was wir ebenfalls nicht wussten, aber sehr schnell mitbekamen: Halunken und Tunichtgute machten sich aus dem satten Westen auf Richtung Osten. Für den Westen waren WIR neue Kunden. Und der Kunde ist König. Und Königen will jeder ans Leder. Kaum hatten wir die D-Mark, tauchten auch schon Schlitzohren auf, die sie uns abnehmen wollten. Denn der Osten brauchte jetzt ganz dringend ihre Hilfe, ihre Produkte und ihre Versicherungen. Sie waren bewaffnet, mit Messersets und Gurkenhobeln.

Permanent klingelten von nun an Vertreter an unserer Tür. Jahrelang hatten wir gar nicht gewusst, wofür wir eine Türklingel brauchten. Es bimmelte nie jemand. Kam ja keiner rein ins Land. Und die Stasi brauchte nie zu klingeln. Die hatte einen Schlüssel.

Jetzt war die Wende gekommen. Ein Wimpernschlag der Weltgeschichte hatte uns von halbverhungerten Stasi-Gefangenen in begehrte Verbraucher verwandelt. Vertreter über Vertreter drückten und drückten. Es hätte sogar geklingelt, wenn wir keinen Klingelknopf gehabt hätten. Mein Vater installierte uns sehr bald einen Nicht-Klingelknopf. Wenn der gedrückt wurde, klingelte es nicht. Total praktisch. Den hätte ein fliegender Händler damals an den Türen verticken sollen. Das wäre ein Hit gewesen!

Jeden Tag kamen sie. Es schien, als hätten sie sich die Wochentage aufgeteilt. Montags kamen die Messersetjungs. Dienstags die Gurkenhobelleute. Mittwochs klingelten die Tupperdosendamen. Am Donnerstag läuteten orientalisch anmutende Teppichhändler und Teppichhändlerinnen. Und Freitag dann logischerweise die Staubsaugervertreter. Samstag und Sonntag hatten wir frei. Aber nicht immer. Hin und wieder stand ein verwirrter Versicherungsvertreter vor der Tür, der im Verkaufsrausch vergessen hatte, welcher Wochentag gerade war. Und an manchen Sonntagen schellten die Zeugen Jehovas an der Tür.

Zuerst fragten wir noch nach: »Wer sind Sie? Zeugen? Sie haben was gesehen? Dann gehen Sie doch zur Polizei!«

Aber sie blieben vor der Pforte stehen, das hatten sie ja drauf. Bis es Montag war. Dann holten sie die Messersets raus und klingelten erneut. Das gab dann natürlich Probleme mit den anderen Messersetvertretern. Grauenhafte Revierkämpfe waren damals an der Tagesordnung. Hat man im Westen gar nicht mitgekriegt, was damals im Osten abging. Und wenn doch, interessierte das keinen.

Zum Glück konnten wir alles, was wir in den Schulfächern Wehrerziehung und Zivilverteidigung gelernt hatten, jetzt anwenden. Druckverband, stabile Seitenlage, Mund-zu-Mund-Beatmung. Wir ließen keinen zurück.

Manchmal gongte uns auch ein Alteigentümer aus unseren süßen Träumen. Wir hatten schon viele Alteigentümer erlebt, die unser Haus zurückhaben wollten. Alteigentümer schossen Anfang der Neunziger wie radioaktive Pilze aus dem Boden. Es gab mehr Alteigentümer als Alteigentum. Den meisten konnten wir sofort beweisen, dass ihnen das Haus noch nie gehört hatte. Wenn jemand vor dir steht, nach Bier riecht und Kleidung aus dem Quellekatalog trägt, die du selber in einem VEB-Kombinat genäht hast, dann weißt du: Der will dich verarschen. Der hatte gehört, dass man die Ossis jetzt ganz schön erschrecken kann: mit dem Wort »Alteigentum«.

Hätten diese Gauner mal besser DDR-Fernsehen geguckt! Dann wäre ihnen klar gewesen, wem sie da gegenüberstehen. Nämlich kampferprobten Sozialisten, ausgebildet an der scharfen Waffe und im Nahkampf. Jeder Jungpionier konnte einen ausgewachsenen Kapitalisten mit bloßen Händen töten. Wir waren ja auch alle hauptamtlich angestellt beim Geheimdienst und in keiner Weise an den überflüssigen Produkten des Kapitalismus interessiert. Doch sie dachten sich einen Trick aus, um uns ihr Zeug zu verkaufen: Sie schrieben groß GÜNSTIG drüber. Und es waren wirklich gute Preise, die man uns machte. Sehr gute Preise. Völlig überhöhte Preise nämlich.

Ein Beispiel: Eine pingelige Stereokompaktanlage bei Woolworth, die, wie ich viel später erfuhr, ein Westdeutscher einen Tag vor der Maueröffnung noch für 19 Mark 95 nachgeworfen bekam, erfuhr durch uns Ossis eine ungeahnte Wertsteigerung. Von der Herstellerfirma der Plastikmäusedisko hatte man noch nie was gehört – sie hieß Unsharp oder Zonie oder Tashibo. Die Kompaktanlage kostete einen Tag nach der Maueröffnung nur 99 Mark 90, was immer noch sehr viel preiswerter war als die ostdeutschen Rumpelrekorder für mehrere tausend Ostmark! Von meinem Begrüßungsgeld blieben mir immerhin zehn Pfennige übrig. Da war mir klar, für wen die Kohle gedacht war: nicht für mich!

Und aus heutiger Sicht kann ich sagen, dass »Begrüßungsgeld« ein leicht verlogener, aber auf jeden Fall sehr viel süßerer Begriff ist als das brutale, aber ehrliche Sachzwang-Label »Abwrackprämie«.