Helmut Blumenkohl

Hatte ich eigentlich schon erwähnt, dass vor mehr als dreißig Jahren über Nacht alles anders wurde im Osten?

Kurz zusammengefasst waren die Ostdeutschen nach der ersten Schnupperfahrt in den Westen stinkreich oder stockbesoffen. Die optischen Eindrücke hatten sie außerdem geblendet und die akustischen taub gemacht. Vor allem irgendwelchen Bedenken gegenüber, dass das mit Grenzöffnung, Westgeld, Sozialismusende, Kapitalismuserweiterung, Kollision der Systeme undsoweiterundsofort vielleicht doch alles ein bisschen schnell und zu überstürzt passiert.

Das nutzte Bundeskanzler Helmut Kohl eiskalt aus. Der Mann versteckte eine große Katze im Sack, um sie den Ossis zu verkaufen. Damit sie ihn wählen. Weil die Westdeutschen nach acht Jahren Kohlkanzlerschaft ziemlich gesättigt waren. Die Wiedervereinigung sollte dem Kohl nun helfen, seine nächste Wahl zu gewinnen. Das war der wahre Grund für die Eile, die der eigentlich gemächliche Riese plötzlich an den Tag legte.

Der Obelix aus Oggersheim machte sich also persönlich auf den Weg. Nur sechs Wochen nach dem Mauerfall fuhr er für eine Kundgebung nach Dresden, wohin sonst. Er wollte den Menschen traumhafte Dinge erzählen. Die renitenten Sachsen unten im Tal der Ahnungslosen bejubeln schließlich jeden, der sie mit blumigen Worten ein wenig aus ihrer sächsischen Tristesse befreit. Nicht umsonst hat Roland Kaiser dort unten die meisten Zuschauer. Die Sachsen gehen für ihre Träume, so seltsam sie auch sein mögen, regelmäßig auf die Straße – wenn die nicht gerade vom Hochwasser überschwemmt ist.

Und was soll man sagen? Kohls Plan ging auf. Wie im Drogenrausch bejubelten die Sachsen den wohlgenährten Mann aus dem wohlhabenden Westen. Sie würden den großen Schattenspender sofort zu ihrem Kaiser krönen. Und sich ihm als Blutopfer darbieten. Selbst wenn er ihnen etwas völlig Verrücktes versprach.

Und das tat er. Er versprach den Ossis die D-Mark. Und dann versprach er blühende Landschaften. Irgendwas musst du einfach versprechen als Politiker. »Blühende Landschaften« klang damals genauso irre, als hätte er versprochen, dass die Menschen ein Telefon eines Tages in die Hosentasche stecken und mit auf die Straße nehmen können.

Historiker fragen sich heute: War Kohl ein Zyniker? Oder kann jemand, der Kohl heißt, nur blumig sprechen? Ich persönlich glaube, er meinte es ernst.

Um dem Kohl gebrochene Wahlversprechen vorzuwerfen, hätte er damals was versprechen müssen, das niemand halten kann: sichere Renten und auch in dreißig Jahren noch Schnee im Winter. Glasfaserkabel oder schnelles Internet konnte er damals nicht versprechen. Das gab es 1990 genauso wenig wie Deutschrap oder Red Bull. Die Leute hätten sich ja auch gewundert: »Was für’n Scheiß? Internet? Was redet der Mann da? Ist der blöd? Was soll’n das sein, Internet? Muss man das rasieren? Kann man das essen? Wir wollen Auto fahren, jeden Tag im Schnitzelparadies essen und einen Telefonanschluss. Ei verbibbsch!«

Also hat Kohl blühende Landschaften versprochen. Kann er doch nix für, wenn die Leute da was reininterpretieren.

Schon mal gehört, dass einem eine blühende Landschaft Arbeit gibt?

Eine Biene würde jetzt sagen: Ja! Aber eine Biene ist auch verrückt. Haben Sie einer Biene schon mal in die Facettenaugen gesehen? Haben Sie da einen klaren Blick erkennen können? Eben! Außerdem hat die einen Stachel und kotzt Honig. Wenn Sie mich fragen: Normal ist das nicht!

Nun ist der Osten also leer. Das konnte man ja nicht ahnen, als man die Betriebe dichtmachte. Das betraf in jeder Stadt im Osten nicht nur eine Firma, die da mal eben schloss. Wie beispielsweise Quelle in Fürth. Als Quelle in Fürth dichtmachte, haben ja nicht automatisch auch alle anderen Firmen der Stadt zugemacht. Im Osten war das anders. Da machte in jeder Stadt jeder Betrieb dicht.

Es soll allerdings Leute geben, die gerne arbeiten gehen. Die vielleicht sogar einen Sinn darin sehen. Und die damit auch noch ihre Familie ernähren. Ihre intakte Familie mit zwei nicht arbeitslosen Eltern, die den Kindern Vorbild sind. Eine Bilderbuchfamilie, in der kein Kind kriminell wird oder Nazi. Sowas soll’s geben. An die hat man damals beim großen Umbruch nicht so richtig gedacht. Und dann hatten die keine Arbeit mehr und sind weggezogen. Sie sagten: »Vielen Dank für die Blumen in den blühenden Landschaften, aber es sind mir zu viele, ich hab ’ne Pollenallergie, ich muss weg hier.«

Woher soll man auch wissen, dass die Leute im Kapitalismus der Arbeit hinterherziehen? Weil das ihr Lebensmittelpunkt ist? Das ist auch manchmal für den Kapitalismus überraschend, dass die Leute ihn so annehmen, wie er ist.

Wenn ihnen aber die Lebenssicherheit wegbricht, macht das ja was mit den Menschen. Sie sind wie Gebäude, denen die tragenden Säulen weggesprengt werden. Plötzlich hast du keine Träume mehr, keine Sicherheit und keine Familienidylle. Keine schönen Momente. Sowas soll’s ja geben. Die Leute wollten ein besseres Leben, sie wollten nicht mehr angelogen werden. Und nun war das Leben der meisten nicht besser. Es war besser angemalt als vorher und duftete schön künstlich, aber es war auch teurer und unerschwinglicher. Und nur die furchtlosen Abenteurer konnten was draus machen. Sie machten auch was draus und zogen von dannen. Zurück blieb der Rest. Menschen, die nur in Ruhe ein Bier zischen und die Gesamtsituation nicht verstehen wollen, aber trotzdem drüber meckern. Zu Hause. Früher vorm Fernseher, jetzt vor YouTube. Und keiner geht mehr raus. Draußen also: leere Straßen, leere Plätze, leerer Osten.

Die Natur holt sich alles zurück. Und der Einzige, der davor gewarnt hatte, war Helmut Kohl.

Von dem Schock, dass die Leute ihn damals trotzdem gewählt haben, sollte er sich nie mehr erholen. Dann noch dieser unsägliche Spendenskandal und Entmachtung ausgerechnet durch eine ehemalige FDJ-Sekretärin, die genauso lange an der Macht bleiben würde wie er einst. Er, der Kanzler der Einheit, der jetzt selbst eine blühende Landschaft ist.