Heute, nach so vielen Jahren, weiß man nicht mehr viel über die alte Zeit im sozialistischen Osten. Nicht wenige Zeitzeugen sind schon tot. Und die anderen wollen entweder nicht mehr davon reden oder aber halten hartnäckig an einem Mythos fest: dem von der sagenumwobenen und einzigartigen Gemeinschaft der Ostdeutschen.
Tatsächlich ist ja heute alles zersplittert. Das lässt sich nicht bestreiten. Wie viel Wärme dagegen strahlt die gute alte Geschichte aus, dass die Menschen damals im Osten alle zusammenhielten. Keiner hat was alleine gemacht. Nicht ein Einziger wollte mal fünf Minuten Privatsphäre haben. Ja, alle haben zusammen geduscht, zusammen gebadet, zusammen gekocht und zusammen verdaut. Man kennt ja diese Schwarzweißfotos von den trennwandfreien Kollektivdonnerbalken aus den ostdeutschen Kinderkrippen. Wo die kleinen Nachwuchskommunisten darin trainiert wurden, sich schon beim Abstuhlen gegenseitig zu überwachen. Vom Kreißsaal bis zum Sarg waren wir ein Kollektiv. Sagen doch immer alle.
Und das stimmt auch. Die Leute haben mehr miteinander geredet. Sie hatten ja kein Telefon. Und sie hatten mehr Zeit dafür, weil es noch keine elektronischen Zeitfresser aller Art gab, die den Leuten heute unterbewusst die letzte große Ressource wegnehmen: ihre Lebenszeit.
Jetzt könnte man natürlich einwenden: »Ja, aber damals im Osten haben die Leute mehr gelesen, oder?« Einerseits ja, andererseits nein. Zum einen war das Angebot an literarischen Erscheinungen überschaubar – internationale Werke, also Bücher aus westlichen Ländern, erschienen nur, wenn sie der politischen Staatsraison entsprachen. Und dann war die Auflage auch nie so groß, dass jeder Interessent ein Buch abbekam. War es vergriffen, wurde nicht nachgedruckt. Man musste es sich von guten Bekannten oder in der Bibliothek ausleihen. Was aber auch nicht leicht war, wenn es dort insgesamt nur eine Ausgabe des fraglichen Buches gab. Mühelosen Zugriff hatte man jedoch auf die Klassiker, vor allem die der großen deutschen Dichter, die schon mindestens zweihundert Jahre tot, also unverdächtig waren, Kritik am Sozialismus zu üben. Darum haben viele ehemalige DDR-Bürger auch heute noch, ein halbes Menschenleben nach dem Ende ihres Staates, das ein oder andere Zitat aus diesen alten Schwarten auf dem Kasten.
Ein weiterer Grund für die Gemeinschaft im Osten: Alle haben dieselben Klamotten getragen. Gut, das kennen die Leute aus dem Westen auch, dass man die gebrauchten Klamotten der älteren Geschwister aufträgt, dass man da quasi reinwächst, während sie noch warm sind.
Im Osten hatte aber jeder gleiche Klamotten an, die auch gleich aussahen. Wenn es schon keinen blauen Himmel gab, dann wenigstens ein blaues Hemd. Das war die ostdeutsche Gemeinschaft. Wir waren schon eine WhatsApp-Gruppe, bevor es WhatsApp überhaupt gab. Und das prägt die Ostdeutschen bis heute. Das darf man nicht vergessen! Das war eine Gemeinschaft. Der sie jetzt, ein Drittel Jahrhundert später, hinterhertrauern. Es gab keine Geheimnisse. Und wenn doch, waren sie so geheim, dass man tatsächlich nix davon wusste.
Heute werden die richtig echten Geheimnisse ja jeden Tag auf sehr vielen YouTube-Kanälen von Verkündern der Wahrheit ausgeplaudert, so dass sie jeder kennt. Trotzdem sind sie den Worten dieser Verkünder nach immer noch geheim. Irre!
Die Ostdeutschen von damals waren nicht verrückt, weil sie keine Geheimnisse hatten. Denn sie haben sich damals alles erzählt. Wie gesagt: kein Telefon. Und sie haben sich zugehört. Was haben sie sich zugehört. Teilweise auch gegen Bezahlung. Sie haben sich damals alles geschrieben, per Brief. Und sie haben die Briefe gelesen. Und auch mitgelesen. Sie wussten sogar, was jeder denkt. Nämlich: »Mist, schon wieder umsonst am Obstladen angestanden!« Alle dachten das Gleiche. Und wenn nicht, hat man was für den anderen mitgedacht. Darum haben die Ostdeutschen nämlich gar kein Telefon gebraucht!
Als dann, ziemlich schnell nach der Wende, die Bundespost Telefonkabel verlegte, hat das die Gemeinschaft natürlich gesprengt. Weil permanent der, für den man gerade denken wollte, angerufen hat. Und gesagt hat: »Hör mal auf, an mich zu denken. Das ist jetzt vorbei. Du brauchst nicht mehr an mich zu denken. Du kannst mich einfach anrufen.«
»Nee, kann ich nicht, bei dir ist gerade besetzt!«
Permanente Missverständnisse. Und schon hat man sich gestritten. Und die Spaltung der Gesellschaft war da!
Ossis kennen sich ja auch alle untereinander. Alle Ostdeutschen kennen sich. Wenn ein West-Chef in München seinem Ossi-Arbeitnehmer aus dem Erzgebirge einen neuen Kollegen aus Rostock zur Seite stellt, dann sagt der West-Chef: »Hier, ihr seid ja beide aus dem Osten, ihr arbeitet bestimmt super zusammen!«
Ja! Wir heißen alle Ronny. Auch die Jungs. Wir sind genetisch verwandt. Selbst wenn sechshundert Kilometer Entfernung zwischen uns liegen. Wir Ostdeutschen kennen uns automatisch alle, wir mögen uns auch automatisch alle. Wir haben alle dieselben Leibgerichte. Wir haben die gleiche Körpertemperatur. Wir sind gleichgeschaltet. Wir haben alle denselben Dialekt. Wir sind keine Menschen, wir sind Ossis.
Wir erkennen auch sofort, ob ein anderer ein Ossi ist. Wenn ein Ossi in ein Haus geht und da drin ist ein anderer Ossi, dann riecht der das, dann spürt der das. Dann werden dem Ossi die Augen feucht. Dann beginnt er wohlig zu brummen, und zwar tiefer als Gunther Emmerlich, und es wachsen ihm vor Erregung kleine Gänsehautnoppen am ganzen Körper. Sogar unter den Füßen!
Dann fährt sich auch sofort seine Hand aus, weil sie weiß, dass sie gleich eine andere ostdeutsche Hand schütteln wird. Und wenn sich die beiden Ossis dann gefunden haben, küssen sie sich, essen zusammen Soljanka vom gleichen Teller, schimpfen über die Lügenpresse und haben einfach einen schönen Tag. Am Ende tauschen sie die Nummern ihrer Stasiakten aus und verabschieden sich herzlich mit: »Hau ab, du Volksverräter!«
So reden alle Ossis, das weiß man doch.
Zur ostdeutschen Gemeinschaft gehört auch, das kennt man, Fangen spielen. Ostdeutsche rennen gerne mal hinter fremden Menschen her. Erstens, weil das das Einzige ist, hinter dem man in Ostdeutschland herrennen kann – ein Bus, hinter dem man herrennen könnte, fährt ja nicht.
Und zweitens rennt der Ossi hinter anderen Menschen her, weil er mit ihnen kuscheln will. Man muss mit dem kuscheln, was da ist. Und von hinten sieht man nicht immer, ob der, hinter dem man herrennt, von hier ist. Und dann heißt es gleich: Hö, das war eine Hetzjagd! Nur weil man kuscheln wollte.
Wir Ossis wissen, wo wir uns finden. Dank unseres speziellen Ossi-Nervenstranges, eines ganz besonderen Sinnesorgans, über das nur Ostdeutsche verfügen. Dieses Sinnesorgan wurde damals in geheimen Labors von der Roten Armee entwickelt, aus radioaktiver Leberwurstpelle. Die wurde mit Zigarettenrauch geräuchert und mit Bertolt Brecht beschallt. Dann hat man die in dünne Streifen zerschnitten und jedem frischgeborenen Ostdeutschen eingesetzt, durch ein klitzekleines Loch in der Stirn.
Dieses Sinnesorgan wächst seitdem in jedem Ossi nach. Deswegen vertragen wir uns automatisch mit allen anderen Ostdeutschen.
Und wenn einer von uns Schnitzel isst, essen wir automatisch alle Schnitzel.
Und wenn einer von uns nur noch RTL guckt, gucken wir alle nur noch RTL.
Und wenn einer von uns demonstrieren geht, weil sein Schlüpfer zwei Nummern zu klein ist, oder weil er vom Biertrinken rülpsen muss, weil da Kohlensäure drin ist, und er dafür die geheime Weltregierung, die Juden oder seit Neuestem Bill Gates verantwortlich macht, dann machen das automatisch alle Ostdeutschen. Das weiß man ja.
Jeder Ostdeutsche ist in den letzten Jahren gründlicher durchleuchtet worden als zu DDR-Zeiten. Und darüber, was man dabei rausgefunden hat, wurde dann pausenlos in den Talkshows gesprochen. Von Westdeutschen.
Die Erkenntnis: Alle Ostdeutschen haben einen Jammerdialekt, sind abgehängt, arbeiten in der Braunkohle und hassen Windräder. Oder hat man irgendwo schon mal einen glücklichen, zukunftsorientierten Ostdeutschen gesehen, dessen Mundwinkel nach oben zeigen?
Eben! Sowas gibt’s nicht. Und Westdeutsche wissen viel besser als Ostdeutsche, wie es in Ostdeutschen aussieht. Deswegen sind sie seit Jahren unsere Chefs, deswegen leiten sie unsere Behörden, deswegen reden sie, ohne dass wir mitreden können, in ihren Talkshows über uns – übrigens ein Schicksal, dass wir mit den Flüchtlingen teilen –, und deswegen verlegen sie unsere Zeitungen, wenn wir noch welche lesen.
Und weil die anderen uns unter dieselbe Decke stecken, sagen wir trotzig wieder »Wir« zu uns, obwohl jeder von uns eigentlich ein Ich ist. Und wenn wir oft genug »Wir« gesagt haben, wählen wir sogar in unseren abgelegensten Ostregionen Westdeutsche als unsere Volksvertreter. Sie müssen uns nur, wie der Rheinland-Pfälzer Bernd Höcke, versprechen, die Wende zu vollenden.
Wer die Wende vollendet, fährt nämlich immer im Kreis. Karussell fahren ist schön, das ist unsere Welt: im Kreis fahren, in den Grenzen des eigenen Horizonts, ohne Tempolimit Helene Fischer hören und dabei WhatsAppen.
DEN Ostdeutschen gibt’s nämlich nur in einer einzigen Sorte. Das ist die, die Einschaltquoten bringt und hohe Klickzahlen generiert: die dunkelbraune Voll-Nuss.
Die anderen Sorten, die optimistischen, erfolgreichen, kreativen und vor allem attraktiven Ostdeutschen haben sich in der medialen Berichterstattung leider nicht so richtig durchgesetzt.
Rechtsradikal und bildungsfern, so habt ihr euren Ossi gern.
Heil Hitler, ihr Fotzen!