Ester kam völlig außer Atem genau in dem Moment am Bahnhof an, als der Zug einlief. Aber sie gesellte sich nicht zu dem Grüppchen der dort Wartenden, weil anstelle von Raffaele, ihrem Verlobten, ein aufgedunsener, fast gänzlich kahler Mann in einem lächerlichen grünen Trainingsanzug aus dem Waggon stieg.
Raffaele war arm. Sein Vater war Hilfsarbeiter gewesen, und Raffaele war schon als kleiner Junge mit ihm arbeiten gegangen, im Winter eine schäbige Strickmütze und im Sommer ein feuchtes, an den Ecken geknotetes Taschentuch auf dem Kopf. Er sei freiwillig in den Krieg gezogen, weil er Faschist sei, sagten die Leute im Dorf. In Wirklichkeit hatte er einfach nur die Romane von Salgari, Melville, London und Conrad gelesen, wieder und wieder, und schließlich bei der Marine angeheuert, weil er das Meer sehen wollte. Vielleicht aber auch, weil er sich nicht auf immer und ewig als Hilfsarbeiter oder als Hirte oder Bauer verdingen wollte.
Seiner Mutter hatte er gesagt, er komme nur ins Dorf, um mal wieder kurz zu Hause vorbeizuschauen, ehe er erneut in seine Marineuniform schlüpfen und wieder aufbrechen werde.
Die Mutter war in jungen Jahren Witwe geworden. In ihrer Straße war sie die Einzige, die lesen und schreiben konnte, und wenn sie für andere einen Brief verfasste, wurde sie mit einem Ei entlohnt. Früher hatte immer ihr jüngerer Sohn, ein kränklicher Junge, es bekommen, und für Raffaele, den Älteren, der von robuster Gesundheit war, blieb kaum etwas zu essen übrig. Auch deswegen war er als Freiwilliger in den Krieg gezogen, und nicht etwa, weil er Faschist war.
Im Krieg, ein ohnehin unglückseliges Universum, traf es ihn besonders schlimm. Im April 1943 befand er sich auf dem Schweren Kreuzer Trieste, als dieser in der Reede Mezzo Schifo vor Palau von B-17-Bombern des III. Geschwaders der 98. Bomb Group versenkt wurde, konnte sich jedoch retten, indem er sich stundenlang an einer Holzplanke festklammerte. Im September 1943 nahmen ihn die Deutschen vor Marseille auf der Fregatte Jean de Vienne gefangen, die das Vichy-Regime 1942 der Regia Marina, der königlichen italienischen Marine, überlassen hatte. Wie alle italienischen Kriegsgefangenen hatte man ihn gefragt, ob er auf der Seite Hitlers kämpfen wolle, andernfalls werde man ihn in einem Lager internieren. Raffaele zögerte keine Sekunde und wählte das Lager. Und so brachten die Nazis ihn ins SS-Sonderlager Hinzert, wo er dann von den Amerikanern befreit wurde.
Daher hatten die Dorfbewohner erwartet, er würde innerlich gebrochen zurückkehren, nur noch Haut und Knochen, aber stattdessen war er füllig geworden und sprach geradezu begeistert von seinem Lageraufenthalt. Die Amerikaner seien, als sie das Lager betraten, so entsetzt vom Zustand der Gefangenen gewesen, dass sie diese mit Konservennahrung, Schokolade und allen Arten von Köstlichkeiten gemästet und obendrein mit Zigaretten versorgt hätten. Deswegen sei er so dick geworden und habe sich das Rauchen angewöhnt.
Dann stellte er seine Reisetasche auf den Boden und kramte darin herum. Er brachte Zigarettenpackungen und Schokoladentafeln zum Vorschein, hielt sie den Dorfbewohnern hin, die zum Bahnhof gekommen waren, um ihn willkommen zu heißen, und verkündete stolz, das seien Geschenke seines Freundes aus New York, eines Trompeters, der eines Tages gewiss berühmt werden würde. Dieser Soldat, ein Schwarzer, habe seine Trompete nach Europa mitgebracht, und nie werde er vergessen, was für eine Wirkung sein Spiel in der Trostlosigkeit des Lagers gehabt habe. Auch die Deutschen hätten hin und wieder auf ihren Grammofonen Musik gespielt, die bis zu den Gefangenenquartieren drang, aber die von seinem Freund sei natürlich etwas ganz anderes gewesen. Musik, ganz allein für sie, noch dazu Jazz.
Dieser Trompeter, erzählte Raffaele weiter, habe die verflixte Angewohnheit gehabt, einfach nur zu rufen: »Hey, white man, come here!«, wenn er einen bestimmten Gefangenen meinte. Und da alle Gefangenen des Lagers weiß waren, sei ihnen natürlich klar gewesen, dass er sie auf den Arm nahm. Eines Tages reichte es Raffaele, und er bat einen Amerikaner, der Italienisch konnte, für ihn zu antworten: »Übrigens haben wir Weißen hier alle einen Namen und von Weißen, Schwarzen, Juden, Slawen, Zigeunern und Japanern wollen wir nichts mehr hören.«
Von diesem Moment an habe der Schwarze aus New York sie nicht mehr auf den Arm genommen. Und er habe Raffaele viel über Jazz erzählt, so gut er es in seiner Sprache vermochte. Nur seinen Namen habe er ihm nicht gesagt.
Indessen lauschten die Dorfbewohner dem jungen Mann mit einer Miene, die ausdrückte, dass sie ihn auf keinen Fall enttäuschen wollten, indem sie das, worauf er so stolz war – die Schokolade, Zigaretten und schwarzen Freunde aus Amerika –, nicht gebührend schätzten, und hielten die Mitbringsel andächtig in den Händen.
Ester, die diese Szene aus einiger Entfernung beobachtet hatte, versteckte sich. Ihre große Liebe war dick, schwerfällig und fast glatzköpfig geworden, und mit einem Mal erschien es ihr verrückt, all die Zeit über auf ihn gewartet zu haben.
Nachdem er Schokolade und Zigaretten verteilt hatte, trennte sich Raffaele von dem Grüppchen und ging allein auf den Bahnhofausgang zu. Die Dorfbewohner blickten ihm nach. Mit seinen Geschichten und seinem Jazz konnten sie nicht viel anfangen.
Auch Ester machte sich wieder auf den Heimweg und achtete darauf, unbemerkt zu bleiben.