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In der Grundschule fanden die Lehrerin und Klassenkameradinnen von Felicita, man merke kein bisschen, dass sie aus einer sardischen Familie stamme. Sie hatte keinen Stall voll Geschwister und war immer so herausgeputzt in der Schule wie andere Kinder nur an Festtagen. Ihr Schulkittel war makellos weiß, die rosa Schleife gestärkt, die guten Lederschuhe stets auf Hochglanz poliert, und ihr Hut war vom selben roten Samt wie die Knöpfe ihres Mantels. Das rot lackierte Behältnis für das Pausenbrot enthielt Esters Meisterwerke: eine Brotdose, die sie mit selbst genähten bunten Früchten dekoriert hatte, und ein kleines Handtuch, auf das der Name »Felicita« gestickt war.

Aber auch Felicitas Mutter sah nicht wie eine Sardin aus. Ester war zierlich und trug elegante Kleider statt langer Röcke, sie hatte keinen Oberlippenbart und war blond.

Die Klassenkameraden fragten Felicita, ob sie bei ihnen zu Hause auf dem Balkon Hühner hielten oder ein Lämmchen und ob ihre so weich aussehenden Pullover in Wirklichkeit aus grober sardischer Orbace-Wolle gestrickt seien. Als sie verneinte, fragten sie, ob sie vielleicht mit Aga Khan verwandt seien und eine Villa an der Costa Smeralda besäßen. Als das Mädchen erwiderte, sie hätten weder Hühner noch Lämmchen auf dem Balkon und ebenso wenig irgendwelche Villen an der Costa Smeralda, waren sie einigermaßen ratlos, da sie sich einfach nicht vorstellen konnten, dass auf Sardinien ganz normale Menschen lebten.

Vater und Tochter fanden diese Vorurteile über die Sarden ulkig. Ester dagegen fing an, Mailand zu verabscheuen.

Einmal ging Felicita zu einer Freundin, um Hausaufgaben zu machen. Dieses Mädchen kam samstags nie in die Schule, weil sie die Wochenenden in der Familienvilla auf dem Land verbrachte, und im Februar fuhren sie Ski in Cortina. Sie nahm Ballettunterricht, und in den Pausen zwischen ihren Hausaufgaben führte sie Felicita Spitzentanz vor.

Sie wohnte in einem vornehmen Haus im Zentrum von Mailand. Es gab einen Innenhof mit einem Springbrunnen, einen Aufzug, der aussah wie ein vergoldeter Käfig, und einen Pförtner in Livree. Die Wohnung selbst war riesig, und die vielen Zimmer gingen von einem nicht enden wollenden Flur ab, dessen Wände voller Gemälde waren. Sogar ein Spielzimmer war vorhanden, in dem man weder schlief noch Hausaufgaben machte, sondern das tatsächlich ausschließlich zum Spielen da war. Ein rosa angezogenes Zimmermädchen mit Servierhäubchen servierte den Mädchen auf einem silbernen Tablett heiße Schokolade mit Sahne.

Aber das Unglaublichste war der Vater der Freundin. Er hatte modisch lange Haare wie ein Gitarrist, trug einen viel zu großen Pullover und Flanellhosen und hatte schöne, überaus gepflegte Hände. Er rauchte Pfeife und hatte ein dickes Buch unter den Arm geklemmt. Zum allerersten Mal in ihrem Leben fand Felicita den Vater eines anderen Kindes interessanter als ihren eigenen, der gewöhnliche Nazionali ohne Filter rauchte und unter der Woche einen Arbeitsoverall trug und an Sonn- und Feiertagen eine Jacke und eine abgetragene Hose.

Die Freundin erzählte ihr, dass ihre Eltern Kommunisten seien und ihre Mutter und ihr Vater froh und stolz, dass sie mit dem Kind einer armen Familie aus dem Süden befreundet sei.

Felicita nahm sich vor, eines Tages ebenfalls Kommunistin zu werden. Kommunisten waren die faszinierendsten Menschen, die sie je kennengelernt hatte.

Sie besuchte diese Freundin noch ein einziges weiteres Mal, zu ihrer Geburtstagsfeier. Ein Zauberer mit Zauberstab ließ verschiedene Sachen verschwinden und wiederauftauchen, und Jugendliche, die als Donald Duck, Micky Maus und Fee mit den blauen Haaren verkleidet waren, dirigierten Lieder und führten beim Ringelreihen an; die kleinen Gäste hatten nicht nur viel Spaß, sondern gingen obendrein mit einem Geschenk nach Hause.

Auch die anderen Schulkameradinnen feierten ihren Geburtstag recht groß, wenngleich nicht auf diese märchenhafte Weise wie ihre Freundin. Im Norden hielt man das offenbar so.

Deshalb fühlte sich Ester bemüßigt, die Einladungen zu erwidern. Sollten die anderen doch erfahren, dass Felicita nicht in einem richtigen Bett schlief und dass die Anrichte im kleinen Esszimmer keine wirkliche Anrichte war. Dann musste sie eben die Sessel mit den Teddybezügen für das Geburtstagsfest aufdecken, und all die Kinder würden darauf herumspringen und Krümel darauf verstreuen und Limonade verschütten.