Raffaele war der Einzige, der mit seiner Schwiegermutter gut auskam. Sie stritten sich nur, wenn es ums Meer ging, das die Großmutter noch nie gesehen hatte und das sie kein bisschen interessierte.
Wäre sie eine alte Frau aus dem Hinterland gewesen, hätte Raffaele das ja verstanden, aber Cagliari mit dem Poetto-Strand, eine zwölf Kilometer lange Ausdehnung weißer Dünen, war gerade einmal eine Stunde von ihrem Dorf entfernt.
Und er war wild entschlossen, sie in dieses nur einen Katzensprung entfernte gelobte Land mitzunehmen. Doch seine Schwiegermutter zuckte nur die Achseln, wie um zu sagen, sie habe Besseres zu tun und dass ihr sowohl Cagliari als auch das Meer egal seien.
Aber als sie eines Tages schwer krank wurde, ließ sie sich wohl oder übel von Felicita und ihrem Vater zu einem Arzt nach Cagliari fahren, und bei dieser Gelegenheit beschlossen ihr Schwiegersohn und ihre Enkelin, einen Abstecher zum Poetto-Strand zu machen.
Während der Hinfahrt saß die Großmutter mit stur nach vorn gerichtetem Kopf da, das schwarze Wolltuch weit nach vorn gezogen, sodass es aussah, als trüge sie Scheuklappen, aber auf der Rückfahrt hielt der Schwiegersohn, der dieses Überraschungsmanöver zuvor mit seiner Tochter abgesprochen hatte, am Straßenrand an. Dann zwangen sie die Großmutter auszusteigen und zerrten sie zum Strand, während sie sich wand und sich sträubte und die beiden verfluchte.
Und da war es, das Meer mit seiner unendlichen Weite und Stille. Zwischen ihren beiden Entführern gefangen, betrachtete die Großmutter es misstrauisch, feindselig und ganz gewiss mit schlechtem Gewissen, weil ihr diese Unterbrechung wie eine unnötige und unverdiente luxuriöse Sommerfrische vorkam, die sie von ihren täglichen Pflichten abhielt.
Schließlich gab sie aber doch nach und setzte sich schmollend und mit unheilvoller Miene in den Sand, und sie ließen sie los.
Aber sie nahmen links und rechts neben ihr Platz und machten vorerst keinerlei Anstalten weiterzufahren. Ihre Enkelin mit ihrem Vogelgesichtchen deutete begeistert aufs Meer und sagte: »Großmutter, hast du nicht auch das Gefühl, in einer vollkommenen Welt gelandet zu sein?«
Dann versuchte sie sie zu überreden, Schuhe und Strümpfe auszuziehen und sich barfuß in den Sand zu stellen, und zog sie ihr, nachdem sich die Großmutter weigerte, kurzerhand selbst aus, wie einem kleinen Kind, und brachte sie dazu, die Füße ins Wasser zu halten.
Das Meer nahm sie auf wie alle Fische, die zu ihm vom Land zurückkehrten.
Nach jedem weiteren Arztbesuch in Cagliari schlug ihr Schwiegersohn ihr von nun an eine Rast am Poetto-Strand vor, an derselben Stelle, die jedoch jedes Mal anders aussah. Mal war das Meer himmelblau, ruhig und transparent, mal schäumend, bleifarben und bedrohlich, dann wieder himmelblau. Der Strand weiß, pudrig, silbergrau, schwarz, dann wieder weiß.
Jedes Mal zuckte die Großmutter die Achseln, wie um zu sagen, dass es ihr einerlei sei, stieg aber immer eilig aus dem Auto und lief behände wie ein junges Mädchen zum Strand, wo sie Schuhe und Strümpfe auszog und bis zu den Knöcheln ins Wasser ging.
Einmal, als das Meer gut aufgelegt war, schwammen lauter winzige Fische um ihre Füße herum. Da bückte sie sich, um diese Fischlein aus der Nähe zu betrachten.
Kaum waren sie wieder zu Hause, trug die Großmutter jedes Mal den nächsten Arzttermin im Kalender ein, und das tat sie bestimmt nicht, weil ihr ihre Gesundheit so wichtig war, denn sie wusste, dass ihr Leiden unheilbar war, sondern um die Tage zu zählen, bis sie das Meer wiedersehen würde.
Sie beklagte sich nicht länger darüber, dass Felicita zu nichts nutze sei und ihre Schwiegersöhne allesamt Hungerleider und Versager, die Töchter dumm und die Enkel zu nichts in der Lage. Alle bemerkten ihre wundersame Veränderung und schrieben sie dem Alter zu und der schweren Krankheit, die sie langsam sterben ließ.
Aber Felicita war sich sicher: Die Großmutter hatte begriffen, dass das gelobte Land gar nicht weit von dem Ort entfernt war, an dem sie ihr ganzes Leben zugebracht hatte, und dass es im Grunde nur einer kleinen Anstrengung bedurfte, um aus ihrer gewohnten Welt in eine ganz andere, ungewöhnliche und doch nur einen Katzensprung entfernte zu gelangen.