Aus Donna Dolores’ Sohn war ein großer, schlanker, zurückhaltender, ernster Junge und brillanter Schüler geworden. Alle fragten sich, was er an einem Mädchen wie Felicita interessant fand, und glaubten, genau wie Felicita selbst, die Antwort laute, dass sie ihm half, die andere zu vergessen.
Wie alle im Dorf nannte Felicita ihn Sisternes, beim Nachnamen seiner Mutter, den die Leute aufgrund ihrer adeligen Herkunft zunächst an den Namen ihres Mannes angefügt hatten, um ihn schließlich als einzigen Namen zu benutzen.
Sie waren sich auf einer Party nähergekommen und seitdem waren sie zusammen. Felicita war trotz ihres neu genähten Kleides, für das Ester die ganze Nacht aufgeblieben war, kein einziges Mal zum Tanzen aufgefordert worden. Doch dann traf Pietro Maria Sisternes zusammen mit seiner kleinen Band ein, und Felicita schöpfte neuen Mut.
Die Musiker waren kein bisschen wie richtige Musiker angezogen, und auf die Stücke, die sie spielten, konnte man auch nicht tanzen, denn es war Jazz. Alle protestierten, und zum Schluss warf man sie sogar hinaus.
Felicita hatte den ganzen Flachmann geleert, den sie immer zu Partys mitnahm, um sich Mut anzutrinken. Und so brachte sie den Mut auf, sich Sisternes zu nähern, als die Musiker mit gesenkten Köpfen die Instrumente einpackten, und ihn zu fragen, ob er sie in seinem Wagen mit nach Hause nehmen könne.
Als sie vor dem großen Tor anhielten, stieg sie nicht gleich aus, sondern gestand Pietro Maria, dass sie ihn von Kindesbeinen an liebe, dass sie auf der anderen Straßenseite oft den Moment abgepasst habe, wenn seine Mutter und er in der Kalesche herausfuhren, um einen Blick auf ihn erhaschen.
Dann schlang sie die Arme um ihn und küsste ihn auf den Mund, und er versuchte nicht, sich ihr zu entziehen. Stattdessen streichelte er lange ihre Haare und sagte: »Hast du dicke Haare, wie schwer sind die eigentlich?«
Das kränkte sie keineswegs, denn sie wusste, dass ihre Haare das Schönste an ihr waren, außerdem war er viel zu gut erzogen, als dass man seine Bemerkung als Anspielung auf ihr Gewicht verstehen konnte.
Nach diesem Abend war es immer Felicita, die fragte, wann sie sich wiedersehen würden, und Pietro Maria sagte nie Nein, wenn sie ihm etwas vorschlug. Für sie ein Zeichen, dass er gern mit ihr zusammen war.
Und meistens redete Felicita, während er nur hin und wieder einwarf: Ach ja?, oder: Ach, wirklich?, ohne je selbst etwas zur Unterhaltung beizutragen.
Auch von dieser anderen erzählte er ihr nichts. Es hätte ihm bestimmt gutgetan, alles auszuspucken, frei von der Leber weg alles zu sagen, was ihn bedrückte, ja, selbst seinen Tränen freien Lauf zu lassen oder auch nur zu schluchzen. Aber das tat er nicht. Sisternes erzählte ihr nie etwas.
Das Einzige, was Felicita ihm zu entlocken vermochte, war, dass er nicht gern in ihrem Dorf lebte, das er als schäbig und armselig empfand. Andererseits könnte er auch nie in einer Wohnung leben, meinte er, daher wäre für ihn das Idealste eine Villa in der Stadt.
Seine Mutter, Donna Dolores, erblickte Felicita auch weiterhin nur aus der Ferne, wenn sie von der von einem Bediensteten gelenkten Kalesche durch das große Tor herausgefahren kam, denn Sisternes hatte ihr seine Mutter bislang nicht vorgestellt. Nur eines hatte er ihr über sie erzählt, nämlich dass sich Donna Dolores weigere, ihm seine einzigen beiden großen Wünsche zu erfüllen – das Anwesen im Dorf gegen eine Villa in der Stadt auszutauschen und ihm ein Klavier zu kaufen. Seine Mutter meinte, ein Klavier sei zu sperrig. Also tröstete er sich mit einer Gitarre.
Raffaele verachtete Donna Dolores, weil sie sich weigerte, ihrem Sohn ein Klavier zu kaufen. Gut möglich, dass er auch Sisternes ein bisschen verachtete, der nicht den Mut hatte, gegen sie aufzubegehren. Hätte Raffaele Geld gehabt, hätte er dem Jungen ein Klavier gekauft und, da das riesige Haus der Sisternes offenbar derart vollgestellt war, eben einen Platz bei ihnen zu Hause dafür geschaffen, selbst auf die Gefahr hin, dass er auf dem Boden hätte schlafen oder essen müssen.
Aber im Grunde war er froh, dass seine Tochter mit Sisternes ging, nicht weil die Familie adelig und reich war, das spielte für ihn keine Rolle, sondern weil sich der Junge so für Musik begeisterte. Felicita hatte ihm erzählt, er sammle sämtliche Ausgaben der Großen Enzyklopädie des Jazz.
Ester hingegen fand, dass Donna Dolores gut daran tat, ihrem Sohn nicht nachzugeben. Es war sinnvoll, dass er sich an der Universität einschrieb, in Agrarwirtschaft, um sich um die zahllosen Hektar Land zu kümmern, die sie besaßen. Die Musik war hingegen nicht lebensnotwendig, denn konnte man von Musik etwa leben?