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Felicita hatte keine Lust, lange über Ungerechtigkeiten nachzugrübeln. Stattdessen sah sie sich stets nach etwas um, was sie tröstete und aufheiterte. Ester hingegen war nachtragend. Sie weigerte sich, die Mädchen zu grüßen, die Felicita wegen ihrer Figur und ihres Mailänder Akzents aufgezogen hatten, und auch deren Mütter.

Sie erinnerten Ester an die Mütter im Norden, die ihre Landsleute aus dem Süden von oben herab behandelten. Waren sie etwa in ihre Heimat, in ihr gelobtes Land zurückgekehrt, um das Gleiche in Grün zu erleben?

Ester schwelgte in Rachegedanken. Sie wünschte, alle schlanken Mädchen würden eine Hormonstörung bekommen, sodass sie auseinandergingen wie eine Dampfnudel. Und jetzt würde dieses pummelige Mädchen mit dem singenden Tonfall glatt ihren Verlobten heiraten, den reichsten, adeligsten und schönsten Jungen aus dem Dorf, und den anderen wünschte sie, dass sie keinen abbekamen und zu alten, verbiesterten Krähen wurden.

Raffaele erzählte Felicita, dass seine Frau ihn nachts bisweilen aufwecke und sich mit ihm unterhalten wolle: »Hättest du dir je erträumt, dass uns so etwas passieren würde?«

»Uns? Wieso uns?«

»Na, uns. Uns dreien.«

»Aber nur Felicita heiratet.«

»Du freust dich gar nicht.«

»Nicht ich, Felicita muss sich freuen.«

»Dich hat das Wichtigste immer schon kalt gelassen.«

Felicita fragte sich, ob ihre Mutter Sisternes wirklich mochte oder nur, weil er eine so gute Partie war. Eigentlich hatte sie bislang nicht mehr über ihn gesagt, als dass er gut erzogen sei.

Wann immer er mittags oder abends bei ihnen war, lud ihre Mutter ihn zum Essen ein. Sie tat immer so, als hätten sie das, was sie auf den Tisch brachte, sowieso gegessen. Aber das stimmte nicht. Oft stand sie im Morgengrauen auf, um rechtzeitig auf dem Markt zu sein und sich die schönsten Lebensmittel herauszupicken. Mit schweren Tüten beladen kam sie zurück, und irgendwann legte sie sich sogar einen Einkaufsroller zu. Früher hatte sie nie so viel eingekauft, dass sie einen Wagen brauchte, um alles nach Hause zu schaffen.

Dabei sagte Felicita morgens, bevor sie ins Gymnasium ging, jedes Mal zu ihr: »Sei so gut, Mama, und koche bitte nur für uns drei, heute hat Sisternes ein Seminar an der Uni und kommt ganz bestimmt nicht zum Essen.«

Aber ihre Mutter fürchtete, dass Pietro Maria es sich anders überlegen könnte, und konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass er doch käme und sie ihm nur ein Arme-Leute-Gericht auftischen könnte.

Außerdem machte sie sich Sorgen, weil sich Felicita auf dem Gymnasium schwertat. Sie war immer eine schlechte Schülerin gewesen und schon zweimal sitzen geblieben. Ester gefiel das gar nicht, aber jetzt, da sie mit Sisternes verlobt war und, wie sich herausstellte, nicht zum Abitur zugelassen würde, machte sie ein großes Drama daraus.

»Du bist nur gut, wenn es um dummes, nutzloses Zeug geht«, sagte sie zu ihr. »Ach, wenn du doch nur mit der gleichen Begeisterung lernen würdest, mit der du aus Konservendosen Stiftehalter machst oder aus Flaschen Lampenständer!« In der Tat bereitete es Felicita ebenso viel Spaß wie ihrer Mutter, aus Sachen, die normalerweise auf dem Müll landeten, Neues zu schaffen.

Raffaele mochte Pietro Maria gern, fand aber im Gegensatz zu seiner Frau nicht, dass er gut erzogen sei. Ein gut erzogener Mann würde seine Verlobte doch hin und wieder einladen, mit ihm und seiner Mutter zu essen. Und nicht nur, dass Felicita noch nie bei den Sisternes zum Mittag- oder Abendessen eingeladen worden war, nein, sie war noch nicht ein einziges Mal in ihrem Haus gewesen. Die beiden Verlobten trafen sich höchstens bei ihnen im Garten oder im Laubengang, und wenn Donna Dolores beim Hinausgehen an ihrer zukünftigen Schwiegertochter vorbeikam, nickte sie ihr nur freundlich zu, aber ohne je innezuhalten und ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Auf die gleiche Weise grüßte sie im Übrigen auch die zukünftigen Schwiegereltern ihres Sohnes, wenn sie in der Kalesche auf der Straße an ihnen vorbeifuhr.

Als Raffaele zu seiner Frau sagte, dass die Sisternes bei all ihrem Adel ungehobelte Leute seien, meinte sie, dass Adelige und Reiche nun mal seltsam seien.

Nein, dachte Raffaele bei sich, egal ob adelig, reich oder seltsam, so verhielten sich keine anständigen Leute.