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Die Vermieterin, die Felicita inzwischen mit Marianna ansprach, blieb in der Tür stehen, weil sie nicht stören wollte. Sie wolle nur mal sehen, ob ihre Mieterin im ersten Stock noch lebe und ob das werdende Kind schon Zeichen aus der anderen Welt gesandt habe, meinte sie.

Die ersten drei Schwangerschaftsmonate waren fast vorbei, und Felicita hatte beschlossen, den ganzen Tag im Bett zu bleiben, weil die Kinder, die sich davonmachen wollen, dies ja bekanntlich meistens in den ersten drei Monaten tun, wenn sie aber bleiben, heißt das, dass sie sich dafür entschieden haben, auf diese Welt zu kommen. Es ging ihr nicht schlecht, sie hatte keinerlei Beschwerden, sondern hatte nur diese fixe Idee, das Kind sei noch unentschlossen, ob es sich für diese Welt entscheiden oder doch lieber in der anderen bleiben sollte.

»So was habe ich ja noch nie gehört.« Marianna sah sie missmutig an, während sie noch immer auf der Schwelle verharrte. »Wie auch immer, was soll ich Ihnen zu essen kaufen? Was mögen Sie gern? Welche Gerichte könnten Ihren Jungen – wir hoffen doch, dass es ein Junge wird, ein Mädchen würde ich nämlich nicht ertragen – davon überzeugen, aus seiner Welt in unsere umzuziehen?«

»Egal, irgendwas.«

»Gut, dann also irgendwas.«

»Oder aber …«

»Oder aber …?«

»Schafschinken, Blutwurst und Schweineschmalz.«

»Gut, dass Sie mir das gesagt haben. Wobei, genau diese Art von Einkäufen schwebten mir vor, und zwar für eine Frau, die im dritten Monat mit einem Außerirdischen schwanger ist, der noch nicht weiß, ob er auf diese Welt kommen will.«

Für sich selbst kaufte Marianna nie etwas zu essen ein. Sie ernährte sich von Imbissgerichten, die sie im Gehen direkt aus dem Einwickelpapier oder der Plastikschale verzehrte. Den wenigen Worten, die sie hin und wieder wechselten, hatte Felicita entnommen, dass sie sich nach dem Essen häufig erbrach. Daher war sie so mager, eine Bohnenstange mit einer übergroßen Brille im Gesicht. Und als Marianna am 2. November mit zwei riesigen Blumensträußen in der Wohnung im ersten Stock erschienen war, die sie auf den Friedhof bringen wollte, hatte Felicita erfahren, dass sie niemanden mehr auf der Welt hatte und an Allerseelen ein kleines Vermögen für Blumen ausgab, doch spare sie das Geld bei Geburtstagsgeschenken ja wieder ein, fügte sie hinzu. »Hahaha!«

»Nicht einmal ein Geburtstagsgeschenk für eine Freundin?«, fragte Felicita, die Decke bis zum Kinn hochgezogen.

Nein, Frauen ertrage sie nicht, es gebe zu viele von ihnen, und sie stürben sehr viel später als die Männer. Am liebsten würde sie ein paar von ihnen um die Ecke bringen, um dieses Ungleichgewicht zu beheben.

»Na gut, dann eben ein Geburtstagsgeschenk für einen Freund?«

Auch nicht, Männer hätten einen schlechten Charakter. Die ganze Menschheit sei schlecht. Manchmal könne sie gewisse Leute auf der Straße nicht ertragen, die so lächerlich seien, dass sie sie am liebsten aus dem Weg räumen würde. Daher, hahaha, gebe sie kein Geld für Geschenke für die Lebenden aus.

Und so erfuhr Felicita Mariannas Geschichte: Ihre Eltern waren gestorben, zuerst ihr Vater, dann ihre Mutter, sie hatte keine Geschwister. Auch ihre anderen Verwandten waren mittlerweile tot. Sie bringe diese Blumen aufs Grab, damit keiner von den üblichen Wichtigtuern unter den Friedhofsbesuchern auf die Idee komme, eine verkümmerte oder heruntergefallene Blume daraufzulegen, weil das Grab ohne Blumenschmuck war. Aber ihre Mutter habe selbst das nicht verdient, meinte sie. Sie hatte sie aus dem Haus vertrieben, damit sie einer Tante, der Schwester der Mutter, Gesellschaft leistete, die mit einem stinkreichen und sehr viel älteren Mann verheiratet war, der ihr ein Vermögen hinterließ. Beim Tod des Schwagers war die Mutter bereits Witwe, doch im Unterschied zu ihrer Schwester, einer reichen Erbin, mittellos. Daher schlug diese vor, ihr das Kind zu überlassen. Mit der Aussicht, dass sie Marianna eines Tages ihr ganzes Vermögen vermachen würde.

In der Gewissheit, dass sie nach einem Besuch von ein paar Stunden wieder gehen konnte, war Marianna die Villa der Tante früher immer wie ein märchenhafter Ort erschienen. Sie spielte im Garten, wobei das stark untertrieben war, handelte es sich doch um einen fünfzigtausend Quadratmeter großen Park, wo sie Schiffchen auf dem Springbrunnen fahren ließ und im Haus von einem Salon zum nächsten und die breite Treppe hinauf- und hinabrannte. Sie stellte sich an eines der Fenster in dem kleinen Turm und winkte begeistert ihrer Mama und ihrer Tante zu, die bei schönem Wetter an einem weißen Tisch im Park beratschlagten und sich von einem rosa gekleideten Zimmermädchen mit einem Servierhäubchen bedienen ließen.

Aber an dem Tag, als die Tante sie mit einem Koffer und ihrer Lieblingspuppe in die Villa mitnahm, wo ein Zimmer mit einer Verbindungstür zu jenem der Tante auf sie wartete, wurde ihr klar, dass sie in einem Gefängnis gelandet war, und hasste von da an alles, was sie bislang so geliebt hatte.

Kurzum, sie war verkauft worden. Denn ihre Mutter hatte nie verwunden, dass ihre Schwester im Gegensatz zu ihr so viel Glück gehabt hatte. Auf diese Weise würde, so dachte sie, deren Reichtum, wenn er denn eines Tages nach langwierigen Bemühungen der eigenen Tochter in die Hände fiele, wenigstens dorthin gelangen, wo sie ihn haben wollte.

Im Haus der Tante wurde der Fernseher früh am Abend wieder ausgemacht, weil am nächsten Morgen Schule war. Nie durften ihre Klassenkameradinnen sie besuchen, um gemeinsam Hausaufgaben zu machen, was in den Augen der Tante das Gleiche war wie sie nicht zu machen, denn sie würden die Zeit ohnehin nur mit Plappern vertun. Nie verzieh die Tante ihr einen Fehler, sie akzeptierte weder Entschuldigungen noch Erklärungen, sodass jeder Fehler für immer und ewig bestehen blieb.

Die sympathischsten Menschen in ihrem Haus waren die Bediensteten, von denen jeder auf eine ganz bestimmte Aufgabe spezialisiert war. Aber sie wohnten nicht in der Villa, sondern gingen abends nach Hause. Auch durfte sie sich nicht mit ihnen einlassen. Die Tante war eingebildet und voller Hochmut, eine typische Neureiche eben oder, wie die Franzosen sagten, ein Parvenu. Sommers wie winters musste Marianna nachmittags um fünf Uhr zu Hause sein, daher war es für sie unmöglich, hin und wieder ein Schulfest zu besuchen, wo sie vielleicht einen Jungen kennengelernt hätte. Wenn die Nichte telefonierte, schritt ihre Tante mit feindseliger Miene vor ihr auf und ab, um anhand des Timbres herauszuhören, ob die Stimme am anderen Ende der Leitung männlich war.

Nur ein einziges Mal versuchte Marianna zu fliehen. Statt in die Schule zu gehen, bummelte sie durch die Straßen. Sie kaufte sich etwas Süßes, denn damals ekelte sie sich noch nicht vor dem Essen, dann nahm sie den Bus und fuhr zu sich nach Hause. Ihre Mutter bereitete ihr jedoch einen kühlen Empfang und ermahnte sie gar, ja nicht zu krümeln, denn sie habe gerade erst die Böden gewischt. Sie ließ sie quasi vor der Haustür stehen.

Danach kam es zu keiner weiteren Rebellion, sondern Marianna schickte sich in das Offensichtliche: Die Welt war schlecht, und es war besser, gar nicht erst geboren zu werden. Die Menschen haben im Grunde nur die Wahl, von einem Ort, wo es ihnen schlecht geht, an einen anderen Ort zu wechseln, wo es ihnen genauso schlecht geht. Genau wie der Isländer bei Leopardi.

Und so kam es, dass sie nach ihrem Examen und mit ihrem allerersten Gehalt ihre Sachen und Bücher kurzerhand in einen Koffer stopfte und das Haus ihrer Tante verließ, um diese nie wiederzusehen. Und die Mutter sah sie auch nicht wieder. Diese war kurz vor ihrem Tod vom Notar informiert worden, dass ihre Schwester in Ermangelung anderer Erben, denn ihre Nichte zählte nicht für sie, die Villa einem Altenheim für Bedürftige vermachen würde. Hahaha! Recht geschah es ihrer Mutter: Sie war mit der Gewissheit gestorben, dass alles keinen Zweck gehabt hatte.

Für Marianna war dieser Abschnitt indes die schönste Zeit ihres Lebens. Nach so vielen Jahren der Gefangenschaft erschien ihr die Hafengegend sogar als reizvolles Viertel, trotz der winzigen, erbärmlichen Läden, der zahllosen arabischen Immigranten, der Armut und der heruntergekommenen Häuser. Wohin man auch sah, kaputte Fenster, bröckelnde Gesimse, Souterrainbehausungen, deren einzige Licht- und Luftquelle die direkt auf die Straße gehenden Wohnungstüren waren, durch die man einen Blick auf mit Wachstüchern bedeckte Tische erhaschte, mit Töpfen und Plastikblumen darauf, auf Stühle und zerschlissene Sofas, die mit gehäkelten Wollresten gefüllt waren, und auf unentwegt laufende Fernseher. Und überall stank es nach Knoblauch, Bratenfett und Abfall.

Ihre Tante war inzwischen ans Bett gefesselt, wie sie wusste. Das geschah ihr recht.

Marianna war hartherzig geworden. Niemand mochte sie, und sie mochte niemanden. Nie empfing sie zu Hause Gäste. Nie gab sie Bedürftigen Almosen. Wegen eines ihr streitig gemachten Quadratmeters Terrasse grüßte sie die arabischen Nachbarn nicht mehr. Wenn jemand sie um einen Gefallen bat, war es immer genau im falschen Moment, wenn sie leider überhaupt nicht konnte, und kaum war derjenige um die Ecke, platzte sie heraus: »Sieh zu, dass du allein zurechtkommst.«

Ihre Hartherzigkeit war die Hypothek, mit der ihre Mutter sie belastet hatte, als sie ihre Tochter an die Tante verkaufte. Andererseits, dachte Felicita, gab es Menschen, denen das Leben übel mitgespielt hat und die trotzdem weichherzig geblieben sind. Oder traf das nur auf Heilige zu?