Felicita und ihr Vater Raffaele hatten beschlossen, dem Vater des Kindes nichts von dessen Existenz zu sagen. Einige Jahre lang hatte Mutter Ester widerwillig ihrem Wunsch entsprochen, zum einen weil sich Sisternes mehrmals verlobt hatte und man im Dorf von der bevorstehenden Hochzeit sprach, aber vor allem weil er aus ihrem Leben so gut wie verschwunden war.
Wenn sie sich begegneten, erkundigten sich der ihr abhandengekommene Schwiegersohn und sie sich gegenseitig nach dem Befinden der Mutter beziehungsweise des Gatten. Es war, als existierte Felicita gar nicht und als hätten Ester und Raffaele keine Tochter.
Doch eines Tages, Gregorio ging bereits in die Grundschule, platzte sie bei einer dieser Begegnungen mit allem heraus. Urplötzlich und unumwunden, als müsste es jetzt oder nie sein.
Nachdem Pietro Maria von der Existenz seines Sohnes erfahren hatte, erschien er kurz darauf kleinlaut und mit hängendem Kopf an Felicitas Tür. Wie vom Donner gerührt stand sie da und betrachtete seine schönen Hände mit den schmalen Fingern und rief sich ins Gedächtnis, wie viel Macht diese über sie gehabt hatten.
Von da an bemühte sich Pietro Maria, sie in jeder Hinsicht zu unterstützen. Eines Tages wiederholte er sogar seinen Heiratsantrag, und zwar mit der gleichen traurigen Miene wie damals, als sie beide noch nicht volljährig gewesen waren. Und wieder lehnte Felicita ab.
In dieser Zeit ließ Felicita sich hin und wieder in einen von Mariannas Sesseln sinken und weinte sich bei ihr aus, weil Sisternes sie einfach nicht lieben könne. Nicht, dass er sich keine Mühe gebe. Er hätte sie so gern geliebt. Aber er könne einfach nicht.
Marianna machte ihr dann etwas Warmes zu trinken, Kamillen- oder Schwarzteebeutel hatte sie immer im Haus, für den Fall, dass sie sich übergab. Anschließend nahm sie ihr gegenüber in einem anderen Sessel Platz und wartete darauf, dass sich Felicita wieder beruhigte.
Tatsächlich dauerte es nie lange, und sie war wieder die Alte. Ein paar Tage später erschien sie erneut bei ihrer Freundin und trällerte vor sich hin: »›Ta ta ta ta ta ta ta ta ta! Oh oh oh oh oh oh oh oh oh! What a wonderful world this would be.‹«
»Was soll das denn sein?«
»A Wonderful World von Sam Cooke.«
»Haha! In der Tat eine wunderbare Welt!«
Also wirklich, meinte sie, Felicita sei wohl jeder Anlass recht, um neue Hoffnung zu schöpfen.
Eines Tages überraschten die beiden in der Wohnung oben eine Küchenschabe dabei, wie sie unter den Spülschrank krabbeln wollte. Mutter und Kind waren zutiefst verschreckt, aber auch Marianna fühlte sich nicht in der Lage, ihnen dabei zu helfen, sich der Kakerlake zu entledigen. Und so musste, um das Ungeziefer zu töten, mitten in der Nacht Sisternes aus dem Dorf anrücken.
Die beiden empfingen ihn als Gespenster verkleidet, denn aus Angst, die Kakerlake könnte sie anspringen, hatten sie sich jeweils ein Bettlaken über den Kopf gezogen, in das sie zwei Löcher für die Augen geschnitten hatten, und sich mit Schaufel und Handbesen bewaffnet.
Am nächsten Tag erschien Felicita gut gelaunt bei der Freundin: »Meinst du, es könnte sich noch was ändern? Vielleicht verliebt er sich ja doch noch und schließt das Kind in sein Herz. Warum wäre er sonst mitten in der Nacht den ganzen Weg hierhergefahren, um uns zu helfen?«
Auch Sisternes’ Verhalten bei der Geschichte mit dem grünen Käse hatte ihre Hoffnung genährt. Gregorio hatte nämlich ein Käsebrot in seinem Schulrucksack vergessen. Erst nach mehreren Tagen hatte er es zwischen den Heften wiederentdeckt und die Hälfte gegessen. Zu Hause zeigte er seiner Mutter den Rest dieses merkwürdig grünen Pausenbrots. Als Felicita die schimmlige Käsebrothälfte sah, bekam sie fürchterliche Angst, ihr Sohn könnte daran sterben. Ohne Gregorio wollte auch sie auf keinen Fall weiterleben, deswegen aß sie kurzerhand die andere Hälfte. Nachdem sie Sisternes angerufen hatte, warteten Mutter und Sohn darauf, dass sie sterben würden. Kurz darauf traf Pietro Maria mit einem Arzt ein.
»Warum hast du denn die andere Hälfte gegessen?«, fragte er Felicita wutentbrannt.
»Wenn ich sterbe, stirbt Mama auch«, sagte der Junge zur Verteidigung seiner Mutter. »Weil sie immer mit mir zusammen sein möchte.«
Anschließend lief Felicita zu Marianna hinunter, um ihr von dem Vorfall zu erzählen: Wenn Sisternes tatsächlich nichts an ihr und seinem Kind läge, meinte sie abschließend, hätte er dann alles stehen und liegen lassen und wäre in Begleitung eines Arztes zu ihnen gefahren?
Auch mit Sex versuchte sie es. Schließlich war er gerade wieder einmal Single. Hin und wieder hieß es im Dorf, er sei kurz davor zu heiraten, aber das Gerede entpuppte sich jedes Mal von Neuem als falscher Alarm.
Manchmal, wenn Gregorio eingeschlafen war, bat sie ihn, doch noch ein bisschen zu bleiben und noch etwas zu trinken, und um sich Mut zu machen, stürzte sie ein oder zwei Gläser Wein hinunter, und zwar von dem guten, der ein kleines Vermögen kostete und den sie nur kaufte, wenn Sisternes zum Abendessen kam. Ein, zwei Gläschen Wein steigerten ihre Lust. Schließlich setzte sie sich auf seinen Schoß, knöpfte die Bluse auf und ließ ihn an ihren Brustwarzen saugen, dann kniete sie sich vor ihn hin und nahm ihn in den Mund. Schließlich begab sie sich auf alle viere und sagte, er könne alles mit ihr anstellen, worauf er Lust habe. Er solle ruhig in sie eindringen wie ein Rüde in eine läufige Hündin.
Hin und wieder gelang es ihr sogar, Sisternes zum Übernachten zu bewegen, als wären sie eine ganz normale Familie, Mutter, Vater, Kind. Aber nachdem sie sich geliebt hatten, starrte Pietro Maria eine Weile an die Decke, dann schwang er abrupt die Beine über die Bettkante, stand auf und zog die Hose an.
»Warum?«, murmelte sie.
»Ich schaffe es einfach nicht, in diesem Zimmer zu schlafen oder in dieser Werkstatt, wie du es nennst. Es ist einfach zu vollgestopft mit, entschuldige bitte, lauter Krimskrams.«
»Ich lebe seit Jahren mit diesem Krimskrams. Der geht übrigens weg wie warme Semmeln. Ich komme gar nicht nach, so viel wird davon bestellt.«
»Vielleicht liegt es auch an der Feuchtigkeit hier drinnen oder daran, dass es so penetrant nach Kohl und Bratfett riecht. Es ist nicht deine Schuld, die Gerüche kommen von draußen. Wenn man die Fenster aufmacht, wird es noch schlimmer. Nimm es mir bitte nicht übel.«
»Aber diese Gerüche werden doch vom Meergeruch überlagert. Sieh mal, der Mond, ist dir schon mal aufgefallen, dass er über diesen Dächern größer und näher wirkt als anderswo? Außerdem denk daran, dass du eine Stunde Fahrzeit vor dir hast, wenn du jetzt noch ins Dorf zurückwillst.«
»Selbst wenn ich zehn Stunden bräuchte, würde das nichts ändern. Verzeih mit bitte.«
»Immer redest du davon, dass du es im Dorf nicht mehr aushältst, dass das nicht der Ort ist, an dem du leben willst, sondern dass du lieber in der Stadt wohnen würdest.«
»Sicher, das möchte ich auch, aber in einer Villa, die von einem Park umgeben ist, und nicht, ohne dir nahetreten zu wollen, in einem Loch wie diesem.«
»Dann verkauf eben euer Haus auf dem Land.«
»Das gehört meiner Mutter, und von dem Geld, das ich verdiene, kann ich mir kein anderes Leben leisten. Meine Mutter weiß, dass sie mich in der Hand hat, deswegen weigert sie sich, mir etwas von ihrem Besitz zu überschreiben.«
»Dann heirate eben eine schöne, reiche Erbin.«
»Ich kenne keine schöne, reiche Erbin, außerdem würde so eine mich nicht wollen. Es sei denn, sie kriegt keinen anderen mehr ab.«