Während sie die steile Treppe hochstiegen, sagte Felicita seufzend, sie bräuchten sich wegen Gregorio wirklich keine Sorgen zu machen. Was, wenn sich New York für ihn gar als das gelobte Land entpuppe? Und wenn sie, seine Eltern, ihn an der Reise dorthin hinderten, würden sie das dann nicht bitter bereuen? Der Junge habe wirklich etwas drauf, dessen sei sie sich sicher, nur sei er eben ein bisschen anders. Aber sei nicht auch er, sein Vater, als Junge ein bisschen anders gewesen? Hatten sie ihn nicht aus Clubs geworfen, weil er nicht wie ein Sänger angezogen gewesen sei und keine Stücke gespielt habe, auf die man tanzen konnte? Ob er sich daran noch erinnere?
»Jetzt sei mal still und hör mir zu.« Sisternes packte sie am Arm und drückte sie auf den Stuhl, der am nächsten zur Eingangstür stand. »Das ist eines Nachts passiert, in einer verwaisten Straße. Gregorio war auf dem Nachhauseweg, als ein Typ vor ihm stand, und hinter ihm tauchten ein paar Freunde von diesem Kerl auf, lauter aggressive Kerle. Wir mögen Typen wie dich nicht, sagt der Erste zu ihm. Ja, was bin ich denn für ein Typ?, fragt unser Sohn. Ganz schön frech für jemanden, der nichts kann als auf einem Klavier rumklimpern. An deiner Stelle würde ich den Ball flachhalten. Dann haben sie auf ihn eingedroschen und ihn auf dem Boden liegen lassen. Und was macht Gregorio, unser Idiot von Sohn? Er geht am nächsten Abend zur selben Zeit in dieselbe Straße und wartet auf die Schlägertypen. Er hatte ein geschwollenes Auge und war mit blauen Flecken übersät, und dir hat er erzählt, er sei beim Kicken hingefallen und hätte den Ball ins Gesicht gekriegt. Du gehörst zu den Müttern, die alles glauben, egal, welches Märchen der Junge dir auftischt, du nimmst es ihm ab. Mich würde interessieren, was ihr gegen mich habt, sagt er zu diesen Scheißkerlen. – Wir mögen keine Waschlappen wie dich. – Das ist keine Erklärung. Da haben sie ihn mit den Fäusten in den Magen geschlagen und ihn in seinem Erbrochenen liegen lassen. Und trotzdem fällt ihm nichts Besseres ein, als ihnen nachzurufen, bis morgen, hier, zur selben Uhrzeit! – Ah, du beziehst wohl gern Prügel! – Nein. Gar nicht. Aber ich warte immer noch auf eine Erklärung. Am darauffolgenden Abend ist er zur verabredeten Zeit wieder dort, aber wer sich nicht blicken lässt, sind die Schlägertypen. Inzwischen hattest du mich angerufen, erinnerst du dich?, ich solle kommen und mir ansehen, wie der Sport den armen Kerl zugerichtet hat, und damit mir endlich klar würde, wie verheerend meine väterlichen Ratschläge seien. Aber im Gegensatz zu dir habe ich mir keine Märchen auftischen lassen, sondern ihn dazu gebracht, mir die Wahrheit zu sagen.«
»Kannte er die Kerle?«
»Er behauptet nein.«
»Und weiß er, warum sie das getan haben?«
»Er hat keine Ahnung. Ich dagegen kann es mir denken.«
»Ja, was denn?«
»Nun, ich denke da an all die Irren dieses schönen Viertels, wo sich niemand allein fühlt und alle so wunderbar zusammenhalten. An die Ehemänner deiner Freundinnen. Die an eurer Tür klingeln und Gregorio drohen, weil ihnen sein Klavierspiel auf den Wecker geht.«
»Aber er hat sich mit ihnen auf feste Zeiten verständigt, in denen er spielen kann, morgens von neun bis zwölf und am Nachmittag von vier bis sieben.«
»Schade nur, dass einige dieser Typen nachts arbeiten und morgens schlafen oder nachmittags gern ein Nickerchen halten wollen. Und schade, dass es auch nichts bringen würde, andere Zeiten zu verabreden, weil andere wiederum tagsüber arbeiten, nachts schlafen und für ein Mittagsschläfchen keine Zeit haben.«
»Aber wegen ihnen haben wir das Klavier sogar in die Küche geschafft.«
»Nun, das bedeutet, dass man es eben jetzt über den Innenhof hört, wenn Gregorio spielt.«
»Aber seit es in der Küche steht, ist niemand mehr gekommen und hat sich beschwert.«
»Ja, weil sie beschlossen haben, ihm stattdessen eine ordentliche Abreibung zu verpassen.«
»Aber was sollten die Klavierspieler ihrer Meinung nach in diesem Viertel tun?«
»Was für Klavierspieler? Gregorio ist weit und breit der einzige. Im Übrigen wohnen hier überwiegend Muslime, und du weißt doch, dass für sie jede Musik, die nicht religiös ist, Gotteslästerung bedeutet.«
»Was habt ihr nur immer gegen die Araber! Es waren ganz bestimmt nicht die Araber, die ihn verprügelt haben, die Araber sind klein und schmächtig und keine Schlägertypen, so wie du sie beschrieben hast. Im Übrigen geht er ja jetzt nach New York, und weil New York die Heimat des Jazz ist, wird dort niemand verprügelt, nur weil er Musik macht.«
»Nun sei bitte wenigstens einmal vernünftig, Felicita! Gregorio ist zu gutmütig, und zwar so sehr, dass er in einer relativ friedlichen Stadt wie Cagliari für einen Schwachkopf gehalten wird, was soll denn da in New York aus ihm werden?«
»Warum müsst ihr nur alle immer auf diesem dummen Vorurteil herumreiten, dass die Guten untergebuttert werden. Das stimmt nicht. Ich sage dir, was aus ihm wird. Er wird da drüben Klavier spielen.«
Wieder allein, starrte Felicita eine Zeit lang die Wand an. Vielleicht hatte Sisternes doch recht, überlegte sie. Und jenes Gefühl, das sie in den ersten Monaten ihrer Schwangerschaft gehabt hatte, nämlich dass Gregorio nicht auf diese Welt kommen wollte, hatte sie offenbar doch nicht getrogen. Vielleicht spürte und begriff ein Embryo so manches, und er hatte gespürt, dass er für diese Welt nicht geschaffen war. Er war ein Außenseiter, anders als andere Jungen. Und wer hatte ihn dazu gemacht? Sie natürlich, weil sie ihm nicht das gegeben hatte, was Kinder vor allem brauchten, eine Familie und, ja, auch die eine oder andere Annehmlichkeit. Und in deren Genuss wäre Gregorio bestimmt gekommen, wenn sie Pietro Maria geheiratet hätte, obwohl er sie nicht liebte.