Um diese Zeit war der Poetto meistens menschenleer, und Felicita konnte auf ihren Turban verzichten.
Nicht, dass ein kahler Schädel Grund zur Scham gewesen wäre und Krebskranke nicht das Recht gehabt hätten, an einem Strand zu sein. Früh am Morgen, wenn sich die Wellen langsam am Strand brachen und sich gemächlich wieder zurückzogen, musste sie unweigerlich an den Atem Gottes denken, der einen auf diese Welt blies und beim Einatmen wieder mit sich nahm.
Das Meer gefiel ihr immer: wenn es durchsichtig war und die Sonne glitzernde Sterne aufs Wasser zeichnete, wenn es dunkel war und die Wellen ihr Klagen vernehmen ließen, ja sogar wenn es aufgewühlt und bedrohlich war und der Salzgeruch intensiver.
Bestimmt hätte ihr jedes Meer gefallen, aber das am Poetto-Strand war ihr das liebste. Der Strand fiel ganz sanft ab, und man kam beim Hineingehen ins Wasser nicht durch jähe Untiefen aus dem Gleichgewicht; auch erwartete einen keine faszinierende Unterwasserwelt, die einen zu unberechenbaren Abenteuern verleitet hätte.
Es stimmt nicht ganz, dass außer ihr niemand am Strand war, da war noch jemand, ein Mann, aber er schien sie nicht zu bemerken. Er kauerte mit gebeugtem Rücken da und schien auf etwas zu starren, aber es war nur der Sand. Sein geschorener, perfekt gerundeter Schädel, der Hals, seine Schultern, die muskulösen Arme, alles an ihm erweckte den Eindruck, er wäre ein großer Mann, aber das täuschte.
Er stürzte sich bei jedem Wetter ins Meer, selbst wenn rote Flaggen gehisst waren, die signalisierten, dass es gefährlich war. Wer weiß, dachte Felicita, vielleicht will er sterben. Deshalb ließ sie ihn nie aus den Augen und hatte das Handy immer griffbereit, um zur Not die Küstenwache zu verständigen.
Nach dem Baden streckte er sich erschöpft auf seinem Handtuch aus. Sie wusste nicht warum, aber sie mochte diesen Mann vom ersten Augenblick an gern.
Eines Tages schien es, als wäre er tatsächlich tot. Sie ging zu ihm, beugte sich über ihn und machte: »Pst! Pst!« Noch immer gab er kein Lebenszeichen von sich. Sie berührte ihn leicht am Arm, den er über den Kopf gelegt hatte, und machte erneut: »Pst! Pst!« Darauf schrak der Mann hoch und machte Anstalten aufzustehen.
»O nein, bitte bleiben Sie doch liegen. Bitte, bemühen Sie sich nicht.« Sie streckte die Hand aus, und er ergriff sie, während er sich auf dem anderen Ellbogen abstützte. »Ich heiße Felicita.« Doch nachdem sie sich so überschwänglich vorgestellt hatte, wurde ihr klar, dass es sonst nichts zu sagen gab, und sie kehrte wieder zu ihrem Handtuch zurück.
Von da an hoben sie kurz die Hand, um einander zu grüßen, wenn sie einander antrafen. Sie wechselten aus der Ferne ein paar Worte, und wenn sie einander wegen des Tosens der Wellen nicht verstanden, zuckten sie die Schultern, als wollten sie sagen: »Ist egal. War nicht wichtig.«
Aber wenn er nach ihr eintraf, breitete er sein Handtuch nicht allzu weit von ihrem aus, obwohl jetzt, am Ende des Sommers jede Menge Platz am Strand war. Und wenn Felicita später kam, hielt sie es ebenso, und keiner von beiden wechselte je seine Position. Irgendwann holte sie dann immer den Imbiss, den sie vorbereitet hatte, aus ihrer kleinen Kühltasche.
»So, dann wollen wir mal.«
Eines Morgens fragte der Mann sie: »Was essen Sie denn da?«
»Lebensmittel, die gegen Übelkeit helfen. Ich mache zurzeit eine Chemotherapie.«
»Ah, deswegen haben Sie also keine Haare.«
»Ja, genau. Ich hatte so schöne, dicke Haare, keine richtigen Locken, aber kastanienbraune Wellen mit goldenen, fast blonden Strähnen.«
»Darf ich Sie fragen, wo der Tumor sitzt?«
»Fast überall.«
War der Mann einmal nicht da, vermisste sie ihn. Und wenn das Wetter schlecht war und sie nicht an den Strand konnte, weil sie sonst eine Erkältung riskierte, oder an ihren schlechten Tagen, wenn sie einfach nicht die Kraft dazu hatte, fragte sie sich bisweilen, ob er wohl am Strand sei.
Eines Tages trat sie zu ihm, beugte sich ein wenig zu ihm hinab und fragte ihn, warum er immer noch regelmäßig zum Meer komme, obwohl der Sommer doch vorbei sei.
»Nun, ich bin ein Wrack. Wo soll ich sonst sein?«