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Raffaele arbeitete nun schon seit vielen Jahren bei Ansaldo.

Eines Morgens, als er wieder einmal zu Besuch auf der Insel war, ging seine Mutter in der niedrigen Küche zwischen Tisch und Kamin hin und her, wo sie zum Frühstück ein paar Scheiben civraxiu, ein knuspriges sardisches Brot, röstete. Man hörte ihr Schnaufen. Sie war schwerkrank, und selbst bei der leichtesten Tätigkeit geriet sie schnell außer Atem.

»Wenn du sie kennen würdest«, brach der Sohn das Schweigen, »wenn du nur sehen würdest, wie perfekt sie zu mir passt.«

»Perfekt«, sagte die Mutter leise, wie zu sich selbst, »perfekt, nur weil sie anders und weit weg ist.«

»Was willst du damit sagen – weit weg?«

»Ich will sagen, dass ihr Vater ein Reeder ist. Ich will sagen, dass sie weit weg von mir und diesem schwarzen Tuch auf meinem Kopf ist, weit weg von dieser Küche, dem Klo auf dem Hof draußen.«

»Willst du damit sagen, ich liebe sie, weil sie reich ist?«

»Nein. Aber ich bin alt genug, um zu wissen, dass zwischen dem einen und dem anderen Grund schwer zu unterscheiden ist.«

»Willst du damit sagen, dass Babbo dich nur geheiratet hat, weil du reich warst?«

»Nein. Du weißt ganz genau, dass meine Eltern mich enterbt haben. Ich meine die Zeit, als es angefangen hat zwischen uns. Er hat mich als reiche Tochter kennengelernt. Du darfst nicht nur an dich, sondern musst auch an deine neue Freundin denken.«

»Was willst du damit sagen?«

»Gar nichts will ich damit sagen.«

»Dass sie es irgendwann bereuen könnte, einen armen Schlucker geheiratet zu haben? So wie du es bereut hast?«

»Gar nichts will ich sagen.«

»Ester versteht mich einfach nicht. Selbst wenn wir zusammen sind, habe ich nicht das Gefühl, dass sie mir nahe ist. Mit ihr werde ich nie glücklich sein.«

»Ach, glücklich sein, was ist das schon. Das ist eine Gabe, entweder man hat sie oder man hat sie nicht. Mit anderen hat das nichts zu tun. Du hast ein gutes Herz. Ein besseres als meine anderen Kinder. Nicht einmal dem Krieg ist es gelungen, einen grausamen Menschen aus dir zu machen, aber jetzt willst du diese arme Frau umbringen.«

»Ganz schön starke Worte!«

»Tja, aber sie stimmen. Wenn du Ester nach all den Jahren in diesem Nest sitzen lässt, ist für sie das Leben gelaufen. Kein anderer wird sie dann noch nehmen.«

»Doch, jemand, der sie liebt.«

»Ach, die Liebe. Man nimmt den Mund so voll mit diesem Wort. Hast du der Neuen erzählt, dass deine Verlobte den ganzen Krieg auf dich gewartet hat und es noch immer tut?«

»Sie weiß alles über mich. Sie ist die Einzige, die mir Fragen stellt. Die es interessiert, wie’s mir geht. Niemand sonst fragt mich je, wie’s mir geht. Wenn du mir erlauben würdest, sie mit hierherzubringen …«

»Dann kannst du dir gleich wünschen, dass ich sterbe, denn solange ich lebe, bringst du sie mir nicht in dieses Haus.«

Raffaele trank seinen Caffè Latte aus. Er war sich mit der Hand durch die wenigen ihm verbliebenen Haare gefahren, die jetzt sogar ein wenig zerzaust aussahen. Nach längerem Schweigen stand er auf und ging seine Jacke holen.

»Wohin willst du?«

»Zu Ester.«

»Was wirst du ihr sagen?«

»Sie soll alles Nötige für die Hochzeit vorbereiten.«

Nachdem er mehrmals vergeblich versucht hatte, mit der Hand das Ärmelloch zu treffen, trat die Mutter zu ihm und half ihm in die Jacke.

»Die andere darfst du ab jetzt aber nicht mehr treffen.«

»Das werde ich auch nicht, doch tief drinnen werde ich nicht aufhören, mich nach ihr zu sehnen. Ohne sie werde ich nie glücklich sein.«

»Ach, sag doch nicht solche Sachen. Natürlich wirst du glücklich sein.«

Bevor er hinausging, ließ sich Raffaele nochmals auf einen der Stühle sinken, die an den Wänden der Diele aufgereiht waren. Die Mutter, die wieder in die Küche zurückgekehrt war, hörte ihn noch lange weinen.