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Felicita wäre statt mit Perücke natürlich lieber mit ihrem schönen, dichten welligen Haar nach New York, in Gregorios gelobtes Land, geflogen und auch lieber aus einem anderen Anlass, aber ihr Sohn war nach einer Panikattacke in ein Krankenhaus eingeliefert worden.

Es ging ihm schlecht, weil Judith, seine erste große Liebe, gestorben war, eine Sängerin mit wunderschönem rotem Haar und grünen Augen. Ihre Urgroßeltern, reiche deutsche Juden, hatten unter den Nazis alles verloren und waren in die Vereinigten Staaten emigriert.

Judith wohnte bis zu ihrem Tod noch bei ihrem Großvater, während ihre Eltern, Geschwister und Onkel und Tanten, die ebenfalls in New York geboren waren, dem Ruf ihres gelobten Landes gefolgt und nach Israel übergesiedelt waren.

Sie hingegen hatte es vorgezogen, zu bleiben. Ihr gelobtes Land war nicht Israel, sondern ein verbissener, unbezwingbarer Drang, sich dafür zu rächen, dass das Leben so ungerecht zu ihr war. Sie war eine begabte, aber noch nicht berühmte Sängerin, und das war auch der Grund, warum sie sich so grämte und schließlich selbst hasste. Manchmal, wenn es kalt war, ging sie nur mit einem leichten Sommermantel bekleidet und ohne Schirm hinaus, und das tat sie absichtlich, damit ihr die Stimme wegblieb. Aber das nützte ihr nichts, denn niemand nahm Notiz von ihr, und sie trat weiter für eine Handvoll Dollar in irgendwelchen Kneipen auf. Als sie wieder einmal bei Rot über die Straße gegangen war, hatte ein Auto sie erfasst und getötet.

Das hatte Gregorio nervlich nicht verkraftet. Bis zu Felicitas Ankunft hatte sich Judiths Großvater um ihn gekümmert, der sich, wie bei Juden üblich, zum Zeichen der Trauer einen Bart hatte wachsen lassen. Jetzt saß er mit Felicita und Gregorio im Zimmer seiner Enkelin, wo noch der Duft ihres fruchtigen Schaumbads in der Luft hing.

Während der Großvater seine Familiengeschichte erzählte, brach er immer wieder in Tränen aus; er sprach Englisch, unter das er geheimnisvoll klingende hebräische Sätze mischte, die Gregorio für seine Mutter übersetzte.

Er wurde in der großen, familieneigenen Villa in Baden-Baden geboren. Im Jahr 1933 lebten noch einige sehr reiche Juden in dem noblen Kurort mit seinen gekiesten Auffahrten, kleinen Seen, Springbrunnen und »arischen« Bediensteten mit weißen Handschuhen und waren vor der Verfolgung durch die Nazis sicher. Noch war es den Juden nicht gesetzlich verboten, »Arier« zu beschäftigen. Die Mutter verbrachte dort, fern der Großstadt, die Zeit ihrer Schwangerschaft.

Aber noch in Windeln war er mit den Eltern nach New York gekommen und hatte seine ersten Schritte hier in Harlem gemacht, in diesen Straßen, die immer ein bisschen glitschig waren, auch wenn es nicht regnete, und in dem einzigen Zimmer, das sie bewohnten und wo an zwei Leinen, die von einer Wand zur anderen gespannt waren, immer tropfnasse Wäsche zum Trocknen hing. Der Vater hatte wie viele andere jüdische Einwanderer damals einen kleinen Trödelladen eröffnet, und es war ihm und seiner Frau einigermaßen gelungen, ihre Würde zu wahren. Ja, sogar eine gewisse Eleganz, die auf die Bewohner dieses Viertels ein wenig merkwürdig wirkte.

Doch das beruhte auf Gegenseitigkeit, denn die anderen erschienen ihnen genauso sonderbar. Wie konnten sie, die feinsinnigen, kultivierten deutschen Juden, die amerikanische Angewohnheit, mit Lockenwicklern einkaufen zu gehen oder im Pyjama aus der Haustür zu treten und die Eingangstreppe zu fegen, anders als merkwürdig empfinden?

Der Beschluss, nach Amerika zu emigrieren, sei weitsichtig von seinen Eltern gewesen, fuhr Judiths Großvater fort. Sie seien wirklich sehr reich gewesen: Unter anderem besaßen sie ein herrschaftliches Haus in Köln und besagte Villa in Baden-Baden, dem bei russischen Aristokraten zu Zarenzeiten so beliebten Bäderstadt. Seine Eltern verkauften alles, doch der Verkaufserlös war mager und reichte gerade einmal für die Reisedokumente und die Schiffspassagen nach Amerika. Und dann mussten sie sich von anderen Juden, die in Deutschland blieben, den Vorwurf gefallen lassen, ihnen fehle der Mut zum Bleiben, sie seien zu ängstlich.

Aber seine Eltern waren ganz anderer Meinung gewesen. Es bedürfe im Gegenteil großen Mutes, um alles hinter sich zu lassen, sich einzuschiffen und in Ellis Island anzukommen mit nichts als einem Überseekoffer, worin sich das wenige befand, was sie von ihren ganzen Besitztümern hatten retten können: ein Tafel- und ein Teeservice, eine Tischdecke und zwei bestickte Laken, je eine Sonntagsgarnitur für die Eltern, ein Fotoalbum, eine Menora und die mit Glückwünschen bestickten Hemdchen für das Baby.

Die Heimat zu verlassen sei für sie vor allem eine Pflicht gegenüber ihm, dem Neugeborenen, gewesen, erklärte der Großvater, denn noch mehr als das zu erwartende Grauen fürchteten sie eine noch tückischere Gefahr, und zwar dass sich ihre Kinder, dadurch dass sie der abgrundtiefen Verachtung seitens der Goi ausgesetzt gewesen wären, irgendwann tatsächlich verachtenswert gefühlt hätten.

Das wäre auch weitaus schlimmer gewesen als die Armut und ihr elendiges Leben in Harlem, wo man zwar ebenfalls diversen Belästigungen ausgesetzt war, aber nicht weil man Jude war.

Und so sei er also in New York aufgewachsen, erzählte Judiths Großvater weiter, im schwarzen Ghetto, zusammen mit anderen Armen, umgeben von Kleinkriminellen und Prostituierten, im armseligen Laden seines Vaters. Aber Harlem habe auch schöne Seiten. Die Leute dort seien offener gegenüber Fremden als die Menschen in den wohlhabenden Gegenden, sie hälfen einem, so gut sie konnten, wenn man der Hilfe bedürfe, und leisteten einem Gesellschaft, wenn man sich einsam fühle.

Außerdem gebe es den Jazz, der die Menschen fröhlicher und zuversichtlicher werden ließ. Einmal war seinem Vater etwas Ungewöhnliches passiert. Ein Musiker brachte ihm eine Trompete, er wollte sie verkaufen. Sein Vater, der großen Respekt und tiefe Bewunderung gegenüber Musikern empfand, gab ihm zwar das Geld für die Trompete, weigerte sich aber, sie zu behalten. Das war im Jahr 1955, und der Musiker hieß Quincy Jones, der von 1954 bis 1956 in Harlem wohnte.

Kurzum, für ihn und seine Familie habe sich New York letzten Endes als das gelobte Land entpuppt. Wenn seine Eltern ihm von dem luxuriösen Leben in Köln und Baden-Baden erzählten, klang es nach einem Märchen, als wäre ihr früheres Leben gar nicht wirklich gewesen, sondern ein Theaterstück mit prunkvollen Kulissen aus Pappmaché. Und nach dem Applaus gehen alle nach Hause.

Diese Märchen seien jedoch für seine Kinder und später auch für Judith schwer zu ertragen gewesen. Seine Kinder hätten begonnen, von einem »Großisrael« zu träumen, wo sie sich als Helden hervortun wollten, als tapfere Pioniere, glaubten sie doch, dass sich alle Probleme, gleich welcher Art, an dem einzigen Ort auf der Welt, wo sich ein Jude zu Hause fühlen konnte, in Luft auflösen würden.

Aber in Wahrheit könne kein gelobtes Land seinem Ruf gerecht werden. Und so habe sich auch Israel bald als bloßer Traum erwiesen.

Er dagegen sei in New York geblieben, in Harlem, mit seiner Enkelin Judith.

Sie habe sich immer dafür geschämt, hier zu wohnen, und nie jemanden nach Hause eingeladen. Sie habe von einer Villa auf Long Island geträumt oder einer Wohnung in der Upper East Side. Immer wieder habe sie gesagt, Leute unseres Standes, so tief gefallen, und sich damit auf den Verlust der Baden-Badener Villa, des herrschaftlichen Hauses in Köln und der zahlreichen Bediensteten bezogen. Als schiene sie nicht zu wissen, welches Schicksal den Juden widerfahren war, die beschlossen hatten, ihren Wohlstand nicht aufzugeben.

In Judith habe eine solche Wut gelodert, dass sie am liebsten Holofernes enthauptet hätte, meinte der Großvater, aber diese Zeiten seien nun mal vorbei.

Oft habe er sie in ihrem Zimmer weinen hören, aber wenn er versucht habe, sie zu trösten, ihr zu sagen, dass sie, wie er finde, keinen Grund habe, so verzweifelt zu sein, habe sie geantwortet: »Ich werde immer ein Niemand bleiben, ich könnte ebenso gut in diesen Kneipen kellnern, statt zu singen, im Grunde läuft es aufs Gleiche hinaus.«

Aber nun hatte er allen Grund zum Weinen. Und Gregorio und seine Mutter weinten mit ihm.