Felicita schlief in Judiths Bett, unter der Daunendecke, die noch den Duft von Judiths fruchtigem Schaumbad barg, in dem Zimmer, wo der Großvater die Zeit angehalten hatte, als könnte die Enkelin von einem Moment auf den anderen wieder zurückkehren: über die Stuhllehne drapierte Kleidungsstücke, als warteten sie nur darauf, dass sie hineinschlüpfte, an einem Haken an der Tür der Bademantel, die Songhefte noch aufgeschlagen auf dem Schreibtisch.
Die Mutter hielt Gregorio, der am Fuß des Bettes auf einer aufblasbaren Matratze lag, die ganze Nacht hindurch die Hand.
Am nächsten Morgen zogen sie in Gregorios Zimmer um, das ungefähr zwanzig Querstraßen weiter nördlich lag. Aber bevor sie gingen, brachte Felicita einen Pecorino aus ihrem Koffer zum Vorschein, um sich bei Judiths Großvater für dessen Gastfreundschaft zu bedanken und dafür, dass er sich so lieb um Gregorio gekümmert hatte. Ehe sie nach New York aufgebrochen war, hatte sie sich gefragt, was ein Jude überhaupt essen dürfe, und war zu dem Schluss gekommen, dass sie mit Pecorino bestimmt nichts falsch machen könne, schließlich war Israel ein genauso karges Land wie Sardinien, also musste es auch dort Schafe und Ziegen geben.
Gregorio wohnte zur Untermiete bei einer aus Haiti stammenden Frau – sein winziges, dunkles Zimmer lag zu einem von Taubendreck verkrusteten Innenhof hinaus.
Im Flur hing eine große Landkarte der Antillen, und die zahlreichen, in der ganzen Wohnung verteilten Konsolen und Tischchen waren mit allerlei exotischem Schnickschnack und kleinen Holzstatuen bestückt.
Die Hausherrin, Jacqueline, war so gut wie nie da. Sie verließ früh am Morgen das Haus, um in den Straßen von Harlem zu joggen, weil sie sich fit halten wollte, dann kehrte sie kurz zurück, um sich für die Arbeit fertig zu machen, verließ erneut das Haus und kam erst spät am Abend wieder zurück. Gregorio wusste nichts über sie, und Jacqueline wusste nichts über ihn. Aber sie und Felicita hatten sofort einen Draht zueinander, auch wenn sie nicht dieselbe Sprache sprachen. Jacqueline war auf Anhieb aufgefallen, dass Felicita eine Perücke trug. Sie zog sie immer erst aus, wenn sie sich sicher war, dass Gregorio schlief. Vielleicht bot Jacqueline ihr deswegen ein mietfreies Zimmer mit einem großen Fenster an, das auf die 157. Straße hinausging. Es war möbliert mit einem Schrank, einem Schreibtisch, einem Esstisch mit vier Stühlen und sogar einem Sessel. Abends erleuchteten die Straßenlampen das Zimmer. Wenn Felicita die Tür angelehnt ließ, klopfte Jacqueline zwei-, dreimal an und fragte sie, ob sie ihr beim Abendessen Gesellschaft leisten wolle. Wobei sie immer nur Fast Food direkt aus einer Papiertüte oder einem Plastikbehältnis aß. Wenn sie ihr dabei zusah, bekam Felicita Mitleid. Und wie zu Hause für Marianna bereitete sie von nun an frisch gekochtes Essen für Jacqueline zu und ließ es für sie auf dem Küchentisch stehen.
Gregorio war zunächst nicht in der Lage, sein normales Leben wiederaufzunehmen. Einmal versuchte er, mit der U-Bahn zu fahren, kam aber kurz darauf panisch wieder nach Hause und schlüpfte schnell unter die Bettdecke zurück.
Wenn sich seine Mutter zu ihm auf die Bettkante setzte, erzählte er ihr jeden Tag ein bisschen mehr von seinem bisherigen Leben in New York. Ob sie noch mal ein Foto von Judith sehen wolle? Er hatte es in seinem Computer gespeichert. Hatte sie nicht wunderschöne rote Haare und grüne Augen?
Zusammen seien sie in verschiedenen Kneipen aufgetreten, erzählte er. Die Leute applaudierten ihr begeistert, und sie spielten noch ein Stück und noch ein Stück, bis spätnachts. Hinterher sagte Judith jedes Mal, dass sie richtig gut gewesen seien. Sie fragte ihn, ob er es nicht lieber ihr überlassen wolle, mit den Lokalinhabern zu reden, weil sie fürchtete, er sei zu gutmütig, um die Konditionen auszuhandeln. Dann nahm sie seinen Kopf zwischen die Hände und gab ihm einen Kuss. Er sei ein außergewöhnlicher Jazzmusiker, und irgendwann würden sie zusammen die berühmtesten New Yorker Clubs füllen, meinte sie. Immer wenn sie sich in seinem winzigen Zimmer liebten, sagte Judith: »Wie schafft man es bloß, an einem solchen Ort zu leben?«
Vor dem Haustor wimmele es vor Mäusen und türmten sich die Müllsäcke, beklagte sie sich. Zwar sei ganz New York voller Mäuse und Müll, aber in gewissen Vierteln sei das Problem nicht so sichtbar. Hier hingegen müsse man die Augen schließen, sich die Nase zuhalten und schnell durchs Tor schlüpfen. Außerdem sei das Zimmer so klein, dass sich die Schranktür nur einen Spaltbreit öffnen ließ. Es gebe keinen Schreibtisch, ja nicht einmal einen kleinen Tisch, und durch das winzige Fenster blicke man direkt auf den Unrat im Innenhof.
Aber er fühle sich trotzdem wohl in diesem Haus, erklärte Gregorio. Er habe noch nie Mäuse vor dem Hauseingang bemerkt, und mit einem Schreibtisch könne er sowieso nichts anfangen. Die Feuertreppen faszinierten ihn, und hinter den Mietskasernen gab es neighbourhood gardens, Gärten, um die sich einige Bewohner des Viertels kümmerten. Zwar konnte er sie von seinem Fenster aus nicht sehen, aber er brauchte bloß hinunterzugehen. In seinem Mietshaus wohnten Mexikaner und Menschen aus der Karibik einträchtig nebeneinander. Er habe sogar angefangen, Spanisch zu lernen, sagte er stolz. Dieses Viertel habe für ihn etwas Heiteres. Das hier sei das wahre Amerika. Abends hätten Judith und er immer wieder die gleichen schwierigen Diskussionen geführt. Aber kaum waren sie im Bett, war die Welt, im Dunkeln, wieder in Ordnung.
Morgens allerdings, nach dem Aufwachen, hätten die ewigen Wortwechsel wegen des Honorars für ihren jeweiligen Auftritt am Abend wieder begonnen. Von den vierzig Dollar, die jeder von ihnen bekam, gingen allein fürs Taxi zwanzig Dollar drauf, weil sie ja das Keyboard und die Lautsprecher transportieren mussten. Judith sei der Auffassung gewesen, er würde sich unter Wert verkaufen, für einen Hungerlohn arbeiten und nicht merken, dass sie ihn über den Tisch zogen, aber dickköpfig, wie er sei, lasse er sich einfach nichts sagen.
Dann habe sie ihn gebeten, sie eine Weile allein zu lassen, ein bisschen rauszugehen, auch wenn es regnete und er nur einen dieser billigen Regenschirme hatte, die sich beim ersten Windstoß verbogen. Aber wenn er dann tropfnass zurückgekommen sei, habe sie mit reumütiger Miene die Tür aufgemacht, seine eiskalten Hände zwischen ihre genommen und gemeint, es sei gefährlich für einen Pianisten, an den Händen zu frieren. Er dürfe nie vergessen, Handschuhe anzuziehen. Alles hänge von seinen Händen ab, ob ihm das nicht klar sei? Sie würde ihm ein schönes Paar Handschuhe kaufen, die für New York geeignet seien, die schönsten Handschuhe, die es in der Stadt gebe.
»Danke, aber das ist nicht nötig«, erwiderte Gregorio, »ich würde sie sowieso nur irgendwo liegen lassen und dann …«
»… stiehlt sie jemand?«
»Nein. Die Diebe würden gar nicht dazu kommen, sie zu stehlen, weil ich sie davor verlieren würde.«
Da habe sie aus vollem Hals gelacht, und sie hätten sich wieder versöhnt.
Manchmal erzählte ihm Judith von ihren Urgroßeltern, die gerade noch rechtzeitig nach Amerika emigriert waren, solange den Juden die Ausreise aus Deutschland noch erlaubt war, vorausgesetzt, sie ließen ihren ganzen Besitz zurück.
»Und das war ihre Rettung«, unterbrach Gregorio sie eines Abends.
»Sich selbst und seine Nachkommen zu diesem elenden Leben zu verdammen nennst du Rettung? Nein, ich muss um jeden Preis reich und berühmt werden, nach Deutschland zurückkehren und das große Haus in Köln und die Villa in Baden-Baden zurückkaufen.«
»Aber die sind bestimmt von den Bomben zerstört worden.«
»Nein, eben nicht. Durch eine Laune des Schicksals sind sie stehen geblieben. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Auf meiner einzigen Reise nach Deutschland. Unsere Häuser gibt es noch. Es scheint, als wäre von ganz Köln nur der Dom und wie zum Spott unser Haus verschont worden.«
»Und hast du geklingelt und dich vorgestellt?«
»Da sieht man mal wieder, dass du keine Ahnung von reichen Menschen hast. Unsere Häuser sind keine, bei denen man einfach klingelt, und jemand macht auf.«
»Eure? Hast du eure gesagt?«
»Unsere. Ja, unsere Häuser. Aber ich wollte dir gerade erklären, dass, wenn man dort klingelt, zuerst die Hunde und dann die Bediensteten kommen. Und die fragen dich aus, wer du bist und was du willst. Du kannst da nicht einfach so hineinspazieren.«
»Aber hast du nun geklingelt oder nicht?«
»Nein, die hätten mich für verrückt erklärt. Aber wenn ich einmal reich und berühmt bin, dann ist das etwas anderes. Verstehst du, was ich sagen will? Wenn ich mir einen Namen gemacht habe, einen richtigen Namen!«
Gregorio musste lachen. »Tut mir leid, ich wollte mich nicht über dich lustig machen. Aber stelle dir mal diese Szene vor: Du klingelst am Eingangstor und stellst dich als berühmte Jazzsängerin vor; dann schlägst du den Eigentümern vor, nein, du verlangst, dass sie ausziehen, und zwar weil ihr Haus bis 1933 deiner Familie gehört hat.«
»Aber nein, ich werde es ihnen doch abkaufen! Ich kaufe es ihnen ab, verstehst du!«
Laut Judith war das Leben in New York nur unter bestimmten Voraussetzungen erträglich. Was gar nicht ging: Einkäufe selbst zu erledigen, Tüten nach Hause zu schleppen und die Wäsche selbst zu waschen, denn in fast allen Mietskasernen waren Waschmaschinen verboten, und nur in luxuriösen Gebäuden war ein Stockwerk ausschließlich dem Wäschewaschen vorbehalten. Außerdem musste man genügend Geld haben, um sich ein Taxi leisten zu können, um in der Stadt von A nach B zu gelangen, ideal war ein Wagen samt Chauffeur, wegen des Parkplatzproblems. Kurzum, wenn man in New York gut leben wollte, müsse man reich sein. Wobei es in ihrem Fall darum gehe, wieder reich zu werden, denn in ihren Augen war das Schicksal es ihr schuldig, ihr das zu ersetzen, was ihr gestohlen worden war.
Als Jacqueline nach ein paar Wochen die Gelegenheit hatte, Felicitas Zimmer zu vermieten, war für sie der Moment der Rückkehr gekommen.
Weil es Gregorio wieder besser ging, konnte Felicita beruhigt abreisen. Er hatte immer noch nicht bemerkt, dass sie eine Perücke trug, und ihr sogar ein Kompliment wegen der neuen Frisur gemacht.
Er konnte seine Mutter nun beruhigt ziehen lassen, weil gleich im Anschluss Gregorios alte Schulfreundin Dora auf Besuch kommen wollte, nachdem sie von seiner Krise gehört hatte. Ihr Verlobter meinte, auf jemanden wie Gregorio müsse er bestimmt nicht eifersüchtig sein.