Felicita war es schließlich gelungen, ihren Sohn zu überreden, endlich mal wieder aus dem Haus zu gehen. An ihrem letzten Tag in New York fuhren sie nach Ellis Island. Diese Insel verkörperte das, was Amerika ausmachte, und das wollten sie begreifen.
Bei Morgengrauen brachen sie in Harlem auf. Um rechtzeitig am Anleger zu sein, rannten sie das letzte Stück. Am Ende der Straße ragten die vertikalen Balken der Wolkenkratzer kerzengerade in den Himmel und sahen aus wie Federstriche. Sie nahmen die erste Fähre nach Ellis Island, das sich vor ihnen aus dem violetten Nebel herausschälte. Begleitet vom Flug der Vögel, näherten sie sich der Freiheitsstatue und legten an. Auf Anhieb war da dieses Gefühl des Wiedererkennens. Das hier war Amerika, und Felicita begann zu weinen.
»Du weinst sonst nie«, sagte Gregorio. »Warum ausgerechnet jetzt?«
»Ich weiß auch nicht.«
Aber sie wusste es sehr wohl. Sie war in Tränen ausgebrochen, weil plötzlich alle möglichen Bilder auf sie einstürmten. Esters Nähmaschine und ihr eigenes, unnützes Brautkleid, die vergilbten Hochzeitseinladungen, die die Hochzeit von Felicita und Sisternes ankündigten, die lebensrettenden Reisedokumente von Judiths Urgroßeltern, die vor Hitler geflohen waren, und der Visumsstempel in Gregorios Reisepass, die Große Jazzenzyklopädie ihres Vaters, das Klavier in ihrer Wohnung im Hafenviertel von Cagliari.
Doch sie fing sich bald wieder. In New York gab es wie in Genua und Cagliari das Meer, einen Hafen und Schiffe, und hier wie dort ließ es sich leicht träumen. Und vielleicht dachte Ester ja gar nicht mehr an das Brautkleid und die Hochzeitseinladungen. Jetzt träumte sie davon, dass ihr Enkel berühmt wurde. Und vielleicht würde sich Gregorio ja in eine andere Sängerin verlieben, eine mit braunen Augen und braunen Haaren. Eine, die genau wie Gregorio nach New York gekommen war, weil es das gelobte Land für alle Jazzmusiker auf der ganzen Welt war. Vielleicht auch sie eine Jüdin, aber eine, deren Familie nach Australien emigriert war, in das Land, wo man sie nach dem Zweiten Weltkrieg willkommen geheißen hatte und wo niemand sie hasste.
Als Felicita am nächsten Tag mit dem Taxi zum Flughafen fuhr, sah sie im Wagenfenster New York an sich vorbeiziehen, schön die in Herbstfarben gestrichenen Gebäude mit den Eingangstreppen und eleganten Geländern, den Feuertreppen, die sich an den Fassaden emporrankten, und die alten Wolkenkratzer aus einer vergangenen Zukunft.
So viele verschiedene Leute aus verschiedenen Ländern waren hier gelandet, aus unterschiedlichen Motiven, unzählige Weiße, Schwarze, Gelbe, Rote, alle auf der Suche nach der perfekten Welt. Sie hatten New York gefunden und waren dortgeblieben, hatten beschlossen, hier ihre strapaziöse Reise zu beenden. Und in weniger als drei Jahrhunderten hatten sie ein wahres Meisterwerk erschaffen, dachte Felicita, während sie aus dem Fenster blickte.