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Felicita sah ihn schon von Weitem, ganz allein am Meeresrand, im vom Schirokko verwirbelten Nebel, der das Kreischen der Vögel am Himmel schaurig klingen ließ, der Strand ein einziger Algenteppich. Ja, er war es, der Mann, der eingemummt in eine Kapuzenjacke, die Hände in den Taschen vergraben, am Wassersaum entlangspazierte.

Als er sie erblickte, ging er ihr entgegen. »Ah, da sind Sie ja wieder!«

»Ich hätte Sie gern angerufen, hatte Ihre Telefonnummer aber nicht, ich weiß ja nicht einmal, wie Sie heißen.«

»Gabriele.«

»Das ist ja der Name eines Engels.«

»Damit kenne ich mich nicht aus. Ich bin trotz des Wetters zum Strand gekommen, weil ich hoffte, Sie hier zu treffen.«

»Und hier bin ich, bin gestern erst zurückgekehrt.«

»Aus dem Krankenhaus?«

»Nein, aus New York.«

»Ah, haben Sie Ihren Sohn besucht?«

»Ja. Er hatte Kummer, und wir mussten dringend miteinander reden.«

»Und, hat das Reden mit Ihnen etwas genützt, und geht es ihm jetzt besser?«

»Ja. Ja, es geht ihm besser.«

»Und darf ich fragen, was für ein Kummer es war?«

»Wegen einer Frau.«

»Ach so, also nichts Schlimmes. Dann waren Sie in New York, soso. Ich war noch nie dort.« Er eilte ihr voraus, am Wasser entlang. »Und, hat es Ihnen gefallen?«

»Sehr.« Sie hatte Mühe, bei seinem Tempo mitzuhalten, und musste fast schreien, um das Rauschen der Brandung zu übertönen. »Eine Stadt, die die Zukunft bereits hinter sich hat und wo die Wolkenkratzer alt sind. Sie kam mir recht merkwürdig vor.«

»Sie sind wohl keine großen Städte gewöhnt, nicht wahr?«

»Es hat nichts damit zu tun, dass es eine Großstadt ist. Ich versuche es Ihnen zu erklären. Einmal habe ich auf der Straße eine Dame gesehen, die auf den ersten Blick klassisch elegant wirkte, mit Perlenkette und Perlenohrringen, Schuhen und einer Handtasche von Chanel. Sie trug eine bis oben zugeknöpfte Bluse und ein Kostüm, nur dass vom Kostüm etwas fehlte, nämlich der Rock. Oder Menschen, die mit aufgespannten Schirmen durch die Straßen gingen, nachts und ohne Regen, wieder andere haben an einer Ampel Gymnastikübungen gemacht. Einmal habe ich eine Gruppe Menschen in Abendkleidung aus einer Limousine steigen sehen, die Frauen in paillettenbesetzten Kleidern und die Männer mit Krawatten. Und wer stieg als Letzter aus? Ein Mann, der wie ein Bergsteiger angezogen war. Wieso war er mit dieser Abendgesellschaft zusammen, und was sucht ein Bergsteiger oder jemand, der wie ein Bergsteiger angezogen ist, in New York? Gregorio hat mir erzählt, dass an Ostern ganz vornehme Leute mit Hüten voller Eiern, Hühnern und Küken durch die Straßen ziehen, als wäre es das Natürlichste auf der Welt, und an Weihnachten in Mützen mit blinkenden Lichtern.«

»Ob ich von Ihnen auch noch etwas Normales über New York erfahren werde?«

Endlich hielt er inne und sah sie amüsiert an. Dann legte er ihr einen Arm um die Schultern, nahm ihn sogleich wieder herunter, passte jetzt aber seinen Schritt ihrem langsameren Gang an und rannte nicht mehr voraus wie zuvor.

»Das ist längst nicht alles. Zum Beispiel habe ich alte Damen mit langen Zöpfen gesehen, und es waren nicht etwa Indianerinnen. Und, nicht zu vergessen, die Frau, die mit lauter Pelzschmuck behangen war und rosa Flipflops trug. Aber der seltsamste Anblick war die Katzenfrau.«

»Katzenfrau?«

»Schuhe und Tasche im Leopardenmuster, Tigermantel, um den Hals ein Luchsfell, die Bluse aus Jaguarfell. Aber als ich meinem Sohn von diesen Menschen erzählt habe, fand er es kein bisschen eigenartig.«

»Kann es sein, dass er etwas zerstreut ist?«

»Und wie. Er hat nicht einmal gemerkt, dass ich eine Perücke trug, sondern hat gemeint, meine neue Frisur steht mir wirklich gut. Er fand sie sehr modern. Und so musste ich ihm nicht sagen, dass ich Krebs habe. Aber ich möchte Ihnen noch eine andere Geschichte erzählen: In unserem Viertel, in der Marina, sind die Häuser nicht mehr als zwei, drei Stockwerke hoch. Einmal stand ich am Fenster, als Gregorio nach Hause kam. Plötzlich sehe ich einen Mann aus dem Fenster gegenüber springen. Ich habe einen Mordsschreck gekriegt, schließlich hätte er sich die Beine brechen können. Aber stattdessen ist er einfach aufgestanden und weggelaufen. Dann habe ich im selben Fenster, aus dem er gesprungen ist, unsere Nachbarin von gegenüber gesehen, und die hat sich tausendmal für den Schrecken entschuldigt, den der Mann uns eingejagt hat: Tut mir leid! Also so was! Da hat mein Sohn zu ihr hochgeschaut und gemeint: Signora, so was kann doch jedem von uns passieren. Als er hereinkam, hab ich ihn gefragt: Und du findest es wirklich normal, dass man aus dem Fenster springt, statt die Tür zu benutzen? Darauf er: Nein, aber ich wollte nicht, dass es ihr peinlich ist.«

»Können Sie mir denn gar nichts Normales erzählen, was Sie in Amerika erlebt haben?«

»Eine schöne oder eine schreckliche normale Geschichte?«

»Eine schöne bitte.«

»Die Visastempel in den Reisepässen. Stellen Sie sich all diese armen oder verfolgten Menschen vor, die einen Visumsstempel in ihren Pässen erhalten haben, um in Amerika einzureisen. Und was für sie Ellis Island gewesen sein muss, die Freiheitsstatue. Deswegen sind für mich all diese Visastempel die schönste normale Sache an Amerika.«

Der Mann vom Poetto-Strand, von nun an Gabriele, meinte, dass Amerika inzwischen nichts mehr zähle; die Vereinigten Staaten hätten, egal bei welchen Problemen auf der Welt, nichts mehr zu melden. Im Übrigen gingen ihm die Amerikaner schon seit Längerem gewaltig gegen den Strich, sie würden Unmengen von Öl verbrauchen und immer wieder Kriege anzetteln. Ein dermaßen bequemes, verhätscheltes Volk, das weder ein bisschen Wärme noch Kälte ertrug noch bereit war, selbst die kürzeste Strecke zu Fuß zu gehen. Jeden Meter legten sie mit ihren riesigen Schlitten zurück und verbrauchten beim Duschen literweise heißes Wasser.

Und jetzt gehe ihnen allmählich das Öl aus, und die arabischen Länder, die noch welches hätten, würden sich darauf vorbereiten, alle auszulöschen, die ihre Lebensart nicht teilten. Und zwar mit den Waffen, die wir ihnen verkauft hatten.

Als Erstes würde Israel verschwinden, in Anbetracht der Tatsache, dass es von Arabern umzingelt sei. Andererseits, wenn man bedenke, wie sich Israel gegenüber den Palästinensern verhalte …

»Dabei könnten sie doch einfach in einem einzigen Staat zusammenleben, die Araber und Israelis«, sagte Felicita seufzend.

»Warum sagen Sie es ihnen nicht?«

»Auf welcher Seite sind Sie – auf der der Israelis oder der Palästinenser?«

»Auf gar keiner. Im Übrigen werden die Palästinenser ebenfalls verschwinden, und zwar nicht wegen der Israelis, sondern wegen ihresgleichen, nämlich der Araber.«

»Oh, ich bitte Sie, sagen Sie doch bitte nicht solche Sachen. Was wird denn dann aus meinem Sohn? Meinen Sie, er wird weiter Musik machen können?«

»Nein, die Fundamentalisten dulden nur religiöse Gesänge.«

»Mein Sohn ist wirklich ein großartiger Musiker, er könnte etwas komponieren, zum Beispiel religiöse Gesänge verjazzen, das heißt, sie regelrecht auf den Kopf stellen. Die Jazzkomponisten tun das am laufenden Band, sie stellen bestimmte Musikrichtungen einfach auf den Kopf.«

»Und die Muslime werden bestimmt begeistert sein von ihren auf den Kopf gestellten Gesängen. Wie auch immer, wenn es nicht die muslimischen Fundamentalisten sind, die die Welt unterwerfen, dann sind es eben die Chinesen.«

»Und mögen die Jazz?«

»Wollen Sie darauf wirklich eine Antwort?«

»Aber natürlich. Es wird doch noch ein Volk geben, das Musik liebt und den Irrglauben ablegt, dass man nur ohne Mitgefühl überleben kann. Die Menschen müssten einfach wieder mehr nach dem Evangelium leben. Das ist eine hervorragende Übung. Ich bin unwichtig, aber dieses Motto hatte auch Gandhi, der zu Lord Irwin sagte: Wenn sich Ihr Land und meins endlich über die Botschaft der Bergpredigt verständigen würden, dann wären nicht nur die Probleme unserer Länder, sondern auch die Probleme der ganzen Welt gelöst.«

»Und die Botschaft der Bergpredigt lautet, wenn du geschlagen wirst, halt auch noch die andere Wange hin?«

»Nicht ganz. In der Bergpredigt geht es um die Seligpreisung der Armen, denn ihnen gehört das Himmelreich. Auch noch die andere Wange hinzuhalten ist eine andere Botschaft, steht aber im Einklang mit dem ganzen Evangelium.«

»Also sollten wir Christen die andere Wange hinhalten, während die anderen uns kaltmachen?«

»Die gute Tat ist nicht der schlechten gleich zusetzen. Weise (die Übeltat) mit etwas zurück, was besser ist (als sie), und gleich wird derjenige, mit dem du (bis dahin) verfeindet warst, wie ein warmer Freund (zu dir) sein.«

»Kennen Sie den Koran etwa auswendig?«

»Fast. Das Evangelium auch. Meine muslimischen Freundinnen aus meinem Viertel und ich unterhalten uns oft über Religion. Und sie haben mir zu Weihnachten einen Koran geschenkt.«

»Wenn ich Sie richtig verstehe, ist Ihnen Hass fremd. Man hasst nur jemanden, den man nicht kennt, also müsste man einfach nur miteinander reden … Aber wie bringen Sie das Evangelium mit ihren kommunistischen Überzeugungen in Einklang?«

»Das ist zurzeit noch nicht möglich. Leider. Irgendwann ist mir klar geworden, dass ich völlig allein dastehe mit meinen Ansichten darüber, was der Kommunismus sein sollte, daher bin ich aus der Partei ausgetreten. In meiner Jugend war der Kampf der Kulturen zwischen den westlichen Demokratien und dem Kommunismus vorherrschend. Heute ist es der zwischen dem Westen und dem Islamismus. Und es gibt keinen Ausweg.«

»Ja, sieht ganz so aus, aber das wird man erst nach der Katastrophe wissen, die übrigens bereits in vollem Gang ist. Der Großteil der Menschen möchte den Tatsachen nicht ins Auge sehen. Sie halten verbissen an einer Welt fest, die so nicht weiterbestehen kann. Zum Beispiel die Industrie. Was macht es für einen Sinn, Industriezweige zu erhalten, die die Umwelt verschmutzen? Wegen der Arbeitsplätze? Und die Folgen? Was ist mit dem Klima? Nicht mehr lange, und wir werden auch in den heimischen Breitengraden, die bislang klimatisch ein Paradies waren, Starkregen, Unwetter, Wirbelstürme und Überschwemmungen erleben. Epidemien werden sich ausbreiten. Wir stecken doch schon bis zum Hals in der Katastrophe. Aber lassen Sie uns lieber über etwas anderes reden … Erzählen Sie mir von Ihrem Sohn. Ist er ein erfolgreicher Musiker?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Felicita. »Wir haben nicht darüber gesprochen. Über den Erfolg. Nun, viel Erfolg kann er nicht haben. Er wohnt an der Grenze zwischen Harlem und der Bronx, in einer Mietskaserne mit lauter Bewohnern, die jeden Tag mit ihrer Ausweisung rechnen müssen. Und wenn ich nach Hause kam, wimmelte es vor dem Hauseingang so von Mäusen, dass ich die Augen zumachen musste und gebetet habe, dass sie mich nicht beißen. Aber dann habe ich mich mit dem Gedanken getröstet, dass sie in Anbetracht des Mülls, der sich überall türmt, allzu hungrig nicht sein können.«

»Was meinen Sie damit, dass die Leute mit ihrer Ausweisung rechnen müssen?«

»Na ja, die Bewohner des Hauses kommen alle aus dem Süden, Mexikaner und so. In den USA gibt es Millionen illegaler Einwohner, denen die Ausweisung droht. Lauter nette Menschen. Ich habe mich mit ihnen angefreundet … Aber jetzt erzählen Sie mir von sich. Ich habe Sie noch gar nicht gefragt, ob Sie Kinder haben.«

»Ja, einen Sohn, er ist längst erwachsen, verheiratet und hat eine Tochter.«

»Wie schön! Mein Sohn ist seit der Sache mit seiner Freundin sehr einsam. Und wohnt Ihr Sohn in Cagliari?«

»Ja, aber ich habe keinen Kontakt zu ihm. Ich will ihn gar nicht mehr sehen. Ich bin es leid, mir um ihn Sorgen zu machen. Ich möchte nichts mehr von ihm wissen. Und Sie? Machen Sie sich keine Sorgen wegen dieser verrückten Idee ihres Sohnes, sich als Musiker in New York seinen Lebensunterhalt zu verdienen? Haben Sie keine Angst, dass er auf ganzer Linie scheitern wird?«

»Nein. Ich mache mir überhaupt keine Sorgen wegen irgendeiner Art von Scheitern, weiß aber, dass manche darüber verzweifeln.«

»Darf ich fragen, was Sie arbeiten?«

»Ich bastle Neues aus weggeworfenen Dingen.«

»Was zum Beispiel?«

»Stiftehalter aus leeren Klopapierrollen, hübsche Schachteln aus Schuhkartons, Suppenschüsseln aus ehemaligen Eisbehältern. Aber auch hochwertigere Sachen wie Weihnachtsschmuck, Krippenfiguren aus Wachs, die aussehen wie aus Keramik, Tischdecken und Servietten, festlichen Tischschmuck, Papierblumen, Visitenkarten, Glückwunschkarten und viele andere Dinge mehr. Wie zum Beispiel Spielzeug aus Stoffresten. In Cagliari gibt es ein Geschäft, das unsere Sachen verkauft, und sie bestellen alles Mögliche bei mir, aber ich habe natürlich auch Privatkunden. Jetzt wissen Sie, was ich beruflich mache.«

»Sehr interessant. Eine originelle Art, seinen Lebensunterhalt zu verdienen.«

»Wollen Sie mich mal in meiner Werkstatt besuchen?«

»Sie haben eine Werkstatt?«

»Na ja, Werkstatt ist vielleicht übertrieben. Im Grunde ist es nur eine Ecke in meinem Schlafzimmer. Und ein Schlafzimmer ist es auch nicht wirklich, sondern nur die Hälfte von einem großen Zimmer, das durch eine Glastür von der anderen Hälfte getrennt ist.«

»Und, darf ich fragen – leben Sie allein?«

»Ganz allein. In der Liebe hatte ich kein Glück. Der Mann, den ich liebe, seit ich ein junges Mädchen war, der Vater meines Sohnes, hat meine Liebe nie erwidert.«

»Warum nicht?«

»Vielleicht weil … weil … vielleicht bin ich ihm zu dick. Eigentlich wäre ich ja schlank« – sie zeigte ihm ihre dünnen Handgelenke und Fesseln. »Aber meine von Natur aus schlanke Figur ist eben unter Speckfalten verschwunden …«

»Hat er das tatsächlich zu Ihnen gesagt: Ich liebe dich nicht, weil du mir zu dick bist?«

»O nein. Dafür ist er viel zu höflich. Er sagt einfach nur, dass er mich nicht lieben kann, aber nicht weiß, warum. Er hat sich wirklich bemüht, das hat er, aber es ist ihm einfach nicht gelungen.«

»Tut mir leid«, sagte er, weil er laut lachen musste, »aber Sie schildern diese im Grunde doch recht dramatischen Dinge auf sehr komische Weise. Es klingt fast so, als wäre die Liebe Ihres Lebens, Ihr ehemaliger Verlobter, nicht einfach unfähig zu lieben, sondern als würde er unter chronischer Verstopfung leiden …«