47

Sie saßen in Felicitas Küche, und Gabriele, ein Weinglas in der Hand, erzählte ihr, wie er sich von seinem allerersten Gehalt ein Stück Land außerhalb der Stadt gekauft hatte, wo er gut mit dem Bus hingelangen konnte, denn er besaß damals noch kein Auto.

Eine merkwürdige Entscheidung, aber er sei damals sehr weise und voller Tatendrang gewesen, habe das Gefühl gehabt, eine verheißungsvolle Zukunft liege vor ihm, und ein Stück Land sei ihm als eine gute Investition erschienen. Auf seinem winzigen Stück Land wuchsen ein Olivenbaum, ein Flecken mediterraner Macchia und ein paar Kaktusfeigensträucher.

Diese in grauer Vorzeit erworbene und seit Langem vergessene Parzelle sei ihm erst vor Kurzem wieder in den Sinn gekommen, nun, da er fast schon ein alter Mann sei, aber keineswegs weise, voller Tatendrang und hoffnungsvoll. Wie auch immer, vor einigen Wochen sei er wieder einmal hinausgefahren und habe das Stück Land tatsächlich wiedergefunden. Noch immer gebe es den Olivenbaum, die mediterrane Macchia und die Kaktusfeigensträucher. Er wisse nicht mehr genau warum, jedenfalls habe er in einem ungewohnten Anfall von Zuversicht angefangen, eine Holzhütte zu bauen, und ein paar landwirtschaftliche Geräte hineingestellt. Er habe sich gesagt, dass er, statt sinnlos zu altern, vielleicht hin und wieder dorthin hinausfahren könnte, um zu lesen, zu gärtnern und in der ein oder anderen sternenklaren Nacht auch dort zu schlafen.

Eines Tages, als die Nacht tatsächlich sternenklar zu werden versprach, sei er wieder einmal draußen geblieben, aber dann sei ein Sturm aufgekommen, der stärker und stärker geworden sei und schließlich alles zerstört habe.

Als er am nächsten Morgen fluchtartig weggefahren sei, dachte er, er würde dieses Stück Land wieder vergessen, denn es habe keinen Sinn mehr, voller Tatendrang und hoffnungsvoll zu sein. Aber nach wenigen Tagen sei er wieder hinausgefahren, den Wagen voller Gerätschaften, um die Hütte wiederaufzubauen. Und auf der Fahrt habe er wieder und wieder vor sich hingemurmelt, jede windige Nacht geht vorbei, jede windige Nacht geht vorbei.

Und das sei Felicitas Verdienst, die immer an den Strand gekommen sei und ihre merkwürdigen kleinen Mahlzeiten mitgebracht habe, mit denen sie Krebs und Übelkeit zu bekämpfen hoffte, auf dem Kopf immer einen ihrer Turbane, auf die sie so stolz sei. Felicita, die noch daran glaube, dass die Ressourcen der Allgemeinheit gehörten, und an die friedliche Lösung von Konflikten, kurzum an die Zukunft der Menschheit.

»Danke.« Felicita war sehr bewegt. »So was wärmt einem das Herz. Ich erzähle Ihnen jetzt eine ähnliche Geschichte, die ein Heiliger erlebt hat, aber ich verrate Ihnen nicht welcher, das müssen Sie selbst herausfinden. Der Heilige, damals noch ein Mönch, ging mit einem Mitbruder während eines Unwetters durch die Nacht, und es regnete und stürmte und war eiskalt. Und während sie in Richtung des Klosters wanderten, bat der Mitbruder den Mönch, ihm zu erklären, was wahre Heiterkeit sei, und nannte selbst ein paar Beispiele: vielleicht indem man die Geheimnisse der Schöpfung begreift, Sprachen beherrscht, andere bekehrt? Und der Mönch zählte noch viele weitere Dinge auf. Aber der Heilige schüttelte jedes Mal den Kopf und meinte, das ist nicht wahre Heiterkeit. Schließlich gab sein Mitbruder auf, und der Heilige erklärte ihm: Angenommen, wir beide kommen in einer stürmischen Nacht wie dieser endlich am Kloster an, ein Bruder öffnet die Tür und fragt, wer wir sind. Wir sagen es ihm, aber er hält uns für zwei Schurken, zwei Almosenräuber, und wir fürchten schon, dass er uns draußen bei Wind, eisigem Regen und Kälte stehen lässt. Doch wir beide pochen unermüdlich weiter an die Tür, die ganze Nacht lang, und hoffen darauf, dass er uns irgendwann wieder öffnet und endlich hereinlässt. Genau das ist wahre Heiterkeit. Und, haben Sie erraten, wer der Heilige ist?«

»Ich kenne mich mit Heiligen nicht aus, aber es kann niemand anders sein als Franz von Assisi, dieses frohe Gemüt!«

Nachdem sie ausgiebig gelacht hatten, schenkte sich Gabriele nochmals nach, um darauf anzustoßen: »Auf alle frohgemuten, positiv denkenden Menschen dieser Welt! Ihnen gebührt das Himmelreich! Erheben wir die Kelche!«

»Ich denke, Gläser tun es auch.«

»Im Grunde beneide ich Sie dafür, dass Sie sich so ruhig mit dem Weg, den Ihr Sohn eingeschlagen hat, abfinden können. Der einzige Sohn, der das Abenteuer eingegangen ist, sich als Musiker durchzuschlagen, und in der Bronx wohnt, in einer Straße, die vor Mäusen wimmelt. Es ist bestimmt nicht einfach, sich damit abzufinden. Meine Frau und ich haben es hingegen nicht akzeptieren können. Vor allem meine Frau nicht. Sie entsprach genau meinem Frauenideal, ich hatte Glück, sie zur Frau zu haben. Dieses Glück hat nicht jeder. Und unseren Sohn haben wir nach bestem Wissen und Gewissen erzogen. Meine Frau hat genau wie ich studiert, war sehr intelligent, hat drei Fremdsprachen gesprochen und beherrschte fünf weitere gut genug, um in diesen Sprachen zu lesen. Ich selbst habe zwei Universitätsabschlüsse und habe mich der Aufgabe verschrieben, als Pilot Menschen vor dem Feuer zu retten. Unser Sohn wollte dagegen nicht einmal die zehnte Klasse abschließen. Nachdem er ausgezogen war, sahen wir ihn eines Tages im Winter mit einem Werkzeugkasten in der Hand, der so schwer war, dass er ganz schief ging. Seine Wollmütze war ihm tief in die Stirn gerutscht. Er hatte sich in ein Mädchen verliebt, deren eine Gesichtshälfte verbrannt war. Sie stammte aus einer armen, verwahrlosten Familie, und weil wieder einmal niemand aufgepasst hatte, ergoss sich eines Tages ein Topf mit kochendem Wasser über das Mädchen.«

»Das arme Ding.«

»Ja, klar, das arme Ding. Aber musste ausgerechnet mein Sohn sich in dieses entstellte Mädchen verlieben? Meine Frau hat sich aus Verzweiflung und Wut das Leben genommen. Sie ist aus dem Fenster gesprungen. Ich weiß auch nicht, warum ich Ihnen all das erzähle. Normalerweise erzähle ich niemandem etwas.«

»Auch Ihre Frau kann einem leidtun. Wir alle können uns leidtun. Wir alle sind in der Tat bedauernswert. Wir kommen auf die Welt, als wäre sie perfekt, und dann …«

»Es gibt keine perfekte Welt.«

»Apropos Freundinnen. Mein Sohn hatte auch eine Freundin in New York, eine Sängerin. Ich habe auf seinem Computer ein Foto von ihr gesehen, ein bildhübsches Mädchen, mit rotem Haar und grünen Augen. Man weiß es zwar nicht genau, aber wir gehen davon aus, dass sie sich das Leben genommen hat, weil sie bei Rot die Straße überquert hat. Sie war sehr unglücklich, weil sich der Erfolg nicht einstellte und sie es nicht ertrug, dass ihre Familie, sehr reiche Juden, die vor Hitler aus Deutschland geflohen waren, um ihr Leben zu retten, deswegen auf ihren ganzen Besitz verzichten musste. Sie kamen fast völlig mittellos in New York an. Als mein Sohn von ihrem Tod erfuhr, drehte er durch. Er hat das Waschbecken in seiner Wohnung herausgerissen und den Bettrahmen zertrümmert. Dann ist er auf die Straße hinausgerannt und hat herumgebrüllt und mit den Fäusten gegen Schaufenster und Türen getrommelt. Zwei Polizisten sind ihm gefolgt, haben ihn an den Armen gepackt und in seine Wohnung zurückgebracht. Dort hat sich mein Sohn auf sein Bett mit dem kaputten Rahmen geworfen. Bis zu den Zähnen bewaffnet – haben Sie vor Augen, wie diese amerikanischen Polizisten aussehen? –, also, bewaffnet wie für einen Krieg, haben sie sich zwei Stühle herangezogen, sich neben Gregorios Bett gesetzt und sich von ihm erzählen lassen, warum er so ausgerastet ist. Sie haben bei ihm Wache gehalten, bis er eingeschlafen war, dann gingen sie leise hinaus. Dann haben sie an die Türen der Nachbarn geklopft, lauter Latinos ohne Aufenthaltsgenehmigung, und statt eine Razzia zu machen, haben sie sie gebeten, ein Auge auf den Jungen zu haben. Dann haben die Nachbarn, jeder hat einen Ersatzschlüssel von jedem, ihn ins Krankenhaus gebracht.«

»Ich muss schon sagen«, erwiderte Gabriele, »das ist in der Tat das Merkwürdigste, was ich je von Amerika gehört habe. Aber derlei Geschichten erlebt wirklich nur ihr beide, Mutter und Sohn – zwei bis an die Zähne bewaffnete Polizisten singen einen Typ in den Schlaf, der Fensterscheiben zertrümmert hat, ein Irrer wird rot vor Scham und zieht die heruntergelassene Hose wieder hoch, und eure Feinde verzichten auf weitere Gewalt, weil ihr ihnen auch noch die andere Backe hinhaltet … Immer wieder werden ganz normale Leute in Amerika von Polizisten wegen Bagatellen abgeknallt, unzählige Frauen vergewaltigt, und Feinde nutzen hingehaltene Wangen meist skrupellos zum Draufhauen.«

»Ich finde, Sie sollten Ihre Enkelin kennenlernen. Bestimmt ist sie sehr hübsch. Und wenn nicht, auch gut. Stülpen Sie Ihr Leben um wie einen Handschuh. Bei allem Respekt, aber trotz Ihrer beiden Universitätsabschlüsse erkennen Sie nicht, dass Ihr Sohn das wahre Genie ist, der Mensch der Zukunft, dem die äußere Hülle der Leute egal ist und für den eine einfache Arbeit genauso viel Wert ist wie eine angesehene. Wie viel innere Größe braucht es, um sich in eine Frau mit einer entstellten Gesichtshälfte zu verlieben? Ihr Sohn ist tatsächlich im gelobten Land angekommen. Wie auch immer, Sie können mich jederzeit wieder besuchen, jetzt wissen Sie ja, wo ich wohne, und berichten Sie mir doch bitte von Ihrer Enkelin. Nun schauen Sie nicht so, so klingen nun mal Ratschläge von einer Frau mit einem frohen Gemüt. Stimmt’s?«

»Und ob. Und wenn ich mich in eine nicht mehr ganz junge, pummelige Frau ohne Haare, aber mit viel Herz verlieben müsste, könnte mir das ganz bestimmt nur bei Ihnen passieren.«

»Ich fühle mich geschmeichelt.«