An ihrem Hochzeitstag hatte Ester weder Kopfschmerzen, noch fürchtete sie, in Ohnmacht zu fallen, ja selbst der gewohnte Hautausschlag war weg. Sie war rundum zufrieden.
Den Gästen, die auf den Bänken längs des Laubengangs saßen, servierte sie hausgemachte Süßigkeiten und alle möglichen Liköre. Ihr Brautkleid war grau mit zwei großen schwarzen, samtüberzogenen Knöpfen, zum Zeichen der Trauer um Felice und um Raffaeles Mutter, die nicht mehr ihre Schwiegermutter geworden war. Aber obwohl sie das Grau und Schwarz der Halbtrauer trug, fühlte sie sich wohl und sah elegant aus.
Bei den Haaren hatte sie allerdings noch im allerletzten Augenblick Hand anlegen müssen, um zu retten, was noch zu retten war. Denn tags zuvor war sie zu einem richtigen Friseur in Cagliari gegangen, der ihr eine Dauerwelle gemacht hatte, und war, zufrieden über ihre Verwandlung in eine moderne junge Frau, mit kurzen, lockigen Haaren nach Hause gekommen.
Eine der Schwestern öffnete ihr die Tür. Ihr Gesichtsausdruck wollte die angehende Braut noch warnen, aber kaum hatte diese den Fuß über die Schwelle gesetzt, als ihre Mutter, die sich nach wie vor weder mit den neumodischen Frisuren noch mit diesem Hungerleider Raffaele abfinden wollte, ihr einen Eimer kaltes Wasser ins Gesicht schüttete.
Nach dem Fest folgte fast das ganze Dorf den frisch Vermählten zum Bahnhof. Aber als sich der Zug in Bewegung setzte, trat Ester nicht ans Fenster, um diesen Menschen, die bis zu jenem Moment ihr Leben ausgemacht hatten, zum Abschied zuzuwinken, und als das Schiff in Porto Torres auslief, sah sie nicht zu, wie ihre Insel im Meer versank, noch nahm sie die Zugvögel wahr, die in die entgegengesetzte Richtung, in ihr gelobtes Land, nach Süden flogen.
Die Schiffsreise interessierte sie nicht. Es interessierte sie einzig, wegzugehen und alles zu vergessen, die Lebenden, die Toten, das Dorf, ihr Elternhaus. Den schlimmsten Teil ihres Lebens hatte sie hinter sich. Auf dem Festland würde Raffaele wieder der Junge von vor dem Krieg sein. Ihr Kopfweh und die Schlaflosigkeit würden verschwinden. Endlich würde sie in einem gesunden, lichten Haus leben, mit einem Fenster in jedem Zimmer, und im Winter zur Toilette gehen können, ohne sich den Mantel überziehen und den Hof überqueren zu müssen. In derlei Gedanken vertieft, schenkte sie ihrem Mann, als er in ihre Kabine herunterkam, ein dankbares Lächeln, das in ihrem Gesicht ungewohnt wirkte.
Kaum begann der Morgen heraufzudämmern, war Raffaele auf dem Deck. Er sah das Festland aus dem Wasser auftauchen, zuerst nicht mehr als ein Streifen Erde, weit entfernt im rosa Nebel, dann Genua. Lange hatte er gedacht, ein gelobtes Land sei ein Ort, wo man zu einem ganz anderen Menschen wird. Jedenfalls war es so gewesen, als sie, seine neue Liebe, sein neues Leben, auf der Bank gesessen und auf ihn gewartet hatte.
Aber als er jetzt mit Ester, seiner Frau, ankam, erschien ihm seine Vorstellung von einem gelobten Land mit einem Mal zweifelhaft. Mit ihr auf dem Festland einzutreffen bedeutete, alles, was ihn ausmachte, mit sich zu schleppen, das Dorf und die Armut. Und das, was fehlte, würde nun ein für alle Mal in seinem Leben fehlen.
Genua jedoch war wunderschön. Windig, hoch aufragend, lang gestreckt, schmal, mit einem weichen Bleistift gezeichnet. Für den Rest seines Lebens würde die Stadt Sinnbild seiner Reue, aber auch seiner Sehnsucht sein. So sah also ein erträumtes Land aus, dachte er.
Ester war von Anfang an in Genua tief unglücklich. Die dunkle Sackgasse, in der sie wohnen würden, erschien ihr wie ein unheilvoller Knotenpunkt von engen, verschlungenen und verrufenen Gassen. Ein Haus, in dem lauter Abgehängte wohnten, und man musste zig Stufen hinaufsteigen, nur um auf einem dunklen Flur anzukommen, wo die bösen Nachbarn auf sie warteten, mit denen sie die Wohnung würde teilen müssen.
Raffaele öffnete die Fenster, damit sie die Meeresluft riechen und das Tuten der Schiffe hören konnte. Er wollte, dass sie auf den engen Innenhof mit den Dächern hinausblickte, die für ihn schieferfarbig, für sie hingegen grau waren. Wenn sie nach oben sah, war ein winziges Quadrat des türkisen Himmels zu erkennen. Wenn sie hinabsah, wurde ihr schwindelig.
Ihr Mann, der ihr alles voller Stolz zeigte, sah nichts von dem, was sie sah. Für ein Bett, eine Kommode, einen Schrank, zwei Nachtkästchen und zwei zierliche Sessel hatte er seine ganzen Ersparnisse der letzten zehn Jahre seit Kriegsende ausgegeben. Jetzt besaß er keine einzige Lira mehr.
»Wir haben gerade mal ein Bett, in dem wir schlafen können. Und mit was sollen wir essen? Wie hast du bisher immer gegessen?«, fragte Ester den Tränen nahe.
»Morgen kaufen wir uns Teller.«
»Von meinem Verdienst mit den Näharbeiten ist so gut wie nichts übrig geblieben. Ich habe fast alles für die Hochzeit, neue Anziehsachen und die Reise ausgegeben.«
»Ach, wir kaufen einfach nur zwei Stück von allem. Zwei Teller, zwei Gläser, zweimal Besteck.«
»Aber wo bringen wir die Sachen unter? Wir haben ja nicht mal eine Anrichte!«
Sie ließ sich aufs Ehebett fallen und fragte sich, wie in aller Welt sie an einem solchen Ort hatte landen können.
Am selben Tag wie Ester hatte auch Dolores, jetzt Donna Dolores, die einzige Tochter der Sisternes, geheiratet. Nachdem die Eltern gestorben waren, war sie allein in dem großen Haus zurückgeblieben. Aber ihre Hochzeit fand in Cagliari statt, sodass man im Dorf nichts über die Trauung, die anschließende Feier, die geladenen Gäste und die Hochzeitsreise erfuhr. Esters Schwestern schrieben ihr, dass Donna Dolores nicht nur mit ihrem frischgebackenen Ehemann, sondern auch mit zwei neuen Hausangestellten ins Dorf zurückgekommen sei. Auch sie wirkten vornehm und städtisch, seien äußerst zurückhaltend und beschränkten sich darauf, die Dorfbewohner zu grüßen, darauf bedacht, auch ja kein Wort zu viel zu sagen.