Die Wohnung in Mailand war zwar klein, aber sie hatten sie für sich allein. Zwei immer tadellos saubere Zimmer gingen auf einen Flur hinaus, an dessen Ende ein schwarzes Bakelittelefon stand. Dort fanden, zur jeweils im Vormonat verabredeten Uhrzeit, die Telefonate mit den Verwandten in Sardinien statt, die sich dazu in der Bar versammelten. Jeder von ihnen wollte die drei auf dem Festland grüßen und umgekehrt: »Jetzt will Raffaele euch Hallo sagen.« Und das tat er dann der Reihe nach. »Jetzt will die Kleine kurz mit euch sprechen.« »Ich gebe euch wieder Ester.«
Doch nach jedem Telefonat brach Ester regelmäßig in Tränen aus, lief ins Schlafzimmer und warf sich aufs Bett. Dort blieb sie eine geraume Weile liegen, um an die Decke zu starren und von ihrer Heimat zu träumen.
Auf der einen Seite des Flurs lag das besagte Schlafzimmer mit der Einrichtung, die Raffaele die Ersparnisse von mehr als zehn Jahren gekostet hatte. Die Möbel waren aus hellem Kastanienholz mit goldener Maserung. Die Farben erinnerten an jene von Blättern an manchen Sonnentagen im Herbst. Einen Frisiertisch gab es nicht, dafür aber ein Möbelstück, das sie zuvor nicht gekannt hatte, eine kleine Kommode mit einem Klappsekretär darauf, der ein Sortiment winziger Schubladen enthielt.
Gegen dieses Schlafzimmer hegte Ester vom ersten Moment an eine Abneigung, und schuld daran war Raffaele, der sein ganzes Geld für diese Möbel ausgegeben hatte, wo sie weder Geschirr noch eine Anrichte besaßen, um es darin zu verstauen.
Aber jetzt hatten sie eine richtige Küche. Sie war lang und schmal mit einem Unterschrank und raumsparenden Hängeschränken. So war Platz für einen Tisch, einen Herd, Kühlschrank und Spüle. Aber um das Geschirr aus den Hängeschränken zu holen, musste man sich ganz schön verrenken, und natürlich wäre eine große, quadratische Küche besser gewesen, mit Bodenschränken, aus denen man in null Komma nichts die Sachen rausholen konnte, die man gerade brauchte.
Auf derselben Seite des Flurs lag neben der Küche ein kleines Esszimmer mit einem ovalen Tisch mit Glasplatte, vier Stühlen und einer Anrichte, die aber keine war, sondern Felicitas Bett verbarg.
Erst viel später wurde ein Teil des Esszimmers in ein Wohnzimmer umgewandelt. Die Einrichtung bestand aus zwei leichten Sesseln mit Eisenfüßen; sie waren neu mit einem roten Bouclé, den alle nur »Teddystoff« nannten, überzogen worden. Zwischen den Sesseln stand ein kleiner Tisch mit schmiedeeisernem Fuß, eigentlich ein Zeitungsständer, und einer Teakplatte. Darauf befand sich ein Kristallaschenbecher, der jedoch zu schön war, um die Asche darin abzuschlagen. Und auch die beiden Sessel waren zu schön, weswegen Ester einen herrlichen Blumendamast darübergeworfen hatte, damit die Bouclékringel nicht schmutzig oder zu sehr geplättet wurden. Aber auch die Sesselschoner waren im Grunde zu schön, daher kamen über den Damast, unter dem sich der Teddystoff verbarg, zu guter Letzt noch zwei alte löchrige Laken. Da der Aschenbecher für Raffaele, der am liebsten Nazionali ohne Filter rauchte, unverzichtbar war, wurde er durch einen angeschlagenen Obstteller ersetzt.
Nur bei Gästen hätte sich die Schönheit der Möbel entfalten dürfen.
Aber es kamen immer nur arme sardische Migranten, die in Mailand Arbeit suchten, zu Besuch. Für sie wurden Matratzen und Decken auf den Boden gelegt, und Ester bedeckte die Teddystoffsessel mit weiteren Tüchern, damit sie nicht den Geruch des Pecorinos annahmen, den diese armen Sarden mitbrachten, um sich für die Gastfreundschaft zu revanchieren, bis sie eine Stelle gefunden hatten.
Irgendwann gesellte sich noch ein Fernseher zur Einrichtung, sodass das Wohnzimmer öfter benutzt wurde, allerdings gut gegen Abnutzung geschützt und immer nur zu speziellen Gelegenheiten – in Felicitas Fall nur zu den Sendezeiten der einschlägigen Kindersendungen wie TV dei ragazzi, Carosello und samstags Canzonissima, und was die Eltern betraf, nur zu den Abendnachrichten.
Ausnahmsweise durfte man das Wohnzimmer auch betreten, um Schallplatten zu hören. Sobald Raffaele ein bisschen mehr verdiente, kaufte er einen Plattenspieler, und auch gegen diesen Plattenspieler hegte Ester eine Abneigung, zum einen weil es viele andere Dinge gab, die sie dringender benötigt hätten, und zum anderen weil ihr Mann wegen seiner fixen Idee, auf diesen Platten seinen schwarzen amerikanischen Freund wiederzufinden, nur Jazz hörte.
War er vielleicht Lonnie Hillyer? Oder Jon Faddis? Aber waren die überhaupt im Krieg gewesen? Vielleicht war sein Freund von Haus aus ja gar nicht Trompeter, sondern hatte die Trompete nur mitgenommen, weil es unmöglich gewesen war, ein Klavier oder einen Kontrabass nach Europa mitzuschleppen. Oder aber er hatte die Trompete in einem verlassenen Haus gefunden, als die Alliierten nach ihrer Landung in der Normandie in Richtung Osten zogen. War er also womöglich Art Tatum oder Charles Mingus, oder Lloyd Reese, der jedes Instrument spielen konnte und ein Genie war? Ach, wenn es doch nur eine Jazz-Enzyklopädie gegeben hätte, er hätte sie sofort bestellt, auch auf die Gefahr hin, dass Ester wieder wütend geworden wäre.
Im Unterschied zu ihrer Mutter liebte Felicita den Plattenspieler. Ihr Vater hatte ihr eine Vinylplatte mit fünfundvierzig Umdrehungen pro Minute gekauft, jede Umdrehung die reinste Magie, mit kleinen Figuren und einem Kreisel mit lauter kleinen Spiegeln ähnlich einem Ufo, und wenn sich die Platte drehte, sah man die Figuren tanzen.
Da sie für ihr Leben gern Nudeln mit Pesto di Genova und Kalbskotelett alla milanese aß, war sie ziemlich mollig, um nicht zu sagen dick. Aber wenn sie gebannt diesen tanzenden Figuren zusah, vergaß sie sogar das Essen, zur großen Erleichterung ihrer Mama, der ein schlankes und anmutiges Töchterchen lieber gewesen wäre.