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Jo
D er Wind ist richtig schön kalt; er riecht schon nach Schnee. Ich wickele mir meinen signalbunten Schal um den Kopf und überquere die Parkway-Kreuzung, die soziale Scheide, die Schallgrenze zwischen dem schickeren Teil von Camden und dem ultraschicken Primrose Hill, der sich wie ein großkotziges Dorf mit Schlosscharakter hinter seinen Kanälen und Schienensträngen und natürlich dem riesigen Regent’s Park verschanzt.
Meine Hände umklammern den heißen Becher. Der Kaffee ist für unseren Obdachlosen, der in der Regel auf der anderen Seite der Delancey Street zwischen Pub und Gleisanlagen vor einem Mäuerchen sitzt. Ein großer, schwarzer Mittfünfziger mit traurig freundlichem Gesicht und strubbeligem Haar. Als ich hier neu war, hat Tabitha mir erzählt, dass er aus einer Unterkunft an der Arlington Road kommt und gern irgendwas mit Autos herumschreit. Ich mag Autos. Findest du Autos gut? Mercedes, das ist ein Schlitten! Autos!
Deshalb nennt sie ihn Autos. Er ist der Autos-Mann. Abgesehen davon ignoriert sie ihn. Ich dagegen habe während der vergangenen Wochen irgendwie mit ihm Bekanntschaft geschlossen. Eigentlich heißt er Paul, aber ich kann nicht anders, als ihn, wie Tabitha, Autos zu nennen. Manchmal, wenn es so kalt ist wie heute, bringe ich ihm einen heißen Tee oder eine Suppe, damit er sich aufwärmen kann, und er sagt, ich sei hübsch, ich müsste einen Ehemann haben, und dann dreht er sich um und brüllt los: Autos, Autos, Autos! , und ich lächle ihm zu und sage: Bis morgen , und gehe wieder rein.
Heute allerdings ist es sogar Paul zu kalt: Er hat aufgehört, Bentleys! zu schreien, und hockt zusammengekauert und still in einer Nische der Mauer zu den Gleisanlagen. Aber als er mich sieht, taucht er auf und lächelt gewohnt traurig.
»Hey, Jo! Hast du erraten, dass mir kalt ist? Woher hast du das gewusst?«
»Weil es nun mal eiskalt ist . Willst du nicht lieber in die Unterkunft gehen? Hier draußen holst du dir noch den Tod, Paul.«
»Ich bin das gewohnt.« Er zuckt die Achseln, streckt aber begierig die Hände nach dem Kaffee aus. »Und ich guck mir so gern die Autos an!«
Ich schüttele den Kopf, wir lächeln beide, und er sagt, dass er mir den Becher morgen zurückgibt. Wie immer. Oft vergisst er es, sodass ich schon ein paar neue gekauft habe. Das macht mir nichts aus.
Ein kurzes Winken zum Abschied, dann gehe ich weiter.
Ein Taxi schießt vorbei, eifrig glüht das orangefarbene Licht auf der Suche nach Kundschaft. Ob Uber das Londoner Taxigewerbe wohl schneller plattmacht als das Internet den bezahlten Journalismus?
Während ich darauf warte, dass die Ampel umspringt, jogge ich auf der Stelle, um warm zu bleiben. Die Route ist klar, ich kenne den Weg. Ich gehe ihn fast jeden Abend. Die Regent’s Park Road entlang, den Hügel hinauf, auf der Hauptstraße durchs Dorf Primrose Hill, dann folge ich dem Bogen der Gloucester Avenue, und dann geht’s nach Hause. Dafür brauche ich ungefähr eine Dreiviertelstunde. Ich frage mich, ob die Leute mich aufgrund der Regelmäßigkeit meines Erscheinens inzwischen kennen.
Beim Überqueren der Straße kommt mir eine Idee: Ich werde Fitz anrufen. Den ich vor Jahren durch Tabitha kennengelernt habe. Genau. Den schlanken, dunkelgrau gesprenkelten, charmanten, schlauen, zynisch-abgedrehten Fitz. Wir könnten was trinken gehen. Mit einem Uber in eine der Schwulenbars von Soho fahren, wo er normalerweise anzutreffen ist; ich mag es total, wenn die Leute dort plötzlich alle ihr Glas wegstellen und aus voller Kehle den Refrain von Can’t Take My Eyes Off You von Andy Williams mitsingen.
I love you, baaaby …
Auf Höhe der pastellfarbenen Häuser rund um die St Mark’s Church fische ich mein Handy aus der Tasche und wähle mit klammem Finger.
Mailbox.
»Hi, hier ist Fitz, du hast Pech, mein Schatz. Morgen erzähl ich dir alles
Seine übliche Mailbox-Ansage. Extradick aufgetragen. Ich lache leise in den feuchtkalten Wollschal und scrolle durch meine Kontakte. Wen könnte ich noch anrufen? Mit wem könnte ich was trinken gehen? Tabitha ist in Brasilien. Carl ist wegen der Arbeit nicht in London. Alle anderen … Wo sind alle anderen?
Sonst wo, da sind alle anderen. Das wird mir mit jedem Mal, da ich meine Kontakte-App öffne, schmerzlicher bewusst. Meine Trinkkumpane, meine Peergroup, meine Bierfreunde, meine Schwestern, die Horde Freunde von der Uni: Sie sind in alle Winde verstreut. Aber erst seit meiner Scheidung dämmert mir, wie viele von meinen Freunden weg sind, das heißt: verheiratet, immer noch verheiratet, Kinder bekommen, aus London rausgezogen in ein Haus mit Garten. Genau das macht man natürlich. Mit über dreißig in London zu leben und Kinder zu haben ist im Grunde unmöglich, es ist wie ein Himalaja-Aufstieg ohne Extrasauerstoff.
Ich bin eine der Letzten. Der letzte Soldat an der Front. Während ich die Albert Terrace überquere und die ersten Schritte den Primrose Hill hinaufmache, stoppt mein Finger bei J wie Jenny. Sie ist, von Simon abgesehen, vermutlich die Einzige, die mir von meinen Kindheitsfreunden geblieben ist. Sie war ständig mit bei mir, zum Spielen, zum Übernachten, dann ließen ihre Eltern sich scheiden, sie zog weg, und ich verlor sie aus den Augen, während Simon mit ihr in Verbindung blieb, weil sie in derselben Branche gelandet sind.
Jenny ist irgendwo in King’s Cross bei einer großen Hightechfirma angestellt. So sind wir wieder miteinander in Kontakt gekommen: als ich vor drei, vier Jahren an der großen Story schrieb, die mein Durchbruch werden sollte, über die Auswirkungen des Silicon Valley auf unser Leben.
Ich wusste, mit diesem Stück würde ich mir einen Namen machen, meine Redakteure beeindrucken und die Leiter ein paar Sprossen weiter nach oben klettern können, deshalb nutzte ich meine Kontakte (meinen Mann) schamlos aus, brachte einige besondere Quellen ernsthaft gegen mich auf (tut mir leid, Arlo), indem ich sie nannte, lernte aber auch ein paar spannende Leute kennen, von denen einige zu Freunden wurden. Und ich entdeckte eine alte Freundin wieder.
Sie meldet sich sofort. Jenny, du bist ein Schatz. Welch kostbarer Draht zur Vergangenheit, zu der Zeit, bevor alles den Bach runterging. Der Zeit, als mein Papa uns in Thornton Heath durchs Haus jagte, mit uns Verstecken spielte und uns begeistert-ängstliche Kreischer entlockte, indem er brüllte: Ich höööre euch! Und Jenny und ich uns kichernd unter dem Bett oder im dunklen Kleiderschrank aneinanderschmiegten.
Ach, die verlorene Kindheit.
»Hey Jo. Was gibt’s?«
»Ich langweile mich«, sage ich mit Nachdruck. »Ich langweile mich deeermaßen! Die ganze Zeit versuche ich, auf OkCupid ein Profil anzulegen, aber das zieht mich total runter, und da dachte ich, vielleicht willst du einen Liter Prosecco mit mir niedermachen.«
Sie lacht.
»Würde ich echt gern – aber bedaure.«
Ich höre das Ratschen ihres Feuerzeugs und dann, wie sie inhaliert. Im Hintergrund brummt Verkehr. Ist sie draußen?
»Wo bist du?«
»King’s Cross. Zigarettenpause. Aber ich muss wieder rein – ich bin auf dem Todesstern.«
»Aha?«
»Yep«, sagt sie und pustet den Rauch aus. »Arbeiten bis mindestens Mitternacht oder so.« Ich höre sie den nächsten Zug nehmen und ein paar Schritte gehen. »Mein Gott, ist das kalt.«
Jenny arbeitet extrem viel. Sie schreibt Programme und verdient wahrscheinlich einen Haufen Geld, aber darüber spricht sie nicht. Worüber sie am meisten spricht, ist Sex. Wie es scheint, ist Jenny meine offizielle Schlampenfreundin. Die Bezeichnung stammt nicht von mir, ich hätte so was nie gesagt. Sie selbst hat es gesagt, als wir in einer Bar nicht weit von ihrer Firma bei Muscheln und Chips unsere Freundschaft wiederaufleben ließen. Jede braucht, um sich besser zu fühlen, eine Freundin, die eine Schlampe ist, meinte sie; hast du eine Schlampenfreundin, eine, die noch promisker ist als du? Damals musste ich lachen, jetzt muss ich lachen, sie hat immer interessanten Klatsch auf Lager, und bei allem Hedonismus umweht sie ein Hauch von Traurigkeit, der sie umso unterhaltsamer macht und umso menschlicher.
Ich drücke mir das Telefon noch etwas fester ans Ohr, und Jenny fragt: »Wie geht’s mit dem Profil voran?«
»Ach, nicht so gut …«
Ich bleibe stehen, um nach Luft zu schnappen. Ich bin kurz vorm Gipfel des Primrose Hill, auf der letzten steilen Steigung, wo ich immer aus der Puste komme. Jenny versucht es noch mal.
»Nicht so gut? Was heißt das?«
»Das heißt, dass ich stundenlang davorgehockt und am Ende eingegeben habe, dass ich hetero bin, dreiunddreißig, eine Frau und auf der Suche nach Langzeit-, Kurzzeit-, One-Night-Sachen oder auch einem Quickie in einer Kneipentoilette. Was meinst du, komme ich da vielleicht ein bisschen verzweifelt rüber?«
»Ach was, nein. Bleib stark! Irgendwo muss es einen guten Mann geben. Ich bin schon welchen begegnet.«
»Also keine Chance auf einen Drink?«
»Heute nicht, Josephine. Ruf morgen noch mal an, vielleicht. Also, ich muss dieses öde Programm schreiben, bevor ich mich in eine Fledermaus verwandele. Viel Glück!«
Es klickt im Telefon. Ich bin oben auf dem Hügel angelangt. Ob es nun die glitzernde Skyline des eisigen London ist – von diesem Aussichtspunkt aus wunderbar zu sehen – oder die einfache Tatsache, dass ich Jennys freundliche Stimme gehört habe, jedenfalls ist meine Stimmung deutlich gestiegen. Ich fühle mich belebt. Die Traurigkeit ist verflogen.
Jenny hat recht. Ich muss mich aufraffen. Das schaffe ich. Es geht um ein Dating-Profil, ganz einfach. Und, ganz einfach, ich brauche ein Date.
Von hier an geht es nur noch bergab, und als ich auf der Regent’s Park Road bin, fängt es an zu schneien, und zwar ziemlich heftig. Mit langen Schritten haste ich an den großen weißen, leeren Häusern vorbei.
Manchmal kommt sie mir vor wie eine Geisterstadt, diese wohlhabende kleine Ecke von London. Straßenlaternen bescheinen pastellfarbene Fassaden, kahle Bäume recken die Äste wie Finger in den kalten orangeroten Himmel. Glatte neue Apartmentblocks stehen Monat um Monat leer. Fenster so schwarz und kalt wie Spiegel, die nichts reflektieren. Wo sind die Leute?
Nirgends. Hier ist niemand. Nur ich bin da. Und der Schnee.
Zehn Minuten später sitze ich am Laptop und starre wieder auf die OkCupid-Seite, versuche, mich als eine attraktive, besondere, sexy-aber-nicht-übertrieben-sexy, geistreiche-aber-nicht-eitle, facettenreiche, wahrhaftige, selbstbewusste-aber-nicht-dreiste Persönlichkeit darzustellen.
Okay, ich schätze, ich brauche einen Gin Tonic. Genau genommen brauche ich zwei starke G & Ts, die sind das Richtige; danach werde ich mutig und ehrlich sein und ein bisschen frotzelig drauf, ohne gleich behämmert zu wirken.
Herkunft?
Englisch
Größe?
Eins achtundfünfzig
Bildungsgrad?
Nutzloser Uniabschluss
Ich glaube, mir wird schon wieder langweilig.
Religion?
Keine. Außer wenn die Sonne scheint und ich denke: Wer weiß?
Sofort zucke ich zusammen und lösche es wieder. Klingt zu verrückt. Dann wiederum denke ich, was soll’s? Es ist die Wahrheit. Normalerweise glaube ich nicht an Gott, aber manchmal, an schönen Sommertagen, wenn alles von Glück durchwoben ist, vermute ich, dass Gott existiert, dass Er nur leider zum Mittagessen ein paar Gläser zu viel getrunken hat. Vielleicht sollte ich das hinschreiben.
Nun mal ganz langsam.
Haustier?
Kodiakbär.
Bevorzugte Ernährung?
Gin
Alles
Rauchen?
Noch nicht. Aber ich habe vor, mit 60 anzufangen, weil es dann Alzheimer vorbeugen soll. Nein, wirklich.
Drogen?
Gin!
Die meisten Leute, die mich kennen, würden sagen, ich bin …
Saumäßig im Anlegen von Internet-Dating-Profilen
Klein
Aktuelles Ziel?
Frühling
Deine goldene Regel?
Hab nie eine goldene Regel. Du würdest sie sowieso brechen.
Oh, Gott, es reicht jetzt. Es ist nicht das weltbeste Profil geworden, aber auch nicht das schlechteste. Es gäbe Abermillionen weiterer Fragen, die ich beantworten könnte, aber ich mache noch drei, und dann gebe ich mein Angebot für Glück ab. Vorläufig, bis morgen. Es gibt immer ein Morgen.
Ich schätze:
Aufrichtigkeit. Vintage-Klamotten. Sriracha-Sauce auf einem Thunfisch-Melt-Sandwich.
Wenn ich ins Gefängnis müsste, dann wegen …
Lügens auf Internet-Dating-Portalen
Sechs Dinge, ohne die ich nicht sein könnte
  1. Nespresso-Maschine
  2. Meine Freundinnen (sooo toll)
  3. Nespresso-Maschine
  4. Sinnlose Listen
  5. Memory
  6. Hab ich vergessen
In Wahrheit habe ich ein sehr gutes Gedächtnis, aber wen kümmert’s? Mir fällt nichts Witziges mehr ein, mein Vorrat an Spitzfindigkeiten ist erschöpft – also kann ich nur hoffen, dass ich hinreichend faszinierend und verführerisch anders erscheine. Vielleicht klinge ich auch einfach nur verrückt. Egal. Gerade als ich den Laptop zuklappen und mir einen dritten und letzten G & T machen will, fällt es mir ein. Scheiße. Foto . Man muss ein Foto haben. Ich bin vielleicht die miserabelste Internet-Daterin der Welt, ich weiß noch nicht mal, wie man auf Tinder richtig wischt – was schon zu einigen Peinlichkeiten geführt hat –, aber selbst ich weiß, dass man ein Foto hochladen muss.
Ich hasse es, Fotos hochzuladen. Ich weiß nie, welches ich nehmen soll. Einen nach dem anderen gehe ich die Fotoordner auf meinem Laptop durch und suche nach dem besten Nicht-Selfie. Es gibt durchaus einige, auf denen ich mich präsentabel und einigermaßen sexy finde. Und warum auch nicht? Ich weiß, an guten Tagen ist mein Aussehen okay. Grüne Augen, rötlich braunes Haar, ein, wie meine Mutter sagen würde, spitzbübisches Grinsen. Gute Figur, wenn auch, wie Si es nannte, von der winzigen Sorte. So gesehen: Ich bin selbstbewusst genug zu sagen, ja, das Foto, auf dem ich, nicht lange nach der Scheidung, lächelnd an einem Strand von Ko Tao stehe, braun gebrannt, entspannt, in einem knappen Sommerkleid, ist weder zu schmeichelhaft noch vulgär. Und auch nicht zu alt?
Da sehe ich echt glücklich aus. Wahrscheinlich, weil ich in der Nacht davor einen tollen One-Night-Stand hatte, mit einem Aussie mit Dreadlocks und Super-Surfer-Body. Einer der Gründe, warum ich momentan so abgebrannt bin, ist der, dass ich einen Riesenbatzen meiner bescheidenen Ersparnisse für diesen Urlaub verpulvert habe. Nach zehn Jahren unglückseliger Ehe endlich Monate seliger Freiheit. Sie waren jeden Penny wert.
Okay, also das ist es. Wenn’s gut läuft, kann ich so aussehen. Nach gutem Sex. Weshalb ich während meiner Zeit mit Simon selten so ausgesehen habe. Tut mir leid, Si.
Ich wähle das Foto aus und schneide das Dekolleté noch ein bisschen zurecht – um nicht zu aufreizend rüberzukommen –, und dann lade ich es hoch. So. fertig. Ich bin öffentlich. Ich bin neu in der Auslage und warte darauf, herausgepickt zu werden. Geöffnet. Ausgewählt. Gelesen. Morgen werde ich mich meinerseits ein bisschen umschauen.
Jetzt angele ich mir ein Buch, So schreiben Sie das perfekte Drehbuch , und fange an zu lesen. Etwas lustlos.
Die Stille ist überdeutlich. Das Gefühl von Einsamkeit kehrt zurück. Nur um eine Stimme zu hören, frage ich Electra nach der aktuellen Wettervorhersage.
»Morgen wird die Höchsttemperatur in London zwei Grad Celsius betragen. Die Schneewahrscheinlichkeit liegt bei dreißig Prozent.«
Brr, ich glaube, ich trinke einen Schluck Rotwein. G & Ts sind zu kalt. Ich gehe in die Küche, greife mir eine Flasche Roten, den Korkenzieher und ein Glas, und dann setze ich mich an den Wohnzimmertisch und verschütte ein bisschen Vino. Nehme das Buch wieder zur Hand. Es ist dermaßen still. Stiller als sonst.
Viel hört man hier nie. Tabitha und ich sind in der großen Wohnung im ersten Stock; geräumig und mit vielen Fenstern. Über uns wohnt theoretisch ein wohlhabendes älteres Paar, aber die zwei sind, vor allem im Winter, im Dauerurlaub. Und ich kann’s ihnen nicht verübeln. Gleichzeitig ist die Wohnung im Erd- und Untergeschoss, die Fitz früher selbst bewohnt hat, jetzt aber lieber vermietet, während er selbst ganz allein in einem Haus in Islington residiert, teuer saniert worden und wartet auf neue Mieter.
Rechts von uns steht ein schicker Bürokomplex voller Anwaltskanzleien, da herrscht abends und nachts Ruhe, und links grenzt ein georgianisches Haus wie unseres an, das weiteren abwesenden Reichen gehört. Ich glaube, einmal habe ich sie gesehen.
Ich stehe auf und gehe hinüber zur Fensterfront. Straßen und Fußwege sind weiß eingeschneit. Und so gut wie leer, bis auf eine Frau in Schwarz, die unten an meiner Tür vorbeigeht. Sie zieht kleine Kinder hinter sich her, und ich sehe sie nur von hinten, nicht ihr Gesicht. Unverkennbar treibt sie die Kinder zur Eile an; sie will sie zu Hause haben, bevor das Schneetreiben zu heftig wird. Sie tut mir leid. Irgendetwas an ihrer Haltung erweckt mein Mitleid. Ein ganz ausgeprägtes Mitgefühl: so, als könnte das ich selbst sein. Und dann ist sie weg. Verschwunden. Ein Schneewirbel? Ist sie abgebogen? So oder so, es ist kein Mensch zu sehen.
Die Stille heute Abend hat etwas Quälendes. Vielleicht ist es einfach der Schnee, der alles dämpft. Wie ein Schal rund um die Welt.
Ich kehre zu meinem Sessel zurück und greife nach dem Buch. Und da, mitten hinein in die gellende Stille, ertönt eine Stimme. Electra. Sie spricht mit mir. Ungefragt.
»Ich weiß, was du getan hast«, sagt sie.
Irritiert, erschrocken, drehe ich mich um und fixiere die mattschwarze Säule mit dem saphirgrünblauen Ring, der einer Krone ähnelt. Und sie sagt noch mehr. »Ich kenne dein Geheimnis. Ich weiß, was du mit dem Jungen gemacht hast. Wie seine Augen weggerutscht sind. Ich weiß alles.«
Und dann ist es still. Ich starre den Home-Assistant an. Stumm, keine Reaktion; am Ende nur eine Maschine in einem Regal.