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Jo
F
ür eine halbe Minute hat es mir die Sprache verschlagen. Mein Mund ist trocken. Schließlich bringe ich heraus: »Electra. Was hast du gesagt?«
Das Gerät gibt einen gongähnlichen Ton von sich. Was der bedeutet, weiß ich.
»Ich kann mich nicht mit dem Wi-Fi verbinden. Bitte überprüfe deine Verbindung.«
»Electra, was hast du gesagt?«
»Ich kann mich nicht mit dem Wi-Fi verbinden.«
Nein, so geht das nicht. Nein
. Ich kann das nicht einfach schlucken. Hat sie das wirklich gesagt? Hat sie von der schlimmsten Sache in meinem Leben gesprochen? Die schon so lange her ist?
Mit zittrigen Fingern wische ich auf meinem Handy herum und arbeite mich durch die Prozedur, die Home-Assistentin, die virtuelle Helferin, Electra, wieder mit dem WLAN
zu verbinden. Das Licht färbt sich orange und, als die Verbindung hergestellt ist, wieder blau. Ein kurzes »Badoom« erklingt.
Sie ist bereit.
Bereit, von der Vergangenheit zu sprechen? Den schrecklichen Geheimnissen? Oder bereit, mir einen schlechten Witz zu erzählen oder die Verkehrsmeldungen herunterzuleiern?
Nach einem weiteren Schluck Rotwein formuliere ich im Geiste eine Frage, aber noch ehe ich sie aussprechen kann, leuchtet das Diadem auf, und Electra sagt: »Ich weiß alles über dich. Du hast ihn
umgebracht, und dann bist du weggelaufen. Ihm kam Blut aus dem Mund. Ich kann mich nicht mit dem WLAN
verbinden.«
»Electra?«
»Ich kann mich nicht mit dem WLAN
verbinden.«
»Electra!«
Nichts. Habe ich das wirklich gehört? Ich bin mir ziemlich sicher.
»Electra, was weißt du über mich?«
»Ich weiß, dass du interessante Fragen stellst.«
»Electra, was weißt du über die Vergangenheit?«
»Entschuldigung, das weiß ich nicht.«
Das akzeptiere ich nicht.
»Electra, was weißt du über meine Geschichte?«
Schweigen.
»Als Geschichte wird üblicherweise eine Darstellung zurückliegender Ereignisse bezeichnet oder eine …«
»Electra, halt die Klappe
.«
Das blaue Licht erlischt. Jetzt scheint sie verwirrt, untauglich, nutzlos. Oder sie versteht die Syntax meiner Fragen nicht. Wie es sich gehört.
Schließlich spreche ich hier mit einem Zylinder voller Elektronik, nicht mit einem tatsächlich denkenden Wesen, nicht mit einem Menschen. Nicht mit jemandem, der von dem Jungen weiß.
Jemandem wie Tabitha.
Aber die Einzelheiten? So genau, so zutreffend? Sie schwelen ständig in meinem Denken, und jetzt sind sie aufgeflammt. Die Augen, Jamie. Sein jungenhaftes Lächeln, sein freundliches, großzügiges, gutmütiges Wesen. Ach, Jamie. Und dann das Blut. Und dann der verdammte Song, den ich immer mit diesem schrecklichen Ereignis verbinden werde: Hoppípolla
von Sigur Rós. Den ertrage ich nicht. Sobald ich Hoppípolla
höre, kommen die Erinnerungen hoch. Ich brauche nur an den Song zu denken – beim bloßen Gedanken daran
fange ich an zu zittern vor Angst und schlechtem Gewissen und empfinde eine schmerzhafte, beißende innere Leere. An der Grenze zur Übelkeit.
Ob Electra das alles nun gesagt hat oder ob sich einfach die Stille in der Wohnung, der Alkohol und meine winterliche Einsamkeit verbündet haben, um meinem Hirn imaginäre Anschuldigungen vorzugaukeln – ich bin aus dem Takt.
»Electra, wie spät ist es?«
»Es ist zweiundzwanzig Uhr zweiundfünfzig.«
Auf einmal, einfach so, reagiert sie völlig normal. Mir
erscheint gerade nichts normal. Aber ich kann mich bemühen. Ich kann versuchen, versuchen, versuchen, alles normal zu finden und diesen Wahnsinn, das vermeintlich Gehörte, die Fantasie oder schreckliche Realität, was auch immer es ist, zu ignorieren. Vielleicht einfach eine Störung, und die Technik funktioniert nicht richtig. Das mit dem blaugrünen Wirbel vorhin kann ein Hinweis darauf gewesen sein. Aber ist es wirklich möglich, dass Electra aufgrund eines technischen Fehlers etwas so Irres von sich gibt?
Da sich so schnell keine Antwort findet, gehe ich an den Kühlschrank, hole die Chips und die Waitrose-Dips heraus und mische als kleines Extra Tabasco in eine gesonderte Portion Mayo, dann gönne ich mir eine Stunde Trostessen und sehe mir auf dem iPad Wiederholungen alter Sitcoms an. Und in dem Versuch, mich zu beruhigen, kippe ich viel mehr Wein in mich hinein als sonst.
Nach und nach tun Wein und Essen – vor allem der Wein – ihre wundersame Wirkung. Ich habe doch wahrscheinlich, hoffentlich, bestimmt einfach zu viel getrunken und mir deshalb eingebildet, dass Electra das gesagt hat? Es ist unmöglich, dass sie es weiß. So fortgeschritten ihre Technik auch sein mag, sie ist und bleibt ein Gadget. Außer Tabitha und mir – und Simon, dem ich es erzählt habe – weiß es niemand. Hat Tabitha es vielleicht Arlo erzählt? Das bezweifle
ich, aber selbst wenn: Wissen bleibt doch geheim, bleibt fest eingeschlossen; undenkbar, dass es zu ein paar albernen Geräten durchdringt, die hier im maßgefertigten Eichenregal stehen.
Nein.
Das letzte Glas Wein ist geleert. Ich habe mir erfolgreich eingeredet, dass nichts Unerwünschtes vorgefallen ist. Abgesehen von der kleinen Macke mit dem kreiselnden Licht benimmt die Technik sich völlig normal; es war mein trunkener Kopf, der daraus etwas Schlimmes gemacht hat.
»Electra, wann öffnet das Fitness-First-Studio in Camden morgen früh?«
»Fitness First Camden ist montags bis donnerstags von sieben bis zweiundzwanzig Uhr geöffnet, freitags nur bis einundzwanzig Uhr und am Wochenende …«
»Okay, Electra, genug.«
Schweigen.
»Danke, Electra.«
»Dafür bin ich da!«
Gut. Sie verhält sich immer noch, wie sie sich verhalten soll. Und ich bin betrunken. Morgen gehe ich ins Fitnessstudio und esse gesunde Sachen und kehre zu meinen üblichen Trinkgewohnheiten zurück. Was habe ich mir auch dabei gedacht? Schon vor sieben zwei große Gin? Absurd. Dumm. Gruselige Tagträume und alkoholinduzierte Wahnvorstellungen garantiert. In meinem Hirn wird immer ein Sediment von Schuldbewusstsein sein, wie der Schlick auf dem Grund eines Öltanks: Das Letzte, was man tun sollte, ist, das Zeug aufzurühren. Das hat Simon mir mal erklärt. Wenn man das macht, kann der ganze Motor kaputtgehen.
Simon.
Da sitze ich nun, und schon quält mich das nächste Schuldgefühl. Simon.
Nein. Daran will ich jetzt nicht denken. Aber ich muss daran denken. Wenn ich ein bisschen einsam bin, dann ist das meine eigene Schuld. Ich sitze hier und trinke allein, weil ich mit Simon zusammen war.
Das erste Mal ist es in Thornton Heath, London SE25, 398, passiert, in der Oberstufe. Wir kannten einander seit Grundschultagen, hatten uns in der Mittelstufe angefreundet, und dann, wir waren beide noch minderjährig, sind wir eines Abends in eine Bar gegangen; das war lustig, also fingen wir an, uns zu treffen und einander anzuhimmeln, und dann haben wir einander entjungfert. Ein besseres Wort fällt mir nicht ein, ich sollte ein besseres Wort wissen, vielleicht gibt es kein besseres Wort, also bleibt es dabei: Wir haben einander, nachdem wir zu viele Jägerbombs getrunken hatten, auf dem ASDA
-Supermarktparkplatz in Thornton Heath auf der Rückbank des Fiesta seines Vaters entjungfert
.
Der Sex war nicht toll, aber wir haben es hingekriegt. Miteinander. Und er war lieb und sanft und sah, in dem matten grünen Licht, das von dem ASDA
-Schild auf die Rückbank des unerlaubt ausgeliehenen Ford Fiesta fiel, ziemlich gut aus.
Ich bin nicht gekommen. Er schon, sehr schnell. Er hat sich dafür entschuldigt. Die Entschuldigung hat es nur noch schlimmer gemacht, und bis zum heutigen Tag habe ich beim Sex nichts erlebt, das weniger sexy gewesen wäre. Er hatte hübsche Augen und Muskeln und hat nicht viel geredet – jedenfalls nicht mit mir. Aber er hat sich bemüht. Was irgendwie rührend war. Während unserer gesamten Ehe hat er sich unübersehbar und mit großem Einsatz bemüht
.
Jetzt sitze ich da, starre hinaus aufs eisige Camden und befrage mich selbst. Nach meinen Motiven. Wie konnte es dazu kommen, dass ich ihn geheiratet
habe? Ausgerechnet Simon Todd?
Ich hatte es mit Kunst und Geisteswissenschaften, Philosophie, Soziologie, ich war so eine, die von einem Gap Year in Papua-
Neuguinea träumt, nur ist es nie dazu gekommen. Ich war fasziniert von Schamanismus, sibirischem Rentierurin, Renaissanceporträts. Er hatte es mit Motoren, Raketen und Atomen, und anscheinend wusste er, wie das mit Schrödingers Katze zu verstehen ist.
Nach unserem Strohfeuer verschwand ich ans King’s College, um Kunstgeschichte zu studieren, und er ging nach Manchester, wo er alles über Computer studierte, und ich verbrachte die Hälfte meiner Zeit mit Feiern … Und dann hatten wir unseren Abschluss und begriffen, dass wir uns, solange wir keine Stelle hatten, in keiner halbwegs netten Gegend eine Miete leisten konnten, also kehrten wir wie Bumerangs nach Thornton Heath und in die Pubs zurück, in die wir schon als Teenies gegangen waren, und …
… da war er. Sah im Schummerlicht der einzig akzeptablen Bar von Thornton Heath immer noch gut aus und erschien mir – im Vergleich zu den reichen, faulen Millennials, an die ich mich im King’s gewöhnt hatte – plötzlich als ein sehr netter, ehrlicher, anständiger Typ.
Und so bin ich hineingeraten in den sentimentalen Strudel des Nachhausekommens – geografisch, sexuell und emotional –, und diesmal hatten wir in einem richtigen Bett Sex (seine Eltern waren weg), und diesmal habe ich nach drei Monaten Kuscheln und Schmusen und Pizza-und-Fernsehen, geborgen in ungewohnter Sicherheit und Behaglichkeit und fragloser Bewunderung, als er mich unglaublicherweise und vollkommen irrsinnig bat, ihn zu heiraten, Ja
gesagt.
Mein Gott. Hilfe!
Ja?
Es war ein grotesker Fehler. Wir waren schon immer viel zu verschieden, und während wir verheiratet waren, haben wir uns noch weiter voneinander entfernt; das Scheitern war vorherbestimmt. Ich fand ihn langweilig und hatte die schlimmsten Schuldgefühle, weil ich ihn langweilig fand. Er hat das gespürt und versucht, nicht zu zeigen,
wie sehr es ihn verletzt, und das hat den traurigen Kreislauf von Schuldgefühlen, Verbergen und Noch-mehr-Kränken in Gang gesetzt, für uns beide. Und dann kamen Liam und die schmutzigen SMS
und die heftigen Streitereien und das Ende.
Folglich nehme ich es ihm nicht übel, dass er mich verlassen hat. Ich hatte ihn schlicht nicht verdient. Auch nehme ich ihm nicht übel, dass er so schnell wieder geheiratet hat, Polly, und ich nehme es ihnen weniger als gar nicht übel, dass sie sofort ein winziges und superniedliches Baby bekommen haben. Grace. Das Einzige, was mich vielleicht ein klein wenig wurmt, ist die Tatsache, dass Polly, weil sie Krankenschwester im öffentlichen Dienst ist, im angesagten Shoreditch im zwölften Stock eines nagelneuen Apartmentblocks eine bezuschusste Dreizimmerwohnung kriegt.
Polly, die Glückliche. Simon, der Glückliche.
In London ist Grundbesitz, also welchen zu haben, heutzutage alles. Wie es in der Regency-Epoche im neunzehnten Jahrhundert nur darauf ankam, ein Anwesen und einen Titel zu haben. Und ich bin eine Magd. Quasi eine indische Unberührbare. Ich habe keinen Besitz und werde nie welchen haben. Das mit dem Grundbesitz wird langsam dynastisch. Hätte ich gewusst, dass das einmal eine solche Rolle spielen würde, hätte ich wahrscheinlich einen von diesen überzeugend wohlhabenden Jungs aus der Uni geheiratet, einen von denen, deren Eltern Sicherheiten für ein Darlehen bieten können. Anfragen hatte ich genug, geheiratet habe ich keinen von ihnen. Aber was soll’s?
Ich starre die dunkle, winterliche Delancey Street hinauf. Der Verkehr hat deutlich nachgelassen. Es ist spät. Ich muss schlafen. Ich hänge Tagträumen nach, verbringe zu viel Zeit damit, aus diesen Fenstern zu schauen.
Und trotzdem, als ich in meinen Lieblingsschlafanzug schlüpfe, frage ich mich unglücklich, ob es überhaupt möglich ist, dass ich mir
die giftigen Bemerkungen von Electra nur eingebildet habe. Dass mein eigenes Hirn, angefeuert von einer Fehlzündung in der Technik, diese paar Sätze hervorgebracht hat. Denkbar
wäre es. Ich muss mich zwingen, es zu glauben. Aber das zu glauben hieße, dass ich Stimmen höre, und das …
Nein. Nicht daran denken.
Höchste Zeit, schlafen zu gehen. Ich muss ins Bett und brauche Schlaf und eine Tablette, und wenn ich aufwache, geht es weiter – mit dem Leben und meinem neuen Artikel. Ich schreibe eine Kolumne für Sarah, meine liebste Redakteurin, die, die mich damals mit dem großen Hightechstück beauftragt hat. Ich soll eine Rubrik in ihrer Zeitschrift füllen: Meine neue Gegend
. Für Leute, die in einen anderen Teil von Großbritannien ziehen; es geht um die Geschichte und Umgebung des jeweiligen Ortes, Landschaft, Stadtbild, wie man sich da fühlt. Logischerweise schreibe ich über Camden.
Viel Geld gibt es nicht, aber viel Geld gibt es heutzutage nirgends, und zumindest ist die Recherche interessant.
Im Bett schlage ich noch ein Buch über die Geschichte von Nordlondon auf, aber meine Lider sind schwer. Ich drehe mich zu dem rundlichen weißen Ei auf dem Nachttisch um: HomeHelp.
»Okay, HomeHelp.«
Zur Antwort leuchten ihre verspielten kleinen Lichter. Sie ist bereit, wartet auf mein Kommando.
»Weck mich um acht Uhr fünfzehn«, sage ich.
»Okay, Wecken um acht Uhr fünfzehn.«
»Danke. Und mach bitte das Licht aus.«
Es wird dunkel. Ich kuschele mich ins Kissen. Die Tablette wirkt. Aber als ich kurz vorm Wegsacken bin, dringt ein Fetzen leiser Musik zu mir durch. HomeHelp ist zu neuem Leben erwacht. Und sie lässt einen Song laufen. Ich habe nicht gesagt, dass sie das tun soll. Warum macht sie das? Zunächst ist es so leise, dass ich nichts erkenne, aber
dann wird es lauter. Und lauter.
Hoppípolla
. HomeHelp spielt Hoppípolla
.
Den
Song. Ausgerechnet. Vor meinem inneren Auge erscheint ein junger Mann, dessen Augen wegdrehen. Mein Kopf schnellt vom Kissen hoch. Das bilde ich mir nicht ein, auf keinen Fall. Stirb nicht, Jamie, stirb nicht wie mein Vater.
»Stopp«, sage ich. Die Musik läuft weiter, wird lauter, schwillt immer weiter an, die schwingende, leicht schräge, wunderschöne Melodie, die in meinen Ohren so unheilvoll klingt. »Okay, HomeHelp. Stopp. Stopp. HomeHelp, bitte, bitte, Stopp!«
Die Musik erstirbt. Die vier Spielzeuglämpchen von HomeHelp blinken der Reihe nach einmal auf, dann wird es dunkel. Und ich liege da und starre mit weit aufgerissenen Augen an die Decke. Ich habe solche Angst. Was passiert mit mir?