6
Jo
T
he Flask«, Highgate. Natürlich. Hier feiern wir, dass Tabitha aus Brasilien zurück ist. Ein wunderschönes, uriges, holzgetäfeltes Prasselndes-Feuer-und-Glühwein-Pub in der schönsten Ecke von Highgate und, rein zufällig, ungefähr zwei Minuten Fußweg entfernt von Arlos tollem Haus aus dem achtzehnten Jahrhundert mit den Spot Paintings
von Damien Hirst in der Diele. Die besten Kunstwerke hat er für sein Wohnzimmer oder den Salon oder den siebzehn Hektar großen unterirdischen Skulpturengarten oder Gott weiß was aufgespart. Ich war erst einmal bei Arlo zu Gast, habe außer einer Küche, die so groß ist wie bei meiner Mutter das gesamte Haus, kaum etwas gesehen und hatte selbst da das Gefühl, es wäre Arlo lieber gewesen, wenn ich durch den Lieferanteneingang gekommen wäre oder durch einen Extratunnel für Proletarier.
Eine Art Traitors’ Gate. Durch das sie im Mittelalter die Gefangenen in den Tower of London geführt haben.
Und jetzt stehe ich allein in Arlos Eckkneipe herum. Ich bin etwas früh dran. Weil ich unbedingt aus der Wohnung rauswollte. Für den Fall, dass die Assistants es wieder auf mich abgesehen haben. Wenn sie es auf mich abgesehen haben und ich das nicht selbst bin.
Nicht daran denken.
Während ich auf die anderen warte, betrachte ich ein paar schaurige alte Drucke, die an der getäfelten Wand hängen. Sie zeigen berühmte Hinrichtungen, die hier in der Gegend stattgefunden haben, Männer, die am Galgen hängen, jubelnde Mengen. Eine dieser Szenen
hat sich offenbar oben auf dem Primrose Hill abgespielt. Drei Gehenkte in einer Reihe, sie sind barfuß, sie strampeln, sie greifen im Todeskampf nach der Schlinge. Der Kupferstecher hat sich große Mühe gegeben, die Gesichter in allen Einzelheiten darzustellen: den ungläubigen Blick und die hervortretende Zunge der erdrosselten Männer am Galgen, die grausam-seligen Mienen der Popcorn mampfenden Schaulustigen.
Darauf bin ich bei meiner Recherche nicht gestoßen. Der Primrose Hill war eine Richtstätte? Der sterbende Mann ganz links, der sich im Ersticken die eigene Zunge abzubeißen scheint, starrt mich eindringlich an. Genau mich. Als wüsste er es. Er weiß es. Wer weiß es?
Ich bin nicht mein Vater.
Oder? Ich erinnere mich an meinen Vater aus der Zeit, bevor er sich selbst verloren ging: Er war extrovertiert, sehr humorvoll. Ein verkannter Künstler, der am Ende in einer Existenz als kleiner Buchhalter gefangen war. Daher war die Familie sein Leben, seine ganze Freude. Daddy war immer zu Scherzen aufgelegt; es hat ihm Spaß gemacht, mich zum Lachen zu bringen, mich um den Apfelbaum zu jagen und so zu tun, als würde er mich nicht kriegen. Ich habe ihn Kitzelmonster genannt und er mich Jo the Go, weil ich so schnell war. Er hat Wortspiele geliebt, er hat mit dem Leben gespielt. Also komme ich vielleicht eher nach ihm als nach meiner vorsichtigen, konservativen Mutter. Was bedeutet?
Meine ängstlichen, tastenden Grübeleien – die leicht in etwas Schlimmeres umschlagen könnten – werden abgewürgt.
Da, an der Bar, steht Arlo und starrt mich an, kühl, selbstbewusst, herablassend, herrisch. Ich bin in seiner
Kneipe. Seinem Revier. Um die Rückkehr meiner
Freundin zu feiern, meiner Mitbewohnerin. Warum müssen wir uns unbedingt hier treffen?
Weil er Arlo Scudamore ist. Er hat das Sagen. Ich glaube, auch Tabitha gegenüber hat er das Sagen. Er weiß, dass ich das glaube. Im
Übrigen scheint es ihm völlig egal zu sein, was ich glaube, ob es mir gut geht oder schlecht, denn er ist immer noch sauer wegen meines Artikels über die Techgiganten, in dem ich ihn angeblich ohne seine Zustimmung zitiert und namentlich genannt habe. Er hat zugestimmt, es hat ihm nur nicht gefallen, was ich geschrieben habe. Er behauptet, der Artikel habe ihn bei seinem bis dahin kometenhaften Aufstieg behindert. Gott, ich kann seinen dummen Vornehm-aber-trotzdem-Hipster-Ton nicht ausstehen. Er findet mich gewöhnlich? Scheiß drauf. Simon hat Arlo einmal als »pathologisch ehrgeizig« beschrieben, und das habe ich nie vergessen. Weil es so treffend ist.
Ich gehe hinüber an die Bar, sage: »Hallo, Arlo, schön, dich zu sehen«, und gebe ihm schnell einen doppelten Nicht-Kuss-Luftkuss.
»Ach, hallo, Jo, großartig, dass du kommen konntest!«
Er erwidert den doppelten Nicht-Kuss. Ich wusste gar nicht, dass Begrüßungen so verlogen sein können.
»Wo ist Tabs?«
»Draußen mit ihrer E-Zigarette, sie qualmt pausenlos. Wie eine hydrothermale Rauchfahne.«
Wer oder was ist bitte eine hydrothermale Rauchfahne? Keine Ahnung. Wahrscheinlich sagt er das, um mich zu verunsichern. Und jetzt sind wir hier zusammengesperrt, in einer Ecke des »Flask«. Nur er und ich, reihenweise erlesene, mir unbekannte, handgefertigte Gin-Sorten in dem verspiegelten Regal hinter der Bar, die gruseligen Hinrichtungsbilder an der Wand und ein herrlich prasselndes Feuer in dem riesigen Kamin. Warten, dass die anderen endlich kommen.
»Alles klar bei dir, bei der … Arbeit? Facebook?«
Das ist vermutlich die ätzendste Frage, die ich ihm stellen kann. Weshalb ich sie vermutlich stelle. Er macht so was umgekehrt ständig. Und Arlo zu nerven lenkt mich wenigstens vom Strudel meiner eigenen Sorgen ab.
»Bei der Arbeit? Oh, ausgezeichnet. In knapp zwei Wochen gehe ich.
Wegen des Start-ups.« Sein Lächeln ist so eisig, dass es auf zwanzig Meter Entfernung alle Winter-Singvögel töten könnte. »Ah!« Plötzlich wird das Lächeln strahlend, wärmer, beinahe echt. »Da ist Jeremy. Lex! Rollo.«
Rollo.
Rollo.
Arlo hat eine ungewöhnlich große Anzahl piekfeiner, rosagesichtiger Freunde, deren Namen auf o
enden. Hugo. Rollo. Theo. Rocco. Orlando. Otto. Otto ist, glaube ich, auch ein von
. Sie alle sind geradezu lachhaft reich. Niederländische Multimillionäre. Französische Banker. Filmregisseure. Venture-Kapitalisten, die in Arlos neues Großes Ding
investieren, diese Sache, bei der es um künstliche Intelligenz geht und um Finanztechnologie und anderes Zeug, von dem ich offiziell nichts verstehe
. Ein paar dieser Typen kenne ich vom Sehen, aber sie kennen mich praktisch nicht. Ich bin eindeutig nur wegen Tabitha hier. Wenn ich Glück habe, tauchen vielleicht noch ein, zwei Unileute auf, mit denen Tabitha und ich befreundet waren; das würde meine soziale Isolation etwas mildern.
Aber wie ich ja erst kürzlich erschrocken festgestellt habe, leben die meisten meiner Freunde nicht mehr in der Stadt.
»Jo!!«
Ah. Eine schlanke blonde Frau, die gerade die E-Zigarette in ihrer schicken Jeansjacke verschwinden lässt, kommt breit grinsend auf mich zu.
»Jo! Süüüße!!«
Sie übertreibt gern ein bisschen, wenn sie gut drauf ist.
»Hey, Tabs! Du bist also nicht von den Jaguaren gefressen worden!«
Sie stürmt auf mich zu, umarmt mich fest und gibt mir einen Kuss – so, dass ihre Lippen tatsächlich meine Haut berühren. In mir krampft sich alles zusammen, denn mir wird bewusst, wie sehr mir physische
Interaktion fehlt. Seit Tagen hat mich kein Mensch berührt, geschweige denn umarmt oder geküsst.
»Jo-Jo, Süße. Wie geht’s dir?«
»Ach Gott, gut. Und dir? Brasilien? Peru? Wie war’s?«
»Sagen wir mal so: Sollte ich auch nur noch einen vom Aussterben bedrohten Minilaubfrosch filmen müssen, werde ich meine Karriere dem Auslöschen amphibischen Lebens widmen. Ich werde einen Scheißmolch erschießen.«
Wir lachen. Wir umarmen einander noch einmal. Das weckt eine tiefe Sehnsucht in mir. Ich brauche das.
Freie Journalistin zu sein, das habe ich inzwischen begriffen, macht einen gar nicht frei, sondern kann einen nur zu leicht in die eigene Wohnung sperren, wo man keinerlei zwischenmenschlichen Kontakt hat und von Montag bis Mittwoch nicht aus dem Schlafanzug herauskommt. Und Freiberuflichkeit plus Digitalisierung ist noch schlimmer. Alle Gespräche, die ich diese Woche geführt habe, waren Gespräche mit der digitalen Welt.
Seit ich mich vor fünf Jahren selbstständig gemacht habe, stelle ich fest, dass die Leute immer weniger überhaupt noch reden wollen. Bevor sie einmal zum Hörer greifen, schreiben sie lieber ausufernde SMS
oder Mails. Sie wollen tippen und whatsappen und simsen, um sich jederzeit korrigieren und zensieren zu können. Sich selbst kuratieren: ihre Seele und ihre direkte Rede.
Das hätte ich in den Artikel packen sollen, mit dem ich Arlo so geärgert habe. Die Tatsache, dass die Technik unser soziales Leben versaut, unsere Menschlichkeit, unsere Interaktionen, unser alles. Und im Gegenzug kommt die Technik mir blöd?
»Arlo!«
»Theo.«
»Cicero.«
Die Os mit geballter Kraft. Tabitha plaudert mit ihnen. Ich stehe
allein da. Der Hingerichtete, der von dem Galgen auf dem Primrose Hill baumelt, streckt seine eklige schwarze Zunge in meine Richtung. Meine Gedanken wandern wieder nach Hause, zu den Geräten, die mir den Boden unter den Füßen wegziehen, mich aus dem Gleichgewicht bringen, und plötzlich taucht eine Frage auf. Könnte das Arlos Werk sein? Ist es eine Art zynische Vergeltung? Clever und kontrollsüchtig genug wäre er allemal. Wahrscheinlich würde er es höchst komisch finden. Und pikant. Ebendie Technik, die ich kritisiert habe, zu benutzen, um mich in den Wahnsinn zu treiben; mich so weit zu bringen, dass ich durchdrehe.
Seine Abneigung gegen mich – ein Stück weit reiner Snobismus – ist durch meinen sogenannten journalistischen Betrug noch gefestigt worden. Als ich in der Delancey eingezogen bin, kam er vorbei, warf einen Blick auf meine armseligen Klamotten und brachte ein paar giftige Sprüche, von wegen, ich könne mich glücklich schätzen, dass ich in dieser Wohnung unterkäme, wo ich doch ebenso gut in einer hässlichen Einzimmerbude im Niemandsland, vielleicht irgendwo an der A 40, hocken und »reines Kohlenmonoxid atmen« könnte. Das hat er wirklich gesagt. Und er weiß, wie mein armer Vater gestorben ist. Und dann hat er noch eins draufgesetzt: »Stattdessen ziehst du hier ein, wo es den smarten Fernseher gibt, die Assistants, das Smart-Lighting – du brauchst nur Musik zu verlangen, und schon tönt es durch alle Räume, und das alles dank der Firmen, die du so verabscheust. Ist das nicht … witzig?«
Ich starre hinüber zu ihm, wie er dasteht, eingerahmt von modischen Gin-Flaschen, umgeben von seinesgleichen. Er kichert in dieser komischen verhaltenen Art. Als finde er Lachen etwas vulgär, gestatte es sich aber unter engen Freunden auch mal. Er sieht gut aus, fit, mit aristokratisch hohen Wangenknochen, aber kein bisschen sexy. Jedenfalls nicht für mich.
Tabitha erlöst mich aus meiner Isolation, indem sie mir einen Drink
reicht. Eine zarte Flöte.
»Erstklassiger Champagner, Perrier-Jouët!« Sie grinst und nickt in Richtung ihres Verlobten und seiner betuchten Kumpel. »Du bleibst auf Abstand? Verstehe ich. Arlo und ein paar von seinen Bankern diskutieren tatsächlich über Blockchain. Was zum Henker ist Blockchain? Weiß das irgendjemand?«
Wir sind schon ein paar Meter von der Bargruppe entfernt. Physisch im Abseits, symbolisch gesehen Fußvolk. Ich blicke auf den einladend golden perlenden Alkohol in der Flöte hinab. Muss ich ein schlechtes Gewissen haben, weil ich Arlos Champagner schlürfe, obwohl ich ihn so gar nicht leiden kann? Nö. Ich hebe das Glas und schlucke den Sprudel so schnell, dass ich von den Bläschen niesen muss. Meine Hand zittert leicht und so auch das Glas. Meine düsteren Ängste werden offenbar.
Stirnrunzelnd sieht Tabitha zu, wie ich das Glas schnell auf den Tresen stelle.
»Hey. Geht’s dir gut? Ist alles okay in der Delancey?«
Jetzt sollte ich etwas sagen. Sie hat mir geradezu das Stichwort geliefert. Das ist meine Chance, es loszuwerden, mich mitzuteilen, um Hilfe zu bitten, die Home-Assistants zu erwähnen, die mögliche Fehlfunktion. Bei ihnen. Oder bei mir. Die höhnischen Bemerkungen. Die Musik. Die clowneske Horrorshow. Und doch kann ich es nicht. Weil das Gespräch schnell bei dem landen würde, was alldem zugrunde liegt: dem Tod von Jamie Trewin. Und wir haben uns geschworen, nie wieder darüber zu reden. An diesen Schwur haben wir uns bis heute gehalten, den kann ich nicht so einfach brechen. Ich würde gern. Aber ich kann nicht. Zunächst einmal könnte Tabitha mich rausschmeißen, und dann müsste ich auf der A 40 wohnen und reines Kohlenmonoxid atmen.
Außerdem haben sich die Assistants die letzten ein, zwei Tage ruhig verhalten. Seit ich meine Mutter angerufen habe, ist nichts mehr
passiert. Nur hilft mir das nicht, denn es wirft mich auf die Möglichkeit zurück, dass ich schizophren werde, wie mein Vater es war.
Aber das ist so erschreckend, dass ich nicht daran denken will.
Nie.
Denk. Nicht. Daran, dass es. Es. Es. Es. Es hört mir zu. Spricht mit mir. Der Fernseher spricht mit mir. Wie er scheinbar mit meinem Vater gesprochen hat. Eine Stimme aus dem Dunkel. Damals war ich zu klein, um es zu verstehen, aber inzwischen habe ich begriffen: Das war das erste Symptom jener Krankheit, die ihn ein paar Jahre später getötet hat.
Der Fernseher hat angefangen, mit meinem Vater zu reden, wie dieses Gerät, Electra, angefangen hat, mit mir zu reden. Heißt das, ich werde enden wie mein Vater? In einem Auto an Abgasen ersticken?
»Jo? Alles okay?«
Ich zucke zusammen. Ich muss eine Minute oder länger geschwiegen haben, so versunken war ich. Das kam bei meinem Vater auch vor. In der Zeit, bevor er unheimlich wurde. Bevor sein Kitzeln etwas Aggressives bekam und ich vor ihm weggelaufen bin, zu meiner Mami. Bevor sein Wahnsinn mich Freunde gekostet hat. Dave, Jenny und andere – alle vertrieben. Wenigstens hat mich das selbstständiger gemacht.
Jetzt schaue ich meine Mitbewohnerin an und zwinge mich zu lächeln.
»Mir geht’s gut, Tabs. Ich arbeite viel. Ein bisschen langweilig ist es. Du weißt schon, dass du in den kältesten Winter seit Charles Dickens’ Zeiten zurückgekehrt bist, oder?«
Sie schüttelt sich. »Habe ich bemerkt. In der Ankunftshalle waren Pinguine.«
»Und, wie war’s denn nun? Wie ist es mit der Doku gelaufen, wie war der Dschungel, wie war die Reise? Wie ist der Amazonas? Da wollte ich schon immer mal hin. Gott, du hast so ein Glück!«
Sie lacht.
»Insekten.«
»Was?«
»So ist der Amazonas, Süße. Insekten. Wildlife siehst du gar nicht, weil der Dschungel so dicht ist, wirklich, eine endlose grüne Wand. Aber, mein Gott, Insekten! Moskitos so groß wie Bussarde, Killertausendfüßler, Spinnen, die Gift absondern.«
»Okay …«
»Über meinen Rucksack haben sich Feuerameisen hergemacht. Im Ernst. Die wollten ihn auffressen. Er ist voller kleiner weißer Flecken von der Ameisensäure; überall da, wo die Biester zugebissen haben. Und nachts hörst du nichts anderes.«
»Als was?«
»Insekten! Schreie. Ja, die schreien.« Sie leert ihr Glas. »Und gigantische Ratten. Lois fand das alles schrecklich. Er meinte, als Nächstes müssten wir Grönland machen. Irgendwas, wo es null Insekten gibt.«
Lois ist ihr Moderator. Der Star der Naturdokuserie, die Tabitha koproduziert.
»Das einzig Spannende war, als ein Tapir in den Pool gefallen ist.«
Ich starre sie mit großen Augen an. Tabitha erlebt ständig Abenteuer und hat immer Geschichten auf Lager. Früher haben wir uns zusammen in diese Abenteuer gestürzt, als Rucksacktouristinnen in Bolivien und Kolumbien oder in Indien, wo wir aufdringliche Tantra-Masseure abwimmeln mussten, und dann hat das Leben uns eingeholt, und wir mussten vernünftig werden. Ich habe aufgehört zu reisen; sie reist im Zuge ihrer Arbeit noch immer und bringt einen Haufen Geschichten mit nach Hause. Und ich brauche heute gute Geschichten, die mich von meiner Wohnung ablenken, von mir selbst ablenken.
»Ihr hattet einen Pool? Ich dachte, ihr wart richtig in der Wildnis,
umzingelt von Piranhas und so – war das nicht ursprünglich der Plan?«
Tabitha nickt und lacht.
»Ja, aber gegen Ende hatten wir die ewigen Zelte und die Mückenstiche so satt, dass wir in der Nähe von Iquitos in ein Hotel mit Pool gegangen sind. Doch der Pool grenzt direkt an den Dschungel, und eines Tages kam ein Tapir aus dem Wald spaziert, hat versucht, Wasser zu trinken, und ist reingefallen. Und dann hat er Panik gekriegt und einen Riesenschiss abgelassen, und niemand wusste, wie das Zeug da wieder rausgeholt werden sollte. Bist du schon mal in einem Pool voller Tapirkacke geschwommen? Also angenehm ist das nicht.«
Ich lache laut los. Vielleicht zu laut, so laut, dass es meine Angst verrät. Aber es ist so schön, Tabitha wiederzuhaben. Eine echte Freundin. Meine alte Freundin. Wie sehr mir das gefehlt hat!
Für ein Weilchen stellen wir uns wieder höflich zu Arlo, aber die Banker reden über Kryptowährungen, und bald wechseln Tabitha und ich einen bedeutungsvollen Blick – und dann gibt sie Arlo einen flüchtigen Kuss auf die Wange und sagt: »Ich geh noch mal eine rauchen, Schatz. Steck nicht so viel Geld in Aetherium; das wird einbrechen.«
Er nickt ihr beiläufig zu, und sie murmelt in meine Richtung: »Kommst du mit? Die haben hier Wärmepilze.«
Erleichtert folge ich ihr in den Garten des Pubs. Es ist bitterkalt, aber da stehen tatsächlich rot glühende Wärmepilze.
»Die großartigste Erfindung seit …«, sage ich.
»Facebook?«, fällt Tabitha mir ins Wort und grinst über ihren Treffer.
»Nicht. Bitte nicht!« Ich stoße einen hilflosen Seufzer aus. »O Gott, Tabby, ich versuche wirklich, mit ihm klarzukommen, aber er … entstammt einer völlig anderen Welt. Ich meine, du bist schon vornehm, aber er ist ja praktisch wie die Queen. Wahrscheinlich
schaut er auf die Queen herab, weil sie Tupperware benutzt.«
»Jaaa«, presst sie ironisch gedehnt hervor. »Und er ist total überzeugt davon, dass er kurz davor war, zum Eroberer des Internets aufzusteigen, und dass du das vereitelt hast.«
Protestierend hebe ich eine kalte Hand. »Das habe ich nicht!«
Tabs zeigt ihr perfektes Lächeln mit zwei Reihen gleichmäßiger weißer Zähne. Meine Zähne sind ganz hübsch, aber sie stehen leicht schief. Thornton-Heath-Zähne.
»Ich weiß, Süße. Aber du kennst ihn, so ist er nun mal. Und jetzt, wo er kurz davor ist, mit diesem übergeschnappten Start-up loszulegen, glaubt er fest daran, dass die neue Firma das nächste Unicorn sein wird. Dass sie ihm eine Milliarde einbringt. Als ob er Geld nötig hätte. Jedenfalls ist er extrem empfindlich. Beachte ihn einfach nicht.«
Ich würde sie gern fragen: Was findest du an ihm? Aber ich bringe es nicht fertig. Sie liebt ihn wirklich, das hat sie mir gesagt. Ich weiß, dass sie guten Sex haben. Ich weiß, dass sie zu extravaganten Sexpartys gehen. Killing Kittens, Kinky Salon. Vielleicht ist es einfach das: Sex. Außerdem kann Tabitha bei allem Selbstbewusstsein manchmal erstaunlich unsicher sein. Sie hat Panikattacken. Ihr Vater ist von zu Hause verschwunden, als sie zehn war, auf und davon mit einer Geliebten, die halb so alt war wie er. Daher vermittelt Arlos Wohlstand ihr wohl eine besondere Sicherheit. Und dazu der Sex.
Tabitha raucht eine richtige, keine E-Zigarette. Ich starre sie an.
»He, ich dachte, du hast aufgehört?! Du hast doch das reinste Drama draus gemacht: Tabitha hört auf!
«
Sie kichert und zuckt die Achseln. Das Licht von den Heizpilzen verleiht ihrem hübschen Gesicht einen unheimlichen roten Schimmer. Ich kann nicht anders, als sie anstarren. Plötzlich hat ihr Gesicht etwas Teuflisches. Ein wunderschöner roter Dämon im Garten eines Highgate-Pubs aus dem achtzehnten Jahrhundert, mitten im kalten, dunklen Londoner Winter. In dem traurige, einsame Frauen ihre
kleinen Kinder hinter sich herziehen.
»Hab in Peru wieder angefangen. Ich dachte, vielleicht vertreibt der Rauch die Moskitos. Das hat er nicht, aber ich bin wieder drauf. Sag Arlo nichts davon – er wäre schockiert, er würde sich weigern, sich von mir einen blasen zu lassen.«
Ihr Gesicht glüht. Dämonisch. Satanisch. Oder ist dieses Bild in meinem Kopf? Während sie spricht, leuchten ihre Zähne im Kontrast umso weißer. Ich muss an Reißzähne denken. Vampirzähne. Die, während ich schlafe, Blut aus meiner Kehle saugen. Tabitha. Die damals mit mir in dem Zelt war. Ob sie Arlo erzählt hat, was mit Jamie Trewin passiert ist? Ich würde sie gern fragen.
Stattdessen sage ich: »Ich nehme an, du bleibst über Nacht bei ihm?«
Sie nickt und sieht mich stirnrunzelnd an; sie hat keine Lust, sich zu rechtfertigen. »Ja. Ich darf das, weißt du? Ist meine Entscheidung.«
»Ach?«
Mit einem Seufzer stößt sie den Rauch aus. »Du denkst, er kontrolliert mich.«
»Nein, ich denke, er bevormundet dich. Als wär er dein Vater. Er passt auf dich auf. Bei Verstößen aller Art bestraft er dich.«
»Na ja, ja«, sagt sie und pustet lustige Rauchkringel in die Luft. Stößt Dämonenfeuer aus. »Klar. Egaaal. Jetzt lass uns nicht so blöd streiten, das ist mein erster Tag! Und bitte sag Arlo nichts von den Zigaretten. Wenn er das mitkriegt, hält er mir garantiert einen Vortrag.« Und sie bläst noch mehr Rauch in die kalte Nachtluft. »Das Ding ist, Jo, in meiner Freizeit hab ich gar nichts dagegen, wenn jemand auf mich aufpasst, noch nicht mal, wenn er mir Anweisungen gibt. Verstehst du, warum? Bei der Arbeit muss ich immer alles kontrollieren, deshalb bin ich, wenn ich wiederkomme, auch gern mal die Kleine. Oder die Prinzessin.« Sie grinst anzüglich. »Ist das nicht schrecklich? Ich lasse ihn alles machen. Er soll sich um mich
kümmern, entscheiden, in welches Restaurant wir gehen. Den Wein aussuchen, sogar das Essen. Dann soll er bezahlen. Ist das wirklich so schlimm? Bin ich eine schlechte Feministin? Aber ja. Und scheiß drauf.«
Ich versuche, das unheimliche Glühen in ihrem Gesicht auszublenden; stattdessen schaue ich in ihre freundlichen Augen und denke, vielleicht hat sie recht. Jemand, der auf einen aufpasst. Ich stelle mir vor, es gäbe jemanden, der auf mich aufpasst. Das wäre wunderbar. Jemand Besonderes. Jemand extra für mich, jemand, der mir Sicherheit gibt. Jemand, der mich in ein gutes Restaurant führt und zu einem guten Essen einlädt und mich danach liebt. Gut.
Seufzend gebe ich mich geschlagen. »Du hast ja recht. Außerdem bin ich kaum in der Position, dich zu kritisieren, mein Liebesleben ist eine Wüste. Meinst du, ich sollte mir einen Sugardaddy zulegen? Haare auf dem Kopf müsste er aber zumindest noch haben.«
Während sie ihre Zigarette zu Ende raucht, verfallen wir in Schweigen. Es drängt mich, zu erzählen, was passiert ist. Wir reden schon ewig miteinander, und ich habe es noch nicht mal angedeutet. Und irgendwie ist es auf einmal schon zehn, und wenn sie mit zu Arlo geht, kriege ich heute Abend vielleicht nicht noch einmal die Gelegenheit. Ich werde allein die stille Jacksons Lane runtergehen, immer horchend, ob jemand hinter mir ist, und am Bahnhof Highgate in die menschenleere U-Bahn steigen. Ich hasse den U-Bahnhof Highgate, er liegt unter dem kleinen Stück eingeschneiten Stadtwalds wie ein Grab. Wie die Kulisse eines schaurigen rumänischen Märchenfilms, in dem Wölfe herumstreunen und heulen.
»Tabitha«, sage ich so leichthin wie möglich. »Die ganzen Home-Assistants in der Delancey, du weißt schon …«
Sie bohrt die nächste Kippe in einen Pflanzenkübel mit einem kleinen Baum.
»Mhm. Was ist damit?«
»Wie sind die da eigentlich hingekommen?«
Tabitha runzelt die Stirn. Sie spritzt sich einen Stoß Mundspray in den Mund.
»Entschuldige, aber was meinst du damit?«
»Na ja, wer hat sie gekauft und installiert?«
Das Stirnrunzeln bleibt, aber nur eine Sekunde lang.
»Arlo natürlich. Arlo hat sie für mich gekauft. Aber installiert hat er sie nicht – das wäre viel zu handwerklich.« Sie zieht eine nachdenkliche Schnute. »Wenn ich mich recht entsinne, war das dein Ex-Mann. Der hat sie installiert. Mir zuliebe. Weißt du das nicht mehr?«
»Was?«
»Dein Ex, Süße. Hast du ihn schon vergessen? Simon. Der ist irgendwann vorbeigekommen und hat das alles eingerichtet. Das Smarthome. Das ganze System.«
Damit wendet sie sich ab und kehrt in den Gastraum zurück. Das rote Licht von den Heizpilzen fällt jetzt auf den Rauch, der noch in der Luft steht. Ein zitternder rötlicher Geist, der sich schnell in nichts auflöst. Ich schaue zu und denke über Simon nach, über diese merkwürdige Mitteilung; er hat mir nie erzählt, dass er Tabitha diesen Gefallen getan hat. Kein einziges Mal hat er es erwähnt. Als wir noch verheiratet waren, nicht, und auch danach nie.
Sie alle drei haben das gemacht, ohne mir davon zu erzählen. Dann hat Tabitha mir vorgeschlagen, bei ihr einzuziehen. Und so lächerlich wenig Miete verlangt, dass ich gar nicht Nein sagen konnte.
So ein wunderbares Angebot. Unfassbar verlockend. Komm her, du kannst hier wohnen, mit der ganzen Technologie.
In einem der Heizpilze hat sich eine große graue Motte verfangen. Ich beobachte sie, kann aber nichts für sie tun. Die arme Kreatur, angezogen vom Licht, sitzt in der Falle und findet ein schreckliches Ende. Ich sehe zu, wie sie verbrennt, wie sie im Todeskampf flattert.
Das Letzte, was aufhört zu zucken, sind die Fühler.