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Jo
D ie Gläser sind geleert, die Luft ist geküsst, Arlos Freunde sind in ihre schönen alten Häuser mit Schwimmbad im Keller zurückgekehrt. Ich winke Tabitha noch einmal zu und trete hinaus in eine frostige Nacht, eine gnadenlose Eiseskälte. Der Himmel, die ganze Welt scheint aus kalter schwarzer Materie zu bestehen, die jeden Moment zerspringen kann. Highgate ist eine Daguerreotypie auf Glas, ein fragiles Foto aus den 1840ern; Gruppen grauer Gestalten, verlangsamt, verwischt, leblos in dem eisigen Nebel; weiter unten am Highgate Hill, jenseits des Friedhofs, biegen die Autoscheinwerfer nach links oder rechts ab und verschwinden in immer weitere Ferne, verschwinden unaufhörlich.
Ins Nichts.
Es ist elf, und die meisten Bars und Restaurants in Highgate Village haben schon zu. Warum? Ich finde das merkwürdig, aber vermutlich ist es der nachweihnachtliche Hänger, typisch für Anfang Januar, wenn die Leute kein Geld mehr haben oder zu träge sind, um es mit der Kälte aufzunehmen. So oder so bedeutet es, dass mein Weg die Jacksons Lane runter noch verlassener ist als sonst.
Je weiter ich gehe, desto enger drängen die Häuser aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert sich aneinander, und desto kleiner und älter werden die Gärten, und dann folge ich einem schmalen, von verwitterten Backsteinmauern gesäumten Pfad aus überfrorenem Matsch, und meine Schritte hallen deutlich wider. Ich bin vollkommen allein.
Instinktiv hole ich mein Handy hervor. Vielleicht ist es ja bald vorbei mit der Einsamkeit. Gibt es auf OkCupid Nachrichten für mich?
Nein. Keine einzige. Was habe ich falsch gemacht? Liegt es am Foto, war ich zu ironisch? Wahrscheinlich muss ich mir das Profil noch mal vornehmen.
Doch dann kommt mir, während ich einsam in Richtung U-Bahn wandere, die kalte Luft atme und an meinem Liebesleben verzweifle, ein naheliegender Gedanke.
Liam.
Ich habe ein sehr schlechtes Gewissen wegen dieser virtuellen Flirterei und ihrer Folgen für meine Ehe, aber dass sie mir Spaß gemacht hat, kann ich nicht leugnen. Wir sind uns nie wirklich begegnet – meine Ehe war kaputt, bevor ich den letzten, fatalen Schritt getan hatte –, aber es gab unzählige SMS und Mails, und sie waren sexy. Das waren sie einfach. Er hatte Humor. War intelligent. Voller Selbstironie. Und die Fotos haben einen sehr gut aussehenden Mann gezeigt.
Warum nicht? Es war so abrupt zu Ende. Nachdem ich ihm mitgeteilt hatte, dass Simon unseren erotischen Dialog entdeckt hatte und ich vor der Scheidung stand, bin ich abgetaucht. Es schien einfach das Beste zu sein. Ich hatte zu große Schuldgefühle.
Ich habe ihm nicht mehr geantwortet.
Aber jetzt bin ich geschieden und Single. Vielleicht ist der fesche Liam auch noch Single?
Mitten auf der Jacksons Lane, im eisigen Nebel, bleibe ich stehen und suche Liam. Und da ist er, auf WhatsApp. Und es sieht so aus, als sei er online.
Ein Blick auf die Uhr. Es ist ziemlich spät, aber er könnte bei der Arbeit sein, in der Bar, und ich erinnere mich, dass er immer gern auch spät noch gechattet hat. Wenn wir Nachrichten geschrieben und Fotos geschickt haben, all diese dummen Fotos, ging das oft bis tief in die Nacht. Selbst wenn Simon im Bett neben mir schon leise geschnarcht hat.
Ich schiebe mein schlechtes Gewissen beiseite und schreibe: Hey. Rate, wer hier ist.
Warten. Die Häkchen werden blau. Er hat es gelesen. Jetzt muss er antworten. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Ein Motorrad zischt hügelabwärts Richtung U-Bahnhof; das Licht ist im Nebel so schwach, dass man es kaum sieht. Eine Nachricht erscheint. Von ihm: Liam Goodchild.
Bist du es wirklich? Nach so langer Zeit?
Ich grinse unwillkürlich. Warum bin ich nicht früher darauf gekommen? Warum habe ich überhaupt den ganzen Aufwand mit OkCupid getrieben? Ein Foto fällt mir ein: er auf einem Boot, mit nacktem Oberköper. Oh, ja, Liam Goodchild, ich bin’s, und ich bin bereit.
Er schreibt wieder. Ich starre auf das Display und stutze.
Nein, Jo, nein.
Ich schreibe zurück: Was?
Er schreibt: Ich weiß es jetzt. Ich weiß über dich Bescheid.
Zur Antwort tippe ich: Was weißt du jetzt? Über mich? Verstehe ich nicht. Ich dachte nur, du hättest vielleicht Lust, ein bisschen zu chatten …
Jetzt verstummt er. Er hat meine Nachricht gelesen, reagiert aber nicht. Ich bin eine Statue im eisigen Dunkel, umhüllt von den Wolken meines eigenen Atems. Ist er weg?
Nein, Moment, da kommt eine Antwort.
Zu spät. Ich will nicht reden. So viel Schwärze und Schweigen, und dann das? Nach allem, was passiert ist? Nein.
Ungläubig lese ich es noch mal. Was meint er, zum Henker? Wahrscheinlich ist er betrunken. Oder wütend. Mit zitternden Fingern tippe ich:
Tut mir leid, Liam, aber was meinst du mit allem, was passiert ist? Es tut mir leid, dass ich damals nicht mehr geantwortet habe, aber wir hatten uns darauf geeinigt, dass wir keine Nachrichten mehr schreiben. Jetzt bin ich Single und dachte irgendwie …
Das liest er noch nicht einmal, die Häkchen werden nicht blau. Seine nächste Nachricht platzt mitten in meine hinein. Als hätte er Angst.
Du kapierst nicht, mit wem du es zu tun hast. Kannst du es nicht einfach gut sein lassen? Ich werde nicht verantwortlich sein. Du hast mich nie gekannt. Hör auf, mir zu schreiben, lass mich in Ruhe.
Sonst wird es einen erwischen.
Ich umklammere das Telefon, damit es mir nicht aus der Hand fällt. Das ist nicht der Liam, den ich in Erinnerung habe, er muss betrunken sein, irgendwie neben der Spur. Jetzt hat er die Nachrichten, die er gerade geschickt hat, gelöscht. Und als ich versuche zu antworten, ist die Verbindung weg. Er hat mich geblockt.
Weiße Atemwolken vorm Gesicht, gehe ich auf Facebook. Ja. Hier bin ich auch geblockt. Und Instagram, unser anderer Kanal?
Geblockt.
Ich bin komplett entfreundet worden, bin ausgesperrt, aus seinem Leben verbannt, und als Erklärung bleiben mir nur diese kryptischen Zeilen: Ich werde nicht verantwortlich sein. Hör auf, mir zu schreiben, lass mich in Ruhe. Sonst wird es einen erwischen.
Wie eine Drohung. Als schwebe eine tödliche Gefahr über mir.
Ich überlege, ihn einfach anzurufen; wir haben nur einmal telefoniert – ein paar kurze, leidenschaftliche Worte. Tatsächlich miteinander zu sprechen war zu riskant, zu heiß. Deshalb haben wir beschlossen: Solange wir nicht sicher sind, belassen wir es bei Nachrichten.
Aber wen interessiert das jetzt noch? Ich suche seine Nummer, wähle sie und werde sofort auf die Mailbox weitergeleitet.
Auch hier hat er mich geblockt. Hat sich verdrückt. Er hat Angst.
Wovor?
So viel Schwärze und Schweigen, und dann das?
Als ich, das Telefon wieder in der Tasche, weitergehe, empfinde ich die Verlassenheit hier überdeutlich. Und die Gefahr. In der Jacksons Lane ist nie viel los, aber jetzt ist es noch tausendmal einsamer; die beißende Kälte macht das Alleinsein physisch: Es tut weh, es macht mich angreifbar, schnürt mir die Kehle zu. Das Einzige, was ich höre, ist mein schwerer, ängstlicher Atem.
Ich drehe mich um.
Niemand.
Mein Blick fällt auf Fenster mit zugezogenen Vorhängen und schwarze Hauseingänge; kein Anzeichen von menschlichem Leben, und das macht es noch schlimmer.
Mein Herz flattert, tanzt, wirbelt vor Angst. Vor tiefer ureigener Verletzlichkeit. Daddy, wie er gegen Ende angestürzt kam und mich packte. Er wollte nett sein, liebevoll, lustig, wollte es so machen wie früher, aber jetzt war er zu schnell, zu grob, so, dass ich Angst bekam. Nein. Nein, nein. Ich muss laufen, weg hier, fliehen. Die Panik wird übermächtig, Hilfe.