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Jo
F ast habe ich das Ende der Gasse erreicht. Nähere mich der geschäftigen Archway Road, wo Verkehr herrscht und Leute unterwegs sind und Laternen brennen. Ich atme bewusst langsamer, und mein vernünftiges, logisch denkendes Ich meldet sich zurück. Ich habe mich von Liams Andeutungen in Panik versetzen lassen, weiter nichts. Nein, ich werde nicht verfolgt; nein, rund um den U-Bahnhof lungern keine rumänischen Wölfe.
Liam war einfach … Liam? Wahrscheinlich hat er eine Freundin und will mich aus seinem Leben – seinen Gedanken – heraushalten. Also verscheucht er mich, indem er mir Angst macht. Wahrscheinlich war er sogar mit ihr zusammen, als ich geschrieben habe, und ist seinerseits in Panik geraten.
Ja.
Ich steige in einen ziemlich leeren Waggon, und die Bahn rattert durch die Stationen Archway, Tufnell Park und Kentish Town. In Camden steige ich aus, und dort ist es relativ belebt. Aus dem Pub gegenüber vom U-Bahnhof, dem »Mother Damnable«, heute »World’s End«, dröhnt stampfende Rockmusik. Vor dem Laden, in dem einst Reisende vor Banditen Zuflucht gesucht haben, stehen Typen in der beißenden Kälte, rauchen Gras und lachen über schräge Witze.
Ich habe es nicht mehr weit; an geschlossenen Cafés, schmutzigen Schneehaufen und schickeren Pubs vorbei geht es den Parkway rauf, wobei man von Schritt zu Schritt deutlicher spürt, dass man in eine wohlhabende Gegend kommt. Von den Obdachlosenunterkünften an der Arlington Road, wo zwei Pfund die Nacht verlangt werden, ist man innerhalb weniger Minuten beim prachtvollen Halbrund der Nash Terraces – wo ein Quadratmeter zwanzigtausend kostet.
Gleich bin ich zu Hause. Am Ende des Parkways wende ich mich nach links – und stocke. Gegenüber von meinem Haus, dem Haus, in dem sich Tabithas Wohnung befindet, steht ein Häufchen Leute auf dem Fußweg. Säufer aus der Eckkneipe wahrscheinlich, dem »Edinboro Castle«. Es sieht so aus, als starrten sie alle zu meinen Fenstern hinüber, aber ich verstehe nicht, warum. Was soll an meiner Wohnung so Besonderes sein?
Je näher ich komme, desto deutlich erkenne ich die Verwirrung in den Gesichtern. Was sehen sie? Was ist los?
An der Ecke angelangt, schaue ich nach oben.
Und jetzt sehe ich es auch. Und wünschte, ich würde es nicht sehen.
Auf einen Schlag gehen in der Wohnung sämtliche Lichter an, und zwar grell strahlend. Alle. Die Jalousien sind offen, und die rot gestrichenen Wände, der teure Fernseher und Tabithas geliebte Stahlstatuen sind deutlich zu sehen. Dann werden die Fenster schwarz und reflektieren das Licht der Laternen auf der Delancey Street, die nassen Autos, die am Straßenrand parken – und neuerlich sanft herabschwebende silbrige Schneeflocken. Kurz darauf wiederholt sich das Ganze. Die Lichter gehen an und wieder aus. An und aus. Jede einzelne Leuchte, jede Lampe.
Als wäre die Wohnung lebendig. Als wollte sie jemandem hier draußen Signale schicken. Einen Morsecode. Wem? Und wer ist dort drin und sendet?
Niemand. Jedenfalls kein Mensch.
Ich höre jemanden meinen Namen rufen.
Die Nachbarin drei Türen weiter. Deborah Welland. Sie trägt einen Morgenmantel und schlottert vor Kälte. Als Deborah auf mich zukommt, gehen die Säufer kopfschüttelnd auseinander. Debs ist eine nervöse Frau Mitte vierzig, geschieden, gefärbtes Haar, die Sorte, die sich bei der Stadt über alles beschwert: zu viele Bäume, zu wenige Bäume, zu viele Busse, zu wenige Busse. Aber sie ist gutwillig. Sie würde mir ihren letzten Krümel Zucker leihen, obwohl sie selbst gern drei Löffel pro Tasse nimmt.
»Was ist, Debs? Was ist da los?«
Dumme Frage. Wir wissen beide, was los ist. Sie zeigt nach oben, zu den kleinen Austritten mit den verschnörkelten schmiedeeisernen Gittern.
»Den ganzen Abend«, sagt sie mit halb ängstlicher, halb ungläubiger Miene. »Den ganzen Abend geht das schon so. Deine Lampen gehen an. Dann aus. An, aus. Als wär’s ein Code.«
Sie schüttelt den Kopf, und dann sieht sie mich an. Mitfühlend?
»Aufgefallen ist es mir gegen acht, als ich von der Arbeit kam. Da hab ich das Geflacker gesehen. Dachte, mit den Sicherungen stimmt was nicht. Aber das geht jetzt schon so lange.«
Und während wir beide nach oben schauen, wiederholt es sich. Die Lampen gehen an. Und aus. Wieder und wieder. Eine Minute lang. Ich halte die Luft an wie ein kleines Kind vor einem Horrorfilm. Warum ist das so unheimlich – und zugleich so fesselnd?
Weil die Assistants dahinterstecken müssen. Sie kontrollieren die Beleuchtung. In gewisser Weise entlastet es mich, dass die anderen Leute es sehen, aber die Angst ist trotzdem da, und sie wächst. Was läuft da ab?
»Das ist gruselig … tut mir leid, aber es ist so«, sagt Deborah. »Als wär jemand in deiner Wohnung, der ständig auf die Schalter drückt, aber man sieht niemanden. Du hast nicht einen Geist da oben, oder?«
Das soll witzig sein, ist es aber nicht. Kleine Flocken schmelzen in meinem Gesicht, und die nette, leicht neurotische Nachbarin scheint ziemlich genervt.
»Ich hab versucht, Tabitha anzurufen.« Sie hebt die Rechte mit ausgestrecktem Daumen und kleinem Finger ans Ohr, als halte sie einen altmodischen Telefonhörer. »Dachte, sie hat einen Tipp, ist ja schließlich ihre Wohnung und so … Aber ich hab sie nicht erreicht.«
»Ich war in einem Pub. Mit ihr zusammen. Vielleicht war ihr Handy aus.«
»Mein Gott, guck doch! Schon wieder …«
Deborah hat recht. Die Lampen blitzen weit über die Delancey, auf die Cumberland Terrace, den riesigen Regent’s Park und die gestörten Wölfe, die dort in ihren Zoogehegen gefangen sind.
»Ich geh mal lieber rein«, sage ich ruhiger, als ich mich fühle. »Wahrscheinlich hat die Technik eine Macke – du kennst ja Tabitha. Alles vom Feinsten, immer auf dem neuesten Stand, aber manchmal hakt es auch. Die ganze Wohnung spinnt schon seit Tagen.«
Deborah schaut mich an, blinzelt. Als sei sie nicht sicher, ob ich es ernst meine.
Ich verabschiede mich. Halte mit eisigen Händen einen Schlüssel an das Schließsystem an der Haustür. Atme mehrmals tief durch. Ruhig. Ich will nicht in diese Wohnung. Ganz ruhig. Ich will nicht in die Wohnung .