9
Jo
N
och spüre ich Deborahs mitleidigen, ängstlichen Blick im Rücken, dann trete ich über die Schwelle, ins Trockene, ins Warme, und der Steinboden ist rutschig, wo Flyer von Curry-Läden, Pizzerien und Burger-Lieferanten durcheinanderliegen wie Häufchen von Herbstlaub.
Tiefe Atemzüge. Entweder gehe ich schnell da rein oder gar nicht. Ich laufe nach oben und stecke den Schlüssel ins Schloss meiner Tür, Tabithas Tür; ich habe noch immer nicht das Gefühl, dass das meine Wohnung ist, überhaupt nicht; vielleicht will ich mich innerlich gar nicht so eng damit verbinden.
Was erwartet mich? Die irrwitzigsten technologischen Monster kommen mir in den Sinn, stammelnde Gespenster aus reiner Elektrizität. Tote Dinge. Mein toter Vater. In einer Ecke wird mein toter Vater sitzen und mich ansprechen und sabbern.
Stopp. Ruhig.
Schlüssel. Umdrehen.
Die Tür geht auf. Was ich sehe, ist eine hell erleuchtete Wohnung. Ordentlich, ganz normal. Rot gestrichene Wände. Bilder und Fotos von Tabithas vielen Reisen, von denen wir einige gemeinsam unternommen haben; die meisten allerdings hat sie mit ihrem jeweiligen Freund gemacht, zuletzt mit Arlo.
Mexikanische Keramik-Totenschädel zum Gedenken an den Tag der Toten. Eine winzige echte altägyptische Statue: ein Mann mit Hundekopf.
Ich gehe durch den Flur und geradewegs ins Wohnzimmer. Die Stille hört sich an wie das Summen einer Klangschale.
Alles unverändert. Da sind der Brocken vulkanischen Gesteins aus Äthiopien und die schönen, irgendwie melancholischen Muscheln aus Sanibel, Florida. Dazu Borde voller Bücher – Tabithas Romane und naturgeschichtliche Werke, ein Bord tiefer meine Krimis, Mystery-Thriller, Titel zur Kunstgeschichte und die endlosen Handbücher zum Drehbuchschreiben.
Was auch immer die Lampen veranstaltet haben, wozu auch immer die Assistants die Lampen veranlasst haben, es ist vorbei. Ein Blick aus dem Fenster sagt mir, dass Deborah verschwunden ist. Ebenso die anderen. Die Straße ist leer. War das, was wir gesehen haben, eine Technikmacke, oder war es mehr?
Das einzig Merkwürdige im Moment ist die Kälte. Die Heizung ist aus. Sie hätte an bleiben sollen. Das Smart-Heating ist so eingestellt, dass in der gesamten Wohnung immer, auch wenn niemand da ist, mindestens zwölf Grad Celsius herrschen, damit die Leitungen nicht einfrieren und platzen. Es ist kalt draußen. Und hier drin ist es womöglich noch kälter. Kühlschrankkalt.
Okay, ich muss Ruhe bewahren. Versuchen, nicht an Liam zu denken. An seine Worte. So verdreht sie auch waren. Er muss einen Grund gehabt haben; mit mir hat das nichts zu tun.
Ich öffne die Electra-App auf meinem Handy, gehe auf »Skills« und überprüfe Licht und Heizung. Sieht so aus, als wären die Lampen so eingestellt, dass sie abends um elf angehen, damit es hell ist, wenn ich nach Hause komme. Aber für den Fall, dass ich spät komme, sollen sie offenbar die Nacht über aus bleiben. Okay. Habe ich da selbst einen Widerspruch erzeugt? Ich erinnere mich vage, vorhin im Pub irgend so etwas gemacht zu haben; ich war leicht angetrunken, nicht ganz bei der Sache. Habe ich selbst die Technik aus dem Konzept gebracht?
Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass diese Kälte unerträglich ist.
»Electra, mach die Zentralheizung wieder an. Zweiundzwanzig Grad, bitte.«
Das Diadem glimmt auf, und Electra tönt zurück: »Die Heizung ist angeschaltet und auf zweiundzwanzig Grad Celsius eingestellt.«
»Danke, Electra.«
»Es war mir ein Vergnügen!«
Ich starre sie an, diese neutrale schwarze Säule aus Chips und Drähten, und in mir regt sich Groll. Richtiger echter Zorn. Denn ich bin mir sicher, dass irgendjemand – oder etwas – versucht, mich mürbe zu machen. Erst die hämischen Sprüche, dann die Musik, jetzt die Lampen? Und Liam mit seiner Fast-Drohung.
Sonst wird es einen erwischen.
Ich habe Hinweise, und sie häufen sich, aber ich kann damit nirgends hin. Jedenfalls nicht zur Polizei. Wegen der Vorgeschichte. Wegen des großen, sportlichen, freundlichen Ich-geb-einen-aus-Jamie-Trewin und seines Todes unter Krämpfen und Erbrechen, mit Augen, die so weggedreht waren, dass man nur noch das Weiße sah – und das alles meinet- und Tabithas wegen.
Es reicht. Ich bin müde. Inzwischen ist es spürbar wärmer. Morgen stehe ich zeitig auf, setze mich an die Arbeit und nehme mein normales Leben wieder auf, treffe mich mit einer Freundin, finde eine Freundin, habe Freunde. Ich putze mir die Zähne, creme mir das Gesicht ein, schlüpfe in den Schlafanzug und sage auf dem Weg in mein Zimmer den Assistants, sie sollen das Licht ausmachen.
Gehorsam gehen die Lampen aus. Als würde ich im Dunkeln wandeln, eine Herrscherin mit ihrem Gefolge aus Bediensteten, die die Kerzen löschen. Alles funktioniert, wie es funktionieren soll. Kein Hinweis auf irgendwelche Besonderheiten. Müde krieche ich ins Bett; ich werde gleich weg sein. Doch kaum schließe ich die Augen, wird mir bewusst, dass ich Hoppípolla
höre …
Nein, das bilde ich mir ein. Ich schlafe schon halb.
Nein, ich bilde es mir nicht ein. HomeHelp, die rohweiße, straußeneiförmige Assistentin in meinem Zimmer, hat ihren kleinen Lichterreigen aufgeführt und spielt jetzt leise Hoppípolla
.
»Stopp«, sage ich. »Spiel diese Melodie nicht, spiel sie nie wieder.«
HomeHelp verstummt gehorsam. Aber ich höre Hoppípolla
von woandersher. Aus der Küche. Das kleine Gerät dort hat übernommen. Ich springe aus dem Bett, gehe hinüber und mache das Licht eigenhändig an – den Assistants traue ich nicht. Es ist das schwarze Gerät, das wie ein Hockey-Puck über der Mikrowelle thront. Das plärrt jetzt den schönen Song, an den sich so scheußliche Erinnerungen knüpfen.
»Stopp, STOPP
!«
Das Gerät in der Küche verstummt ebenfalls. Ein paar Sekunden herrscht Stille, und dann geht es wieder von vorn los. Viel lauter. Gott sei Dank ist Fitz’ Wohnung unten noch nicht vermietet. Gott sei Dank sind die wohlhabenden Nachbarn oben noch nicht aus ihrem Endlosurlaub zurück. Sie würden sich alle beschweren, denn es wird immer lauter: Es kommt aus dem Bad, aus Tabithas Zimmer, dem Flur, dem Arbeitszimmer, es dröhnt und hallt und wogt, und ich renne mit wehenden Bademantelschößen hin und her und brülle: »Stopp, stopp, stopp!«, bis irgendwann alle Assistants auf einmal verstummen.
Stille.
Ich warte. Irgendwie weiß ich, dass das noch nicht alles war.
Und es war noch nicht alles. Jetzt höre ich Stimmen. Leiser als die dröhnende Musik, aber deutlich zu verstehen. Einige Männerstimmen, einige Frauen, einige mit britischer Aussprache, andere mit amerikanischer. Es sind die Assistants, die sprechen – mit mir, miteinander, mit jemand anderem.
Und sie sagen seltsame Dinge.
Electra im Wohnzimmer fängt an: »Vollendung ist furchtbar, sie kann keine Kinder haben.«
Was?
Das Gerät in der Diele erwidert: »Die Blutflut ist die Flut der Liebe.«
Jetzt fällt das Wohnzimmer ein: »Vollendung ist furchtbar, sie kann keine Kinder haben. Vollendung ist furchtbar, sie kann keine Kinder haben.«
Aus der Küche schließt sich eine weiche, roboterhafte weibliche Stimme dem Chor an: »Ich bin nackt wie ein Hühnerhals, liebt mich denn keiner?«
Ich laufe von Zimmer zu Zimmer und höre mir mit wachsender Angst diese merkwürdigen Sätze an.
»Hier ist niemand, Jo, hier ist niemand.«
»Ihre Monde loslösen, Monat um Monat, zwecklos.«
»Der Schnee lässt seine Stücke von Finsternis fallen.«
»Kalt wie Schneehauch tamponiert sie den Schoß.«
Jetzt klagt es sanft aus meinem Zimmer; es klingt wie meine verwitwete Mutter: »Nackt wie ein Hühnerhals, keiner liebt mich. Keiner liebt mich. Kalt wie ein Hühnerhals. LIEBT MICH DENN KEINER
?«
Es reicht. Schluss jetzt. Pfeif auf die App, ich ziehe die verdammten Stecker raus, ist mir völlig egal, was das mit den Assistants macht, mit der Technik, mit dem ganzen Smarthome. Es gibt einen Hauptschalter. Bei den Sicherungen …
Ich schnappe mir einen Stuhl, trage ihn in den Flur und klappe den Sicherungskasten auf. Im Gefrierschrank liegt nichts außer Eiswürfeln, also ist es egal.
»Vollendung ist furchtbar. Sie kann keine Kinder haben
…«
Schluss. So. Alles in der Wohnung ist abgeschaltet. Es wird vollkommen still, die Lampen gehen aus, die Heizung auch, und ich werde mich halb totfrieren, aber das macht mir nichts aus. An der Flurwand entlang taste ich mich in mein nachtschwarzes Zimmer. Dort grabe ich blind in der Schublade nach etwas zum Überziehen,
schlüpfe in weitere T-Shirts, Leggings und einen Pullover und krieche unter die Decke, wie um mich zu verstecken. Dann nehme ich ein paar, nein, drei Schlaftabletten aus dem kleinen Plastikbehälter auf dem Nachttisch und schlucke sie alle auf einmal. Danach rolle ich mich wie ein Fötus zusammen, so fest ich nur kann, und kneife die Augen zu.
Ich zittere vor Kälte, verberge mich vor der Dunkelheit, ducke mich vor meinem Wahnsinn weg. Oder verberge mich vor dem Geist von Jamie Trewin, der im Dunkeln vor meiner Zimmertür wartet. Mit glatten weißen Marmoraugen.
Hey, ich geb dir einen aus.