10
Jo
A
ls ich erwache, blicke ich in ein ernstes, schönes Gesicht mit hellblauen Augen.
Tabitha.
Sie starrt herunter auf eine Frau, die dick in normale Klamotten gehüllt im Bett liegt.
Ich merke, dass ich völlig verschwitzt bin; das Bettzeug klebt feucht an mir. Vermutlich ist die Heizung an. Wintersonne fällt herein, denn ich habe vergessen, die Vorhänge zuzuziehen. Darauf habe ich in meiner blinden Panik überhaupt nicht geachtet.
»Was ist denn los, um Gottes willen?«, fragt Tabitha. »Tut mir leid, dass ich hier so reinplatze und dich wecke, aber … Was hast du mit der Wohnung angestellt? Was war mit der Heizung los und den Lampen?«
Sie trägt einen coolen rotbraunen Wintermantel, einen Kaschmirpulli und enge Jeans, die ich mir niemals leisten könnte. Fast militärisch streng, aber schick. Im ersten Moment weiß ich nicht, was ich sagen soll. Ich muss erst einmal zu mir kommen. Und kurz wundere ich mich darüber, wie eifersüchtig ich bin, wie sehr ich sie beneide, meine beste Freundin. Sie ist mir seit jeher und in jeder Hinsicht ein Stück voraus: Sie ist reicher, stammt aus einer bessergestellten Familie. Aber sie ist auch eine Spur größer als ich und irgendwie hübscher; sie ist blond, und ich bin rothaarig; unsere gesamten Zwanziger hindurch haben wir, was Männer anging, in einem verkappten Wettstreit gelegen, und meistens hat sie gewonnen. Haben wir auch um Jamie Trewin konkurriert? Habe ich sie
vorgeschickt in der Hoffnung, dass er sich am Ende mir zuwendet?
Vielleicht ist alles meine Schuld.
»Im Ernst, Jo«, sagt sie und setzt sich, immer noch stirnrunzelnd, ans Fußende meines Bettes. »Was ist los? Ich bin vor einer Stunde von Arlo gekommen, und alles war aus. Also alles
. Und es war eiskalt. Dann habe ich gesehen, dass jemand alles in der Wohnung abgeschaltet hat, am Sicherungskasten!« Sie schüttelt den Kopf. »Gibt es ein Problem? So was musst du mir sagen!«
Mit etwas Mühe setze ich mich auf. In meinen zwei T-Shirts und dem Pullover darüber. Mir ist schmerzhaft deutlich bewusst, was für ein Bild ich abgeben muss. Schweißglänzend. Was sage ich? Das mit Jamie bleibt tabu, es ist so lange her; vollkommen unmöglich, darüber zu reden. Was bleibt dann noch? Ich schinde Zeit, indem ich mir erst den Pullover und dann das zusätzliche T-Shirt über den Kopf ziehe. Schließlich murmele ich eine Antwort.
»Irgendwie waren die Assistants seltsam. Die App. Ich habe wohl mit der App was falsch gemacht, jedenfalls gingen die Lampen ständig an und aus.«
Wieder schüttelt sie irritiert den Kopf. »Wie – die Assistants?«
»Sie haben so komische Sachen gesagt. Und ich hatte vergessen, wie, na ja, wie man mit ihnen redet, wie man sie dazu bringt, etwas Bestimmtes zu tun. Sie bringen mich völlig durcheinander.«
Ich verstumme peinlich berührt. Es ist unmöglich, die Wahrheit auch nur anzudeuten, ohne auf den Kern der Sache zu kommen: darauf, dass die Assistants mit mir reden, dass die ganze Wohnung den Eindruck erweckt, als sei sie lebendig, dass der Tod von Jamie Trewin benutzt wird, um mich glauben zu machen, dass ich verrückt werde.
Alternativ könnte ich Tabitha erzählen, dass ich an mir erschreckend ähnliche Symptome spät beginnender Schizophrenie beobachte, wie mein geliebter Daddy sie erlebt hat, als er ein paar Jahre vor seinem Selbstmord glaubte, der Fernseher erteile ihm
Befehle, und dass ich daher sehr wahrscheinlich tatsächlich verrückt werde.
Wie meine Freundin darauf wohl reagieren würde? Sie sieht ja jetzt schon wie eine besorgte Krankenschwester aus an meinem Bett. Fast rechne ich damit, dass sie mir die Hand an die Stirn legt, um zu fühlen, ob ich Fieber habe. Als sei sie die Mutter und ich das Kind, das sich einen Tag schulfrei erhofft.
Sie zögert einen Moment, und dann sagt sie: »Was soll das heißen, du hast vergessen, wie man mit den Assistants redet? Ich hab dir doch mehrmals gezeigt, wie das mit den Apps geht.«
Ihr Ton ist beherrscht, aber auch leicht ungeduldig. Ernst, professionell. Das ist wahrscheinlich der Mantel, der lässt sie so wirken. Wo kauft sie diese Sachen?
Ihre Körpersprache sagt: Also?
»Was ich meine, ist …« Erst jetzt dämmert mir, dass ich weder die Stimmen noch den Song erwähnen sollte. Ich würde mich zu sehr wie eine Irre anhören. Zu sehr wie Daddy. Also sage ich: »Als ich aus Highgate kam, aus dem Pub, haben die Lampen geflackert, und irgendwas muss ich mit der Heizung angestellt haben, es war eiskalt hier. Aber ich war angetrunken und müde – ich schätze, ich hab irgendwas falsch gemacht. Sieht so aus, als wär ich mit der Technik noch nicht so ganz vertraut.«
»Okay«, sagt Tabitha schmallippig. »Und dann?«
»Und dann …« Während ich mich noch weiter aufrichte, denke ich mir eine Lüge aus. Wenn es sein muss, kann ich hervorragend lügen, das habe ich früh gelernt. Als die anderen Kinder anfingen zu fragen, was mit meinem Vater los sei. Warum er sich so komisch benehme oder warum er so unheimlich sei. Ich habe mich geweigert, zuzugeben, dass er verrückt war. Er war mein Daddy, ich habe ihn geliebt, er war einmal der lustigste und freundlichste Mann auf Erden gewesen, mein Idol, mein Papa, der mir lustige Rätsel aufgab und mich
zum Lachen brachte. Wie konnten sie es wagen, so schreckliche Sachen über ihn zu sagen? Also habe ich mir überzeugende Lügen ausgedacht. Und das Gleiche tue ich jetzt, um Tabithas erwartungsvoller Miene zu begegnen.
»Nach dem ganzen Chaos dachte ich, da ist was kaputt, irgendein Fehler in der Technik, deshalb habe ich einfach am Sicherungskasten alles ausgeschaltet.«
Ich erwidere ihren Blick. Offen. Unbeirrt. Ich habe sie wirklich gern, aber einschüchtern und von oben herab behandeln lasse ich mich nicht. Selbst dann nicht, wenn ich im Unrecht bin.
Meine Lüge – oder Halbwahrheit – scheint zu funktionieren. Sie erhebt sich mit nur noch angedeutetem Stirnrunzeln und schaut auf die Uhr.
»Gott, es ist gleich zehn! Ich muss los, wir sind im Studio beim Schneiden – diese blöden Frösche.« Sie sieht mich kurz an. Mitfühlend, leicht verwirrt, mit einem Ausdruck, den ich nicht zu deuten weiß. »Hör zu, Süße, ich mache dir keine Vorwürfe, ich bin einfach erschrocken, weiter nichts. Es war so kalt in der Wohnung! Weißt du, was?« Langsam zieht sie sich in Richtung Tür zurück, und jetzt lächelt sie das erste Mal an diesem Morgen. »Wollen wir heute Abend schön zusammen essen, nur wir beide, hier zu Hause? Wir machen einen guten Roten auf, und dann erklär ich dir noch mal, wie das alles funktioniert, die Lampen, die Apps, das ganze Drum und Dran. Und wir können ein bisschen über Arlos dummen belgischen Bankerfreund herziehen. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass er ziemlich schräge Vorlieben hat. Köstlich.«
Auf einmal ist sie ganz die Freundin. Sie ist nett. Vielleicht zu nett?
Nein. Was ist mit mir los? Warum traue ich ihr nicht?
»Super!«, sage ich. »Tolle Idee, ein Mädelsabend. Ich koche! Ich mache diesen Fischtopf, Cioppino – weißt du noch?«
»Großartig«, sagt sie. »Mach viel, ich wette, wir haben nicht mal
Zeit, mittagessen zu gehen. Wir werden den ganzen Tag in diesem Studio hocken. Die Chefproduzentin sehnt sich eindeutig nach ihrer Zeit bei der Gestapo zurück.«
Hellblaue Augen. Hübsches Lächeln.
Sie öffnet die Tür, das Lächeln verabschiedet sich.
»Bis später. Überlass die Heizung und alles den Assistants. Ich habe sie neu gestartet. Sie funktionieren wieder.«
Und damit verschwindet sie. Lässt nur ihren Duft zurück.
Es ist der Duft meiner Demütigung. Kostet wahrscheinlich fünftausend Pfund pro fünfzig Milliliter. Ich dagegen rieche nach angetrocknetem Schweiß und ungewaschenen T-Shirts. Die Wohnungstür fällt ins Schloss. Ich starre HomeHelp an. Den eiförmigen Quälgeist. Kein Lichterreigen zu sehen. Nichts. Mein Kopf spürt den letzten Rest Xanax. Die Schlaftabletten. Wie viele habe ich genommen? Ich kann mich nicht erinnern. Schlechtes Zeichen. Ich muss mich zusammenreißen
. Ich muss so sein wie Tabitha. Leistungsstark, energisch, clever, klug, aber auch humorvoll und liebenswert. Warum kann ich nicht so sein wie sie?
Es reicht. Steh auf! Denk nicht an die Vergangenheit. Steh auf
.
Aber es ist zu spät. Als ich mich aufraffe und im Wohnzimmer auf die beschlagenen Fensterscheiben starre, kommen die Erinnerungen hoch, brechen über mich herein wie ein heftiger Weihnachtssturm, wie winterliche Wellen, die über einen kleinen Hafen hinwegschwappen. Jamie Trewin. Armer Jamie Trewin. Am Ende geht alles darauf zurück.