11
Jo
W ir waren so jung. Sehr jung und sehr naiv. Es war das zweite Mal, dass Tabitha und ich in Glastonbury waren, der Sommer nach unserem Abschluss: warm und sonnig. Bei unserem ersten Mal Glasto hatte es geregnet, und unser mickriges Zelt war eingeknickt, und wir hatten es einfach nur furchtbar gefunden. Nach einer Nacht waren wir, die schlammbeschmierten Schlafsäcke hinter uns herschleifend, vor dem knietiefen Erster-Weltkrieg-Matsch in den VW Kombi eines Freundes geflüchtet; wir hatten alle Bands, derentwegen wir gekommen waren, verpasst und noch nicht einmal einen richtigen Rausch hingekriegt.
Daher waren wir bei unserem zweiten Mal Glasto wild entschlossen, uns zu amüsieren. Die Wettervorhersage war super. Die ganze Juniwoche hindurch wolkenloser Himmel. Es fuhren auch jede Menge Freunde und Verwandte von Tabitha hin, sodass wir sicher sein konnten, beim Feiern immer Gesellschaft zu haben. Wir waren schon da, bevor sich auf den schmalen Straßen von Somerset die qualmenden Staus bildeten. Das Zelt war teuer und solide – natürlich von Tabitha gekauft –, eins von diesen Dingern, die man nur hinzuwerfen braucht und die sich dann, zack , von allein aufstellen. Tada, euer Zelt! Wir verstauten die Rucksäcke und machten uns auf, den Spaß zu haben, den wir das erste Mal nicht gehabt hatten.
Wir hörten alle erdenklichen Bands, wir lauschten mittelmäßigen Comedians, wir sahen uns an, wie drei Lesben mit schwarzen Krawatten Hoppípolla von Sigur Rós auf der Ukulele spielten – den Song des Festivals, er war überall und in den verschiedensten Versionen zu hören. Wir begegneten einem Mann auf Stelzen, der Teufelshörner hatte und Maracas schüttelte, einem Lama auf vier menschlichen Beinen, einem Dichter, der seine Sonette in ein Megafon gurrte und dazu die Dreadlocks schüttelte. Wir gingen in eine Schwitzhütte und zogen uns kichernd aus, dann kauften wir ein bisschen E und schluckten die Pillen gerade noch rechtzeitig, um die langsame Welle von Glück, dieses anschwellende, selige, fast verliebte, riesige Ich-umarme-die-ganze-Welt-Gefühl genau in dem Moment zu erleben, als die Sonne rot und symbolhaft und auf magische Weise vollkommen über der heiligen Schulter des Glastonbury Tor unterging. Verrückterweise war das eine der Gelegenheiten, da ich in einem Anflug von Religiosität dachte: Man kann nie wissen . Dann beschlossen wir, in unser Zelt zu gehen und etwas von dem Wein zu trinken, den Tabitha aus dem Keller ihres Vaters geklaut hatte. Auf dem Weg dorthin rief ein großer weißer Typ, dessen Gesicht violett angemalt war, mit gelben Flammen, die aus den Lidern züngelten, Tabithas Namen. »Hey, Tabs!« Sie sah mich an, verdrehte die Augen, lachte und flüsterte: »Ein alter Freund der Familie, wir kennen uns kaum, aber sein Vater kennt meinen. Allerdings heißt es, er hat die besten Pillen; er hat immer die besten Pillen.« Und so drehte Tabs sich um und lächelte Purple Man an und sagte: »Hey, was geht?« Und er kam rüber und grinste und lachte wie ein Irrer, und dann verkaufte er uns ein paar Pillen. »Besser als E«, sagte er immer wieder. »Mädels, Tabs, ihr zwei: Die hier sind besser als alle Pillen in Ewigkeit«, und Tabitha zahlte lässig fünfzig Pfund für vier Stück, und dann stakten wir über knutschende Pärchen hinweg und bahnten uns einen Weg durch eine große Gruppe von Teenies, die ein paar Gitarristen umringten – Hoppípolla natürlich – und kamen schließlich zu unserem Zelt, wo wir anfingen zu lachen und einfach nur lachten und lachten, während wir nach dem Wein suchten und die Taschenlampen fallen ließen und den Korkenzieher hervorkramten.
Ich weiß nicht, was so lustig war. Und ich erinnere mich nicht, jemals sonst so glücklich gewesen zu sein.
Jedenfalls bestimmt nicht danach.
Vielleicht hat unser Gekicher ihn angelockt. Oder unser kreischendes Gelächter, nachdem uns aufgegangen war, dass wir keine Gläser oder Becher hatten, und Tabitha mir Wein direkt in den Mund goss und ich ihr. Als wären wir Heiden, Barbaren, Römerinnen. Vielleicht war es die Kraft des magischen Glücks, die Jamie zu uns gebracht hat. Oder der Teufel, der ihn zu Hexen geführt hat.
Aus welchem Grund und in welchem Zusammenhang auch immer – mitten in der süßen, lauten Glastonbury-Dämmerung tauchte im Eingang unseres Zelts ein hübsches Gesicht auf.
»Jamie!«, sagte ich.
»Jamie, Jamie, Jamie!«, sagte Tabitha und lachte.
Wir kannten ihn beide von der Uni. Er kam aus Neuseeland und absolvierte ein Auslandsjahr. Sein Kiwi-Akzent gefiel mir. Er gefiel mir. Er sah ziemlich gut aus, männlich, aber jung und mit wilder Mähne. Wir hatten auf vielen Partys zusammen getrunken und getanzt, und an der Studentenbar hatte er uns immer einen ausgegeben. Wir fanden ihn beide süß, Tabs und ich, aber es war nie etwas gewesen.
Und plötzlich war er da. In unserem Zelt. Grinste uns an. Ich, noch voll auf E, grinste sexy zurück. Hinter ihm war die große weiße Pyramidenbühne zu sehen. Laut dröhnten Musik und Jubel herüber. Ich blinzelte in die weißen Flutlichtarme, sah Streifenbanner, sich kräuselnde Wimpel, die pompöse Menge, hunderttausend selige junge Leute, die im Dunkeln sangen und tanzten. Das Ganze erschien auf magische Weise uralt und zugleich modern. Es war extrem laut, offensichtlich lief einer der Haupt-Acts. Es hätten auch die neu erstandenen Beatles sein können, uns war das egal. Wir waren einfach zu gut drauf. Hoppípolla!
»Mein Gott«, sagte er. »Ihr habt ja vielleicht Spaß. Was habt ihr denn genommen?«
»Trockenen Cidre«, sagte Tabitha und verschluckte sich fast vor Lachen. »Der ist richtig gut.«
»Haha, als ob!« Jetzt lachte auch Jamie. »Ihr habt doch E oder so was eingeworfen. Ihr könnt mir nicht zufällig ein paar Pillen abgeben, oder? Ich finde einfach niemanden.«
Tabitha und ich sahen einander an. Wir kicherten und grinsten und hatten offensichtlich dieselbe Idee. Warum nicht? Wir mochten ihn beide, er war ein netter, großzügiger Typ; wir waren ohnehin schon halb im chemischen Himmel, wir brauchten keinen Nachschub.
»Genau«, sagte ich. »Na los, Tabs, wir brauchen sie nicht, oder? Sieh uns doch an!«
Ich lachte, sie lachte, sie griff in ihre bestickte Hippie-Girl-Tasche und holte die limettengrünen Pillen heraus, die Purple Man uns gegeben hatte.
»Die sind besser als E«, flüsterte sie mit Verschwörermiene. Besser als sämtliches E bis in alle Ewigkeit. Oder so. »Hier, du kannst sie haben.«
Und dann prusteten wir wieder los. Jamie strahlte und nahm die Pillen mit einem dankbaren Lächeln, und dann zwinkerte er.
»Ihr zwei seid die Besten. Sehen wir uns nachher im Trance-Zelt?«
Wir stimmten sofort zu. Er verschwand von der Bildfläche. Danach verschwamm der Abend immer mehr – eine Zeit lang, eine Zeit lang. Irgendwann trafen wir auf ein paar Freunde von Tabitha und taten so, als seien wir Schafe und Schäferhunde oder Löwen und Tiger; wie die Kinder krochen wir zwischen den Zelten umher, und dann gingen wir in ein großes orange glühendes Festzelt, in dem Schlagzeug und Bässe dröhnten, und tanzten mit Jongleuren mit nacktem Oberkörper und Dreadlock-Typen mit phosphoreszierenden Hula-Hoop-Reifen, und dann chillten wir, indem wir langhaarigen Mädchen mit Bratschen lauschten, und dann trafen wir, wie angekündigt im Trance-Zelt, auf Jamie, der mit irrem Blick euphorisch und selig tanzte.
»Hallo, Ladys!«, jubelte er. »Habt ihr Lust, mit in mein Zelt zu kommen? Bisschen chillen? Ich habe köstlichen Kiwi-Wein.« Und dazu grinste er auf diese jungenhaft männliche Art. »Das Zelt ist übrigens ein Riesenteil, draußen bei den Hochspannungsmasten, und meine Kumpel sind bei ihren Freundinnen. Wir haben es die ganze Nacht für uns.«
Und das war er, der schicksalhafte Augenblick, der schicksalhafte Entschluss.
Ich denke daran und schaue zu Electra, hier auf Tabithas Regal. Still und stumm steht sie da. Dunkel. Und beobachtet.
Urteilt.
Warum haben wir uns darauf eingelassen? Ging es von Anfang an um Sex?
Warum auch immer, ich rief eifrig: »Klar!«, und Tabitha lächelte wissend und sagte: »Ja, warum nicht?«
Und so schoben wir uns durch die Massen und schlenderten in eine abgelegene, ziemlich leere Ecke des Campingplatzes, verlassen und dunkel. Und Jamies Zelt, auf dem stolz die neuseeländische Flagge wehte, war wirklich riesig, und es gab ausgezeichneten Sauvignon Blanc aus einer Thermosflasche und daher immer noch kalt. Und während er zittrig und kaspernd den Wein einschenkte, stammelte er: »Diese Pillen also – wow. Die Pillen, die du mir gegeben hast, Tabs, die sind so scheiße gut, das Beste, was ich je hatte. Da bin ich dir was schuldig!« Dann zwinkerte er. »Euch beiden!«
Wein eingeschenkt, einander zugeprostet, eng zusammengekuschelt, und los ging’s. Ich weiß nicht, welche von uns beiden Jamie zuerst geküsst hat. Ich glaube, das war ich. Auf jeden Fall haben wir ihn beide geküsst, und dann wurden aus den Küssen Küsse , und dann hatte er sein Hemd ausgezogen und ich mein Top, und seine großartigen Muskeln schimmerten in dem sehr, sehr schwachen Licht, das von irgendwo weiter her kam, wie Wellen aus Gold. Und dann küsste Tabitha ihn, und er hatte die Hand unter ihrem Kleid, und ich hatte die Hand an seinen Jeans und dachte, total angetörnt, das ist er jetzt, mein erster Dreier, hab ich noch nie gemacht, wow, was für eine Erinnerung . Es war das Gefühl, erwachsen zu werden, Thornton Heath hinter mir zu lassen; niemand in Thornton Heath hatte je einen Dreier erlebt.
Und so trudelten wir durch den Abend, und ich wusste nicht mehr, wer wen küsste und ob das irgendeine Rolle spielte, und Jamies Mund war auf meiner Brust, und mich überliefen lustvolle Schauer, und als er sich an mich drängte, kicherte Tabitha und sagte: »Ups, bevor’s ernst wird, muss ich noch mal«, und taumelte aus dem Zelt – und ich drehte mich wieder zu Jamie um.
Er näherte sich zum nächsten Kuss, aber als ich ihn ansah, fuhr ich zurück. Ihm lief etwas aus dem Mund, wie Wein, nur wusste ich, dass das kein Wein war. Es war Blut. Dick quoll es über seine Unterlippe. Bächeweise Blut. Und er wusste es nicht. Mir wurde schlecht, ich wich zurück.
Und auf einmal war er nicht mehr der Jamie, den ich kannte. Er neigte den Kopf und nuschelte etwas, röchelte, den Mund voller Blut; er lallte irre, und seine Augen waren komisch, sie drehten sich weg, bis fast nur noch Weißes zu sehen war, dann wurden die Pupillen winzig, und ich rief Tabitha – Tabitha! Hilfe!  –, und im selben Moment fing Jamies Kopf an, heftig zu wackeln, und rosa Schaum rann ihm aus dem Mund und vermischte sich mit dem Blut, und sein ganzer Körper zuckte, auf und ab und auf und ab.
»Jamie, Jamie, was ist denn nur los?«
»Nn…«, sagte er, mehr brachte er nicht heraus, und dann erbrach er sich, wie im Horrorfilm schoss es aus ihm heraus, geradewegs an die Zeltwände, und sein Körper wand sich in heftigen Krämpfen, einmal, zweimal, und »Achch«, krächzte er kehlig, »diese … Pillen – achch …«
Irgendwie kam er hoch und verließ das Zelt und rannte los. Schnell, schnell, schnell in die Dunkelheit. Zu den feiernden Massen, dem größeren Campingplatz, wo Mädchen in knappen Sommerkleidern melancholische rote chinesische Laternen in den schwarzen Himmel schickten.
Einen Augenblick lang blieb ich in dem Zelt sitzen. Reglos. Starr vor Angst und Verwirrung. Dann tauchte Tabitha wieder auf, ein weißes Gesicht im Zelteingang.
»Was ist los? Wo ist er denn hin?«
In meiner Panik war ich zu nichts imstande.
»Ich weiß nicht. Er hat gesagt, die Pillen, die er von uns hatte … dass er davon krank ist. O Gott, Tabs! Was haben wir angerichtet?«
Beide rannten wir raus, zogen uns im Laufen die Klamotten zurecht, stürmten in Richtung Menge. Zwei oder fünf oder zehn Minuten lang drängten wir uns zwischen Leibern hindurch, die sich ihrerseits gegen uns drängten, und dann hörten wir es, hörten sie. Die Polizeisirenen, die Rufe der Polizisten, und dann sahen wir das blinkende Blaulicht eines Rettungswagens. Aus Richtung des Hauptcampingplatzes auf dem Glastonbury-Gelände.
Alle bekamen den Aufruhr mit, in Wellen durchlief er die feiernden Massen wie ein Alarm einen Ameisenhaufen. Viele Leute entfernten sich kopfschüttelnd vom Ort des Unglücks. Ich dagegen drängte in die entgegengesetzte Richtung.
»Komm«, sagte ich zu Tabitha. »Wir müssen wissen, was los ist.«
»Nein, nein, nein«, gab sie zurück. »Los, wir kehren um!«
Hätte ich doch nur auf sie gehört, wäre ich doch nur umgekehrt. Ich hätte es nie gesehen. Hätte es vielleicht nie erfahren.
Aber ich wollte unbedingt helfen. Mein Möglichstes tun. Also zog ich sie mit mir zwischen den Grüppchen hindurch, bis dahin, wo sie sich lichteten und den Blick auf das Schreckliche freigaben. Einen von Flutlicht beschienenen Flecken Gras, auf dem Polizisten im Kreis standen und in ihre Funkgeräte sprachen. Aus ihren Fahrzeugen und dem offenen Rettungswagen drang grelles Licht. Rettungskräfte hockten über den jungen Mann gebeugt, der inmitten des Kreises auf dem Boden lag. Es sah aus wie ein Caravaggio. Mit dem hatte ich mich an der Uni befasst. Dunkelheit und Licht, starke Kontraste. Es gibt immer eine zentrale Figur, um die herum die Komposition angeordnet ist. Und hier war die Figur im Zentrum Jamie.
Natürlich war es Jamie. Der gutaussehende junge Mann. Gerade mal zwanzig. Der Typ, der Rugby spielte und so gern einen ausgab. Ach, Jamie.
Er zuckte und bog sich, dass mir ganz elend wurde vor Mitleid – und vor Angst. Er hatte mehrere schlimme Anfälle: Die Augen glitten weg, bis nur noch Weißes da war, die Augäpfel quollen gruselig hervor, und er zitterte am ganzen Leib, als sei er besessen, schaukelte zur Seite und ruckte erneut auf und ab und auf und ab. Und dann erbrach er sich wieder, spuckte rotes Blut und gelbliche Flüssigkeit – und der letzte Krampf war so heftig, dass einer der Sanitäter, die zu verhindern suchten, dass er sich das Rückgrat brach, hintenüberfiel.
Während wir entsetzt zusahen, registrierte ich, wie Tabitha sich nach jemandem umdrehte, der, halb durch andere verdeckt, weiter hinten in der Menge stand. Purple Man. Ihr Bekannter. Er sagte kein Wort. Er neigte nur langsam den Kopf in Richtung Jamie. Dann schaute er Tabitha fragend an – und sie nickte. Kurz.
Purple Man legte einen Finger an die Lippen und bewegte ihn zur Seite, als ziehe er einen Reißverschluss zu. Und dann starrte er uns beide an, fuhr sich einmal mit der Hand quer über die Kehle und verschwand zwischen den Leuten.
Daraufhin zerrte Tabitha, noch mehr verängstigt, an mir, doch ich konnte mich nicht losreißen. Mein Blick ging wieder zu Jamie. Jetzt krampfte er nicht mehr, er lag still da. Schrecklich still. Und plötzlich waren die Sanitäter über ihm und pressten seinen Brustkorb rhythmisch zusammen. Sie hatten ihm Elektroden – von einem Defibrillator – auf die Brust geklebt und wiederholten die Druckmassage mehrmals verzweifelt, bis schließlich eine von ihnen sich aufrichtete, ihren Kollegen ansah und den Kopf schüttelte.
Jamie war tot. Ich wusste es. Seit ich Purple Mans Geste gesehen hatte, wusste ich, was wir Jamie Trewin angetan hatten. Wir hatten ihm Pillen gegeben, an denen er gestorben war.
Tabithas weiche Hand griff nach meiner, und jetzt ließ ich mich mitziehen, in Richtung Zelt, fort von dem, was da passierte. Wir mussten weg. Zugleich wusste ich, dass ich dem, was da passierte, nie entkommen würde.
Und wie es aussieht, bin ich das auch nicht.
Ich sitze in der Delancey und beobachte ein Polizeifahrzeug, das mit jaulender Sirene angejagt kommt und kurz hält. Wildes Geheul. Übertrieben.
»Electra, erzähl mir von Jamie Trewin.«
»Entschuldigung, das weiß ich nicht.«
»Electra, woher weißt du, was mir auf dem Glastonbury Festival passiert ist?«
»Entschuldigung, das weiß ich nicht.«
Weiter sagt sie nichts. Spüre ich in der Art, wie sie verstummt, so etwas wie Selbstgefälligkeit?
Ich kehre zu meinen Erinnerungen zurück.
Tabitha und ich zogen uns unauffällig in die Dunkelheit zurück, in unser kleines Zelt; kein Gekicher mehr, keine Albereien mit dem Korkenzieher. Eine Weile saßen wir einfach nur da, Tabitha schluchzte leise, ich war den Tränen nahe. Vielleicht war ich zu schockiert, um zu weinen, zu traurig, benommen, verängstigt.
Nach zehn Minuten holte Tabitha tief Luft, seufzte und sagte: »Okay, das dürfen wir niemandem erzählen. Niemals.«
»Was?«
Sie schüttelte den Kopf. Riss die Augen weit auf. Dann legte sie mir die Hände auf die Schultern und drückte mich, als wollte sie mich auf den Boden holen, zurück in die Wirklichkeit.
»Jo, ich weiß, wie es nach so etwas läuft. Genau das Gleiche ist dem Bruder von einer Freundin passiert, Hugo. Er war gerade mal zweiundzwanzig, hat sich auf einem Rave ein paar Pillen gekauft und sie weitergegeben, ohne sie ausprobiert zu haben. Und der Typ, dem er sie gegeben hat, ist gestorben. An einer Überdosis. Die Pillen waren, na ja, stärker als gedacht.«
»Aber er konnte doch nichts dafür. So wie wir auch nichts dafürkönnen.«
Da packte sie meine Schultern so fest, dass es wehtat.
»Jamie ist tot, verstehst du? Wenn so was Schlimmes passiert, ist das völlig egal, da gibt es keine Rechtfertigung. Nicht vor dem Gesetz. Kapierst du das nicht?«
»Erzähl«, sagte ich leise. »Wie ist es für diesen Hugo ausgegangen?«
»Er ist wegen Totschlags verurteilt worden und ins Gefängnis gewandert. Fünf Jahre muss er sitzen, Jo. Damit ist sein Leben versaut, so viel steht fest.«
Irgendwo in der Ferne schwebte der Song dahin.
»Also deshalb«, dachte ich laut, »hat Purple Man diese Geste gemacht, Mund zu und Kehle durch. Er weiß das; er weiß, dass wir alle da drinhängen.«
Tabitha wurde lauter. Um uns herum war genug Lärm, niemand konnte uns hören.
»Wir hängen in gar nichts drin – solange wir Ruhe bewahren und es niemandem erzählen, niemals. Keinem. Purple Man wird nichts sagen. Niemand wird etwas sagen. Niemand hat gesehen, was wir gemacht haben; niemand hat gesehen, wie wir Jamie die Pillen gegeben haben; niemand hat uns in sein Zelt gehen sehen, in dem Zelt gibt es keinerlei Beweise. Es ist total unwahrscheinlich, dass er irgendwem erzählt hat, wo er die Pillen herhatte, oder dass er unsere Namen erwähnt hat. Alles wird gut. Alles wird gut .« Ihr Blick brannte sich in meinen. »Aber wir schwören jetzt etwas, okay? Wir werden über das, was heute Abend passiert ist, nie wieder reden. Wir erzählen es weder unseren Verwandten noch sonst jemandem. Niemand weiß es. Wir werden noch nicht einmal miteinander darüber sprechen. Okay? Für den Rest der Welt waren wir in Glastonbury, haben gefeiert und ein bisschen Gras geraucht, und dann sind wir wieder nach Hause gefahren, und über den Typ, der gestorben ist, wissen wir nichts. Wir wissen nichts. Wir haben nichts gemacht. Wir haben nichts gesehen. Wir sagen nichts. Niemals. Abgemacht?«
Damit ließ sie die Hände von meinen Schultern gleiten und streckte mir die Rechte hin, und ich ergriff die kleine weiche Hand und schüttelte sie.
»Einverstanden«, sagte ich, irgendwie erleichtert, weil meine beste Freundin Tabitha die Sache in die Hand genommen hatte. Da zeigte die Privatschule, die beherzte Mädchen zu Führungspersönlichkeiten voller Einfallsreichtum heranzog, doch Wirkung.
Tabitha seufzte. Schon wieder ganz bei sich. Als wollte sie sagen: Ist nicht schön, muss aber sein.
»Mein Gott, wir müssen schlafen. Ich hab ein paar Temazepam. Willst du?«
»Ja, bitte«, sagte ich kleinlaut, und Tabitha gab mir die Tablette, und ich nahm sie mit eklig warmem Cidre, und dann krochen wir in unsere Schlafsäcke. Kurz ging mir noch durch den Kopf, was geschehen würde, wenn noch jemand starb. Waren wir nicht verpflichtet, die Leute zu warnen? Doch dann begriff ich, dass es unmöglich war, das zu tun, ohne den Verdacht auf uns zu lenken. Wir konnten also nur beten, dass Jamie das einzige Opfer war. Und den Mund halten.
Und seitdem haben wir den Mund gehalten. Getreu unserem Schwur.
Zurück an der Uni, las ich die Zeitungsberichte über Jamies Tod – Neuseeländischer Student bei Musikfestival Überdosis zum Opfer gefallen, Polizei sucht Dealer, bisher keine sachdienlichen Hinweise  – und informierte mich über die Gesetzeslage bei drogenbedingten Todesfällen, um herauszufinden, ob Tabitha recht hatte. Sie hatte: Was wir getan hatten, wurde als Totschlag gewertet. Der einzige Vorteil bestand darin, dass außer Jamie niemand den von uns weitergegebenen Drogen zum Opfer gefallen war. Aber der Umstand, dass wir ihm das Zeug ahnungslos, in aller Unschuld, überlassen hatten, wirkte sich nicht strafmildernd aus. Es waren illegale Drogen gewesen, wir hatten sie jemandem weitergegeben, derjenige war in der Folge ihres Konsums gestorben.
Totschlag.
Durchschnittliche Strafe: drei bis fünf Jahre Haft. Und unser Leben, unsere Karriere ruiniert. Unsere Familien blamiert.
Danach ist es mir nicht mehr schwergefallen, mich an den Schwur zu halten. Ein einziges Mal habe ich ihn gebrochen, und das liegt Jahre zurück: Ich habe es Simon erzählt. Ich hatte ständig Albträume – die habe ich immer noch –, in denen ich wieder und wieder sah, wie Jamie sich krümmte und sich übergab, wie das Blut aus seinem Mund quoll, als er mich küssen wollte, und irgendwann hat Si gefragt, was mit mir los sei, und ich musste es ihm erzählen, musste es mir von der Seele reden. Er war mein Mann. Ich wusste, dass ich ihm trauen konnte. Und tatsächlich war er voller Mitgefühl und sagte nichts; er konnte sich in unsere Lage versetzen, schließlich hatte er auch hin und wieder Drogen genommen. Das hätte jedem passieren können.
Er hat mich bedauert und getröstet. Was das angeht, war er immer ein guter Ehemann.
Ach, Simon.
Tabs hat, soweit ich weiß, nie jemandem davon erzählt. Außer vielleicht ihrem Verlobten, Arlo, dem Menschen, der ihr in den vergangenen drei Jahren am nächsten war. Auf jeden Fall haben Tabitha und ich uns eisern an den Vorsatz gehalten, nie wieder miteinander darüber zu sprechen. Kein einziges Mal ist die Rede darauf gekommen.
Komischerweise hat sich das auf unsere Freundschaft positiv ausgewirkt. Was Jamie unseretwegen zugestoßen ist, hat uns aneinander gebunden. Seitdem sind wir gute Freundinnen, loyal und zugewandt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mir auch deshalb angeboten hat, für einen so lächerlichen Mietpreis bei ihr zu wohnen.
Dennoch scheint diese schöne Wohnung im Augenblick alles andere als ein Glücksgriff zu sein. Ich starre in Richtung Home-Assistant.
»Electra, erzähl mir von Glastonbury.«
»Das Glastonbury Festival ist ein Musik- und Kunstfestival. Es findet alljährlich in der Nähe des Glastonbury Tor in Somerset statt.«
Gespannt warte ich auf die Fortsetzung: Es war der Schauplatz eines berüchtigten Todesfalls, gestorben ist der zwanzig Jahre alte Geografiestudent Jamie Trewin. Du warst es, die ihn getötet hat, in seinem Zelt, du hattest die Hand in seinen Jeans; du weißt genau, wie seine Augen sich verdreht haben, bis nur noch das Weiße zu sehen war …
Aber das alles sagt Electra nicht. Ihre Lichter erlöschen. Und so schrecklich die Erinnerungen auch sind, mein Leben muss weitergehen.
Muss.