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Jo
E
ine Stunde später sitze ich, geduscht, Kaffee im Blut und Frühstück intus, vor meinem Laptop, starre auf den Bildschirm und versenke mich in die Arbeit. Wühle mich für die Neue-Gegend
-Kolumne durch Berichte über das historische Camden. Erfahre, dass zu der Zeit, in der Camden noch als eine Art Slum galt, nur ein paar Türen weiter Dylan Thomas in einer kalten, heruntergekommenen Kellerwohnung gehaust hat. Er hat sich über Dreck und Ruß von den Zügen beklagt, die durch die Tunnel und über die offenen Schienen ratterten. Dass er überhaupt hier gewohnt hat, lag daran, dass es so billig und so unbeliebt war. Vor einem Monat habe ich mitbekommen, dass ein Haus hier gleich nebenan für drei Millionen zum Verkauf stand. Die Hälfte eines Lebensverdienstes.
Hier in der Gegend ein Haus zu erben oder in den Fünfzigern oder Sechzigern eines gekauft zu haben, entspricht in der Währung des Immobilienbesitzes einem Lottogewinn. Es verändert das Leben.
Ich werde nicht erben, ich werde nie kaufen können. Für mich gibt es keinen Lottogewinn. Ich habe ausgerechnet, dass ich mit meinem Freelancer-Einkommen ungefähr dreihundert Jahre arbeiten müsste, um so viel zusammenzusparen, dass ich mir in dieser Gegend eine kleine Einzimmerwohnung kaufen könnte. Es sei denn, ich schreibe besagtes Hammerdrehbuch. Das kann doch nicht so schwer sein! Drei Akte, fünfzehn Beats, zwei oder drei Schlüsselszenen und eine überraschende Wendung in der Mitte. Dann ein Anruf aus L. A., von meinem Bruder. Wir lieben das Buch. Hier kommen deine
fünfhunderttausend Pfund.
Ein Traum. Aber es ist der einzige, den ich habe.
Mein Blick schweift durch die edel eingerichtete Wohnung, die ich mir nie leisten könnte. Die Wohnung starrt zurück, als gehörte ich nicht hierher.
Das reicht.
»Electra, nenn mir die Zutaten für Cioppino.«
»Cioppino ist ein Fischtopf, den italienische Einwanderer in San Francisco erfunden haben. Es gibt viele Rezeptvarianten, aber für alle braucht man verschiedenste Meeresfrüchte: Garnelen, Langusten, Muscheln …«
Electra tut, was sie soll. Ich kenne das Rezept, aber eine kleine Auffrischung schadet nicht. Die Kräuter und Gewürze, diese köstliche Tomatensoße. Alles klar.
Das ist gut. Einigermaßen
. Langsam fühle ich mich normal. Einigermaßen
. Ausgerüstet mit Schal und Handschuhen, stemme ich mich gegen den Winterwind, der wie ein Napalmsturm den Parkway rauffegt und die Leute in die Cafés treibt, gehe in den Supermarkt und erledige meinen Einkauf. Seeteufel, Estragon, Sauerteigbrot zum Dippen. Wichtig. Der Wind scheucht mich zurück nach Hause, doch kurz vor der Camden High Street, die ich überqueren muss, bleibe ich stehen. Trotz der Kälte. Mein Handy hat ein leises Pling von sich gegeben. Eine WhatsApp-Nachricht. Von Fitz.
Hallo, Jo, frohe Botschaft. Habe endlich Mieter gefunden, ziehen nächsten Monat ein. Nettes Paar, wunderbar langweilig, glaube, er ist Banker. Gut, oder? Ist so einsam bei euch da im Haus. Sie können auf dich aufpassen. Nächste Woche ein kleines Gelage?
Irgendetwas an der Nachricht macht mir Angst. Sie können auf dich aufpassen
. Warum schreibt er das? Warum erwähnt er, dass es im Haus einsam ist? Weiß er etwas? Bestimmt nicht. Soll wahrscheinlich
einfach nur witzig sein. Vielleicht eine Anspielung auf mein Liebesleben. Ich antworte.
Fitz! Sehr gut. Ist wirklich einsam im Haus! Ja, Gin! Viele! Ich melde mich.
Die Häkchen färben sich blau. Mitten im Camden-Getriebe stehe ich da und starre auf mein Handy. Schaue mir die Liste mit den WhatsApp-Chats an und sehe den Namen Liam Goodchild. Und darunter: nichts. Weil er sämtliche Nachrichten gelöscht hat. Nach dem seltsamen Telefonat auf der Jacksons Lane.
Liam Goodchild …
Er kam mir defensiv vor am Telefon, ängstlich vielleicht, aber was er gesagt hat, klang auch nach einer Drohung. Zufall?
Liam Goodchild. Vielleicht würde ich, wenn ich mehr über ihn wüsste, besser verstehen, was mit mir passiert.
Aber wie stelle ich das an? Ich kann nicht in der Wohnung herumsitzen und fröhlich vor mich hin browsen, ohne dass die Assistants genau mitschneiden, was ich mache, sowohl online als auch im richtigen Leben. Sie können Zugang zu meinem Laptop haben. Sie können Zugang zu meinem Google-Account haben.
Nein. Ich muss ins letzte Internetcafé von Camden. Und das ist genau hier gegenüber, auf der anderen Seite der High Street.
Handy in die Tasche, und rein in den schäbigen Laden, wo ich die Tüten mit den Einkäufen zu beiden Seiten des Drehstuhls auf den Boden stelle. Hier wimmelt es von ausländischen Studenten, die meisten mit Kopfhörern im Ohr und einen Coffee to go in der Hand. Ausländische Studenten sind vermutlich die Letzten, die auf solche Läden noch angewiesen sind.
Ich beuge mich vor, schließe erst einmal Google, das sich automatisch geöffnet hat, und verwende einen anderen Browser. Einen, der seltener benutzt wird, Firefox
. Vor ein paar Jahren habe ich
immer über Firefox gesucht, aber irgendwann bin ich zu Google zurückgekehrt. Wieder bei Google zu sein hat alles so viel einfacher gemacht: Man begibt sich in die Obhut eines oder zweier großer Techunternehmen, und sofort passt alles im Leben zusammen, vom Kalender über die Musik und die Heizung bis hin zum Telefon. Leichten Herzens lässt man zu, dass sie einen beherrschen, überallhin vordringen, einem Ansagen machen, einen betreuen. Sie werden zu Eltern, man selbst wird das Kind. Und wer weiß schon, wie weit das reicht? Wer weiß, wie umfassend Electra, HomeHelp und die anderen mein Internetleben im Griff haben?
Also Firefox. Vorsichtig, aber voller Neugier tippe ich »Liam Goodchild« und »Facebook« ins Suche-Fenster. Denn da hat unser Kontakt sich im Wesentlichen abgespielt.
An Liam Goodchilds Facebook-Seite erinnere ich mich lebhaft – ich habe sie unzählige Male besucht. Vor allem erinnere ich mich an die Bilder von ihm beim Laufen, Tauchen oder Segeln. Sportiv, ohne Hemd, verrückt, aber sexy. Nicht der Typ, der verworrene Nachrichten schickt und anschließend löscht.
Schwarz starrt der Bildschirm zurück.
Liam Goodchild hat keine Facebook-Seite.
Ich klicke noch einmal. Noch einmal. Und noch einmal. Der junge Spanier neben mir schaut schon herüber, das spüre ich, er beobachtet meine nervösen Gesten, mein manisches Geklicke. Na und? Nein, doch, nein, doch, nein
. Er ist nicht da
. Verwirrt starre ich auf den Bildschirm, der mir nicht weiterhilft. Liam Goodchilds gibt es mehrere. Hunderte, um genau zu sein. Aber sie leben in Amerika, Schottland, Australien, Dublin, Bristol, Croydon – nur nicht in Barnet, Nordlondon, wo Liam gewohnt hat.
Keine Spur von ihm.
Weg.
Mache ich etwas falsch? Hat sich ein dummer Fehler
eingeschlichen?
Ich gehe auf meine eigene Facebook-Seite und starte eine neue Suche. Wieder nichts. Er ist wirklich von FB
verschwunden. Alle Spuren gelöscht, kein Oben-ohne-Foto mehr, keine GIFs mit abstürzenden Kätzchen, nichts.
Okay. Ich atme tief durch. Und jetzt? Was ist mit seinem Twitter-Account? Er hat selten was auf Twitter gemacht, genau wie ich, aber ich weiß, dass er einen Account hat, denn so hat er mich das erste Mal erreicht, und sein Username war denkwürdig: @GoodChildBadChild.
Voller Spannung rufe ich Twitter auf. Mein Mund ist völlig ausgetrocknet, so nervös bin ich.
Auch der Twitter-Account ist verschwunden.
Es gibt keinen @GoodChildBadChild. Weg, in Luft aufgelöst. Es ist, als wäre er gestorben, nein, nicht einfach gestorben. Es ist schlimmer. Es ist, als hätte er auf Twitter und auf Facebook nie existiert.
Ich versuche, mir die Anspannung nicht anmerken zu lassen. Da sitze ich, während um mich herum die Studenten auf Spanisch oder Suaheli durcheinanderplappern, und spüre eine neue, nicht zu ortende Bedrohung. Mir ist deutlich bewusst, wie meine Nackenhaare sich aufstellen.
Was ist mit Liam Goodchild passiert? Ich klammere mich an ein paar letzte Strohhalme.
Checke Instagram: weg.
Checke Snapchat: weg.
Was kann ich sonst noch probieren? Vielleicht eine allgemeine Suche? Mein Puls rast, meine Finger fliegen über die Tasten, ich prüfe alles, was in Verbindung mit *Liam Goodchild*erscheint: Bilder, Schnipsel, Nachrichten. Zum Beispiel weiß ich, dass ich, als wir anfingen zu flirten, mal nach Bildern von ihm gesucht und mehrere gefunden habe, eines von seinem LinkedIn-Account, eines von seinen Facebook-Fotos. Dieses umwerfende Lächeln.
Und?
Auch sie sind weg
. Alle. Es gibt Goodchilds auf der ganzen Welt, aber von ihm, meinem Beinahe-Verführer, findet sich kein einziges Bild. Ein Rätsel hoch drei. Wie kann das sein? Wie bringt man sich online dermaßen komplett zum Verschwinden? Heißt es nicht immer, das sei unmöglich? Und warum passiert das, einen Tag nachdem wir dieses seltsame Telefonat hatten?
Unwillkürlich schlage ich die Hand vor den Mund. Voller Angst. Eingeschüchtert. Dann schließe ich die Augen und zwinge mich, beide Hände flach auf den Tisch zu legen. Vielleicht beruhigt mich das. Als ich den Kopf hebe und die Augen wieder aufschlage, fällt mein Blick auf einen jungen Mann im hinteren Teil des Ladens. Er starrt mich unverwandt an. Was will er? Was bedeutet das? Ich muss mich zusammenreißen! Hier eine Szene zu machen, und sei sie noch so kurz, wäre dumm.
Mit einem künstlichen Lächeln – he, mir geht’s gut, alles in Ordnung – senke ich den Blick wieder und konzentriere mich auf den Computer, lösche meinen Browserverlauf. Dann erhebe ich mich, greife die Tüten mit den Einkäufen, gehe zur Kasse, zahle für die Internetnutzung und trete hinaus in die Kälte, wobei ich mein Telefon anschalte, um keinen Verdacht zu erregen.
Bei denen, die mich beobachten, wer auch immer es ist.
Auf dem Weg gehe ich alles noch einmal durch. Liam war gestern Abend entweder betrunken oder verängstigt. Und seitdem hat seine Angst sich offenbar so weit gesteigert, dass er sich komplett aus dem Internet getilgt hat.
Oder jemand hat ihn getilgt. Warum? Wer ist es, der ihm solche Angst einjagt; wer wäre in der Lage, ihn, falls er es nicht selbst getan hat, aus dem Internet zu löschen? Vor allem wüsste ich gern, wie sein seltsames Gerede damit zusammenhängt. Dieser eine, unheimliche Satz geht mir nicht aus dem Kopf.
Sonst wird es einen erwischen.