13
Jo
I
n der Wohnung angelangt, mache ich mich gleich in der Küche zu schaffen, nehme das Kochen in Angriff, langsam und gewissenhaft.
Ich koche gern, es beruhigt mich; mit den Händen etwas zu machen klärt den Kopf. Die ganze Grübelei darüber, was mit Liam passiert ist, nützt nichts, ich kriege es nicht heraus; es ergibt einfach keinen Sinn. Stattdessen öffne ich schon mal eine Flasche Roten, damit er atmen kann. Dann ist er, wenn Tabitha nach Hause kommt, genau richtig.
Ein Schlüssel unten in der Haustür. Tabitha. Es sind Stunden vergangen, ohne dass etwas Besonderes vorgefallen wäre, ich habe einfach nur nachgedacht und gekocht. Als meine Freundin, noch ein paar weiße Flocken von den Schultern des edlen braunen Mantels fegend, in die Küche kommt, schenke ich ihr ein breites, nur halb vorgetäuschtes Lächeln.
»Hm, das riecht göttlich. Wie lange noch?«
»Du kommst genau richtig. Es ist fertig.«
»Tada«, sagt sie. »Ich decke auf.«
»Schon erledigt. Und ich hab einen Amarone aufgemacht, den magst du doch.«
Ich sehe ihr an, dass sie sich freut. Und vielleicht eine Spur von schlechtem Gewissen hat.
Gewollt schnodderig sage ich: »Und, wie war dein Tag, Liebes?«
Sie lacht und greift sich ein Weinglas und die Flasche.
»Ich hab mich schon immer gefragt, ob wir ein gutes lesbisches Paar abgeben würden.«
»Könnte sein. Aber Arlo würde sicher darauf bestehen, dass er mitmischen kann.«
Sie grinst, trinkt einen Schluck und lehnt sich rücklings gegen den Granittresen.
»Oja. Das stimmt. Er ist so was von sexbesessen. Na gut, ich hab Hunger. Lass uns anfangen.«
Wir setzen uns an den Tisch im Wohnzimmer, ich fülle Cioppino auf, sämig, tomatig, viel Fisch, viel Knoblauch und würzige Kräuter, und Tabitha macht sich mit seligen Lauten darüber her. Bald öffnen wir eine zweite Flasche Roten, und das Gespräch plätschert angeregt dahin, von Freunden über weitere Freunde zu irgendwelchem Gerede über Arlo; von dem, was wir unter Wildnis verstehen, über Popsongs, in denen gepfiffen wird, bis hin zu dem einen Mal, da sie in Colorado einen Bären gesehen hat und Angst hatte, obwohl sie in einem Auto saß.
»Ich meine«, sagt sie, »was hätte der Bär schon machen können? Die Autotür mit einer Kreditkarte aufbrechen? Ach, egal. Josephiiiiin, liebste Jo-Jo, sollen wir noch eine Flasche köpfen? In der hier ist kaum noch was drin. Und guck, ich hab ein Geschenk!«
Sie beugt sich über eine Tüte, die sie beim Hereinkommen in die Ecke gestellt hatte, und holt eine Schachtel heraus. Aufdruck und Form der Schachtel verraten, was drin ist: wohl eines dieser brandneuen Smart-Displays mit Kamera, ein Gerät, das alles kann, was die anderen Assistants können, aber zusätzlich mit Kamera und Bildschirm ausgestattet ist, sodass man Videoanrufe machen oder via Drop in
bei Freunden vorbeischauen, das heißt, sie in ihrer Wohnung sehen kann, ihr Gesicht, den jeweiligen Raum oder die Küche. Tabs hat in ihrem Zimmer schon so ein Teil stehen. Sie benutzt es, um sich abends von Angesicht zu Angesicht mit Arlo zu unterhalten. Eher von Linse zu Linse.
Allein der Gedanke macht mir Angst. Dieses einsame, nie
ermüdende Auge, das einen unablässig beobachtet.
Mit schon leicht weinverwaschener Artikulation sagt Tabitha: »Ich habe heute Morgen mit Fitz einen Kaffee getrunken und ihm erzählt, dass du …«, sie lächelt warmherzig, »also … vielleicht ein bisschen einsam bist? Wie auch immer, das hier war sein Vorschlag. So kannst du mit mir reden, mein Gesicht sehen – mit allen reden, die auch so etwas haben. Und es zeigt dir deinen Kalender, erinnert dich an Sachen und alles!«
Das erklärt wohl die Nachricht von Fitz. Während ich noch darüber nachdenke, holt Tabitha den neuen Assistant stolz aus der Schachtel und stöpselt ihn ein. Das Gerät, das im Wesentlichen aus einem Bildschirm besteht, gibt einen tiefen Gongton von sich, und entlang seiner oberen Kante flimmert eine Linie aus freundlich schimmerndem blauem Licht.
Reflexhaft platze ich heraus: »In mein Zimmer kommt das Ding nicht.«
Tabitha fixiert mich über ihr Weinglas hinweg. Währenddessen leuchtet der Bildschirm auf; er beobachtet uns.
Wer
oder was
beobachtet uns?
»Auch gut«, sagt sie achselzuckend, wenn auch etwas säuerlich.
Mir ist bewusst, wie ruppig ich bin, aber bei dem, was ich gerade durchmache, kann ich nicht anders.
»Ich dachte, das wäre nett für dich«, erklärt Tabitha. »Ein bisschen Gesellschaft. Wenn du den ganzen Tag allein hier arbeitest und schreibst, musst du dich doch isoliert fühlen. Und du brauchst ja nichts Visuelles damit zu machen, du kannst wie gehabt Electra in ihrem Regal fragen.«
»Es kommt nicht in mein Zimmer. Es bleibt hier!«
Ich bin laut geworden, was mir eine ärgerliche Tabitha-Grimasse einträgt.
»Okay, okay, wie gesagt, auch gut. Mein Gott, das ist ein Geschenk,
Jo-Jo. Ich hab es für dich gekauft – für uns.«
Ich starre sie an. Ich starre das Gerät mit seinem unschuldigen Bildschirm an, und ab jetzt geht alles schief. Eine Flasche Rotwein hätte vollauf genügt, wir aber haben zwei getrunken. Nun kommen all meine Ängste hoch und verwandeln sich in Wut.
Wer auch immer es ist, warum jagt er – jagen sie – mir solche Angst ein? Ich kann es nicht länger für mich behalten. Zeit, dass ich es mir von der Seele rede; meine beste Freundin muss es erfahren. Zumindest teilweise. Und so erzähle ich Tabitha von Liam, von seinem plötzlichen Verschwinden aus dem Netz, davon, wie er den Kontakt zu mir abgebrochen hat.
Tabitha zuckt nur flüchtig die Achseln. Vielleicht ärgert sie sich, weil sie mich undankbar findet. Ungerührt fummelt sie an dem neuen Gerät herum, stellt die Helligkeit ein und sagt beiläufig: »Ich kann’s ihm nicht verübeln. Manchmal würde ich auch gern einfach verschwinden. Dieses ganze Online-Zeugs verschlingt viel zu viel Zeit. Eigentlich schlau, so abzutauchen.«
»Schlau?«
»Ja, der ganze Facebook-Kram ist doch lästig. Und bringt überhaupt nichts. Und Twitter ist ein mieser Laden, in dem jeder mit jedem streitet. Grrr.«
Erneut zuckt sie gelangweilt die Achseln. Und ich lasse mich von ihrer blasierten Heuchelei provozieren.
»Nur dass ich das richtig verstehe, Tabs. Du sagst, das Internet ist dir zuwider, und trotzdem …«, ich zeige auf das neue Teil auf dem Tisch und dann auf Electra im Regal, »hast du diese ganze Technik. Die Assistants. Deine Wohnung wird praktisch vom Internet zusammengehalten
. Wie passt denn das bitte zusammen?«
Wir sind kurz davor, uns ernsthaft zu streiten.
»Das ist doch was anderes«, sagt sie entnervt. »Ich hab gesagt, die Social Media sind mir zuwider, nicht das Internet an sich.«
»Genau.«
Noch ein entnervter Blick.
»Ja. Genau. Und was geht dich das an? Ich mag die Technik nun mal. Sie kann unglaublich viel, und sie macht mir Spaß. Du musst …« Sie sieht aus, als könnte sie gleich etwas echt Verletzendes sagen. »… da mal aufholen, Jo. Den Trend akzeptieren, dich fit machen. Ich zeig’s dir. Mit Electra kommt doch ein Fünfjähriger klar! Weiß der Geier, was du da gestern Abend gemacht hast!«
»Ich habe gar nichts gemacht …« Wie gern würde ich zurückfauchen, sie angreifen! Die vornehme Tabs kann ein richtiges Miststück sein. Sie weiß überhaupt nicht, wie gut es ihr geht. Allein dieser Mantel würde mich mein ganzes Monatseinkommen kosten! Aber ich bringe es nicht fertig, ich kann nicht grob sein. Sie ist meine beste Freundin. Und ein Zerwürfnis kann ich mir schlicht nicht leisten, denn dann müsste ich ausziehen, und ich kann es mir nicht leisten auszuziehen, und ich möchte nicht ausziehen, ich bin sehr gern hier.
Jedenfalls war ich es.
Trotzdem nagt der Ärger an mir. »Hör zu, Tabs, es tut mir leid, aber wozu brauchst du dieses ganze Electra-Zeugs überhaupt? Einen blöden Butler in einer Box. Eine Kamera, die ständig alles beobachtet. Warum nicht die Heizung selbst regulieren wie jeder normale Mensch? Mit einem Thermostat? Diese elektronischen Diener braucht man doch überhaupt nicht …«
Mit finsterer Miene schenkt sie sich Wein nach und knallt die Flasche wieder auf den Tisch.
»Merkst du eigentlich, dass du nicht nur mich verletzt, sondern auch Arlo? Er hat die Technik gekauft, das war ein Verlobungsgeschenk! Und du trampelst hier rein und ziehst sämtliche Stecker raus wie eine Irre.« Unsere Blicke treffen sich. Ihre Augen, halb zusammengekniffen, funkeln, und ich schätze, meine sehen genauso aus; es kann jeden Moment gewaltig krachen, sie weiß
Bescheid über meinen Vater, den ich so geliebt habe und der mir so fehlt; sie weiß, was es für mich heißt, eine Irre genannt zu werden. »Werd doch endlich mal erwachsen, Jo, akzeptier die neue Zeit. Ich finde es schön, dass du hier bist, aber du kannst meine
Wohnung nicht so umkrempeln, wie es dir
passt. Außerdem. Diese Assistants. Sind ein Sicherungssystem, das mit Arlo verbunden ist. Schalte sie bitte nicht einfach aus.«
Ich leere mein Glas. Entsetzt.
»Was?«
Sie gestikuliert. Eine bleiche Hand, die aus einem Kaschmirärmel ragt.
»Ich hab hier allein gewohnt, und Arlo hat sich Sorgen gemacht – du weißt ja, in seinen Augen ist Camden eine Zone ohne Recht und Gesetz –, deshalb hat er dafür gesorgt, dass meine gesamte Home-Technik mit seiner verknüpft ist. Er hat Simon gebeten, das alles so einzurichten: Er kümmert sich darum, dass ich in Sicherheit bin; er kann mich hören, kann über das Gerät in meinem Zimmer auf mich aufpassen. Und jetzt kann er auch auf dich aufpassen. Deshalb ist es ja so wichtig, dass die Sachen an bleiben.«
Habe ich das richtig verstanden? Das ist grotesk!
»Du meinst«, mit Mühe kann ich verhindern, dass meine Stimme bebt, »du meinst, Arlo kann über die Assistants die ganze Zeit hören, was sich in dieser Wohnung abspielt? Er kann mich über diese Kameras beobachten? Guckt er mir beim Pinkeln zu, oder was?«
»Also bit-te. Mach dich nicht lächerlich. Er hat hier kein fest installiertes und verlinktes Kamerasystem wie irgendein Voyeur, Jo, es ist einfach so, dass er, ja, hin und wieder checken kann, wer sich in der Wohnung aufhält, und zwar, indem er sieht, was HomeHelp und Electra und die anderen alle so machen, ob es irgendwo ein Sicherheitsproblem gibt.« Eine weitere vage Handbewegung, fast, als wollte sie mich damit provozieren. »Heute hat er mich angerufen und
gefragt, warum sie gestern alle abgeschaltet worden sind. Verstehst du, so funktioniert das. Er weiß, was vor sich geht, aber live zusehen kann er nur, wenn du ihm die Erlaubnis erteilst.«
Ich werfe meine Serviette auf den Boden.
»Und damit bist du einverstanden? Du fühlst dich da nicht kontrolliert? Die ganze Zeit beobachtet er uns aus der Ferne. Mein Gott, das ist doch kompletter Wahnsinn!«
»Ach, komm runter …«
»Nein! Tabitha. Denk doch mal nach!«
Wir starren einander an. Sie fährt sich über die Lippen, senkt den Blick, hebt ihn wieder, schaut mich an – und schweigt. Einen Augenblick lang scheint unsere Freundschaft auf der Kippe. Dann ändert sich Tabithas Gesichtsausdruck.
»Okay. Hör zu. Bitte … Es tut mir leid.« Sie versucht es mit einem entschuldigenden Lächeln. »Ich war biestig, tut mir leid.«
Obwohl ich ziemlich angetrunken bin, sehe ich ihr an, dass es ihr ernst ist mit der Versöhnung. Wir sind seit Jahren beste Freundinnen. Manchmal, wenn wir genug getrunken hatten, hat sie gesagt, dass sie mich liebt, und ich habe ihr das Gleiche gesagt. Haben wir ein seltenes Mal Streit, finden wir das beide schrecklich. Und dieser Streit ist – oder war – ein richtig übler.
»Es tut mir leid, Jo! Ich hab’s verstanden. Und wahrscheinlich klingt es, wenn man sich an die Technik noch nicht gewöhnt hat, und das hast du ja offensichtlich nicht, wirklich ein bisschen nach Orwell.«
Sie schiebt eine Hand über den Tisch. Greift meine und drückt sie.
»Es tut mir ehrlich leid.«
Ich zögere. Ich starre auf ihre weiße Hand, die meine drückt, und sage: »Hört Arlo jetzt zu? Guckt er vielleicht zu? Es würde ihm bestimmt gefallen, wenn wir uns küssen; sollen wir so tun, als ob wir in Fahrt kommen?«
Es ist ein lahmer Versuch, ein halbherziger Scherz, aber er scheint
zu funktionieren. Sie lacht träge.
»Nein«, sagt sie. »Er ist mit seinem perversen belgischen Freund unterwegs. Außerdem funktioniert es sowieso nicht so; er sitzt nicht mit Kopfhörern in irgendeiner Kammer und sieht sich Material aus Überwachungskameras an; er kann lediglich die Interaktionen verfolgen, beobachten, was die Assistants machen; über das Teil in meinem Zimmer kann er mich, ohne einen Knopf drücken zu müssen, mit Video anrufen, kann zu mir reinschauen, so was. Und er kann checken, ob es uns gut geht!« Sie seufzt und schaut in ihr Glas. »War ein bisschen viel, oder? Entschuldige.«
»Ist doch immer ein bisschen viel bei uns. Schließlich sind wir Freundinnen.«
Unsere Blicke begegnen sich, der Zorn ist verflogen. Ich vermute, dass wir beide an Jamie Trewin denken. Für den es auf jeden Fall ein bisschen viel war.
Welchen Gedanken wir auch gleichzeitig nachhängen oder nicht, sie haben den Ärger verscheucht.
»Oha«, sagt Tabitha, »gleich Mitternacht. Ich räume noch schnell auf. Und du gehst schlafen, du siehst müde aus.«
Ich sträube mich nicht. Ich bin
müde.
Dankbar für die warme Decke und – trotz unseres Zwists – Tabithas tröstliche Gegenwart, krieche ich ins Bett und bitte HomeHelp, das Licht auszumachen. Und als es dunkel ist und nichts anderes zu hören als Tabitha, wie sie die Spülmaschine einräumt und die Küche in Ordnung bringt, drehe ich mich auf die Seite und warte auf den Schlaf.
Er kommt nicht. Ich möchte keine Schlaftabletten nehmen. Ich bin doch wirklich müde. Sogar auf Kaffee habe ich verzichtet, um meinen Schlaf nicht zu beeinträchtigen. Und trotzdem kommt er nicht. Vielleicht ist das die Angst. Mir ist gerade erst klar geworden, was Tabitha da eigentlich gesagt hat. Selbst wenn ich will, kann ich die Technik nicht abschalten. Arlo wird es mitbekommen und Tabitha
sagen, sie soll mich rausschmeißen, und nach diesem Streit kann ich nicht sicher sein, dass sie sich gegen ihn stellt.
Ich drehe mein Kissen um und starre im Dunkel auf das 3-D-Oval, das HomeHelp ist. Das Ei, das nun fest eingepflanzt ist: in mich.