17
Jo
E ndloses Geschrei. Konvulsionen laufen durch seinen Körper, irgendwie in dem Rhythmus, in dem er vor Schmerzen heult. Die Augen drehen nach oben weg, kleine, glatte Alabastereier; die Hände sind zu Krallen erstarrt. Und die ganze Zeit fällt das grelle Licht von Taschenlampen und Scheinwerfern auf Jamie Trewins krampfenden Körper. Seltsamer rosa Schaum rinnt ihm aus dem Mund und seitlich übers Gesicht, als hätte er quietschbunte Süßigkeiten gegessen.
»Komm«, drängt Tabitha leise und zieht an meiner kalten, schweißfeuchten Hand. »Wir gehen ins Zelt. Hier sind wir im Weg.«
Selbst im Dunkeln lese ich in ihrer verzweifelten Miene, was sie eigentlich meint: Lass uns abhauen, um Gottes willen, das waren wir, wir hängen da drin, du hast Purple Man doch gesehen …
Und trotzdem harre ich aus. Es drängt mich – drängt mich schrecklich, aus tiefstem Herzen, selbstzerstörerisch, tollkühn –, mich weiter durch die aufgeregte Menge zu schieben, bis ganz nach vorn, zu den Polizisten zu gehen und alles zu gestehen: Wir haben ihm Drogen gegeben. Das waren wir. Verhaften Sie mich.
»Schau«, sagt Tabitha. »Jo!«
Ich hätte es auch so gesehen. Etwas Seltsames geht vor sich. Die Sanitäter entfernen sich von Jamie.
Ein Polizist schreit: »Weg da, alle, treten Sie zurück!«
Irgendwie hat Jamie sich aufgerappelt. Neben der Sanitäterin erscheint er riesig, er ist eins neunzig.
»Halten Sie ihn! Runter mit ihm!«
Ein Polizist versucht ihn zu packen, ein anderer beugt sich vor, will helfen, doch Jamie schüttelt sie lässig ab, wie ein Comic-Monster, als seien sie Kinder und er der einzige Erwachsene. Und dann kommt er auf mich zu. Woher weiß er, in welche Richtung er gehen muss? Er muss doch blind sein, und trotzdem scheint er es zu wissen, denn seine blicklosen weißen Augen sind, als er in Laufschritt fällt, starr auf mich gerichtet.
»Lauf!«, schreit Tabitha. Zu spät. Jamie hält mich gepackt, drückt mir mit seinen harten Händen die Kehle zu, wirft mich, erschreckend mühelos, rücklings auf den nasskalten Boden und kniet sich auf meine Brust. Will mich erdrosseln. Ich sehe das Blut in meine Augen schießen, dann wird alles schwarz. Und bleibt schwarz, auch als ich seine Spucke im Gesicht fühle, kalt und heiß und nass, und ich blicke auf, und Daddys Finger schließen sich immer enger um meinen Hals, er lacht, er ist jetzt kein Kitzelmonster mehr. Er will mir wehtun, mich umbringen, und mein Bruder schreit: »Mami, Mami, Mami, Daddy bringt Jo um, Mami!«
Daddy!
Und.
Schwarz. Grau. Wach.
Endlich, mit einem schrecklichen Krächzen und ausgetrocknetem Mund komme ich zu mir. Hier liege ich. Starr. Im Dunkeln. Eine Schaufensterpuppe, auf dem Boden abgelegt. Wo bin ich? Delancey? Ja. Ich bin zu Hause, in meinem Zimmer. In der Delancey Street. Und die Spucke im Traum, das waren Tränen; ich habe im Schlaf geweint.
Es ist nur ein Traum. Wieder ein Traum von Jamie. Ich träume oft von ihm, und es ist jedes Mal schrecklich. Manchmal träume ich, dass er auf mich losgeht, manchmal träume ich, dass er mich vergewaltigt. Und manchmal, wie eben, verwandelt er sich in meinen Vater, manchmal sogar in meinen Vater am Tag seines Todes. Jamie in Glastonbury wird zu Daddy auf dem Totenbett. Im Krankenhaus. Wo sie ihn eilig noch hingebracht hatten, raus aus dem Auto, in dem er sich mit Gas das Leben genommen hatte wie diese Dichterin ein paar Häuser von hier.
Diese Träume sind die schlimmsten.
Eines ist allerdings neu: die Tränen. Noch nie habe ich im Schlaf geweint. Ein paar Augenblicke bleibe ich so liegen. Starre auf den blassen Umriss eisigen grauschwarzen Nachthimmels rund um den blauen Vorhang.
Die Uhr zeigt 03:30. Tiefste Nacht, wie ein Graben im Ozean, wo der letzte Lichtschimmer sich im Nichts verliert und aus der Schwärze seltsame, hässliche Lebensformen aufsteigen.
Sobald die Tränen getrocknet sind, mache ich die Nachttischlampe an. Ich brauche ein Buch. Irgendein Buch. Hier. Das tut’s.
Die Prinzipien des Drehbuchschreibens . Verfasst von einem berühmten Hollywood-Autor, der sogar einen Oscar gewonnen hat und natürlich verspricht, mir zu verraten, wie man es anstellt, seinen eigenen Hollywood-Hit zu landen.
Ich klappe das Buch auf einer dicht bedruckten Seite auf, und der Text verschwimmt vor meinen Augen. Dann fällt mir ein, dass ich diese Sachen alle auch auf Audible habe. Ich lasse das Buch sinken, mache die Lampe aus und sage: »Okay, HomeHelp, lies mir aus Die Prinzipien des Drehbuchschreibens vor. Ab Seite siebenundzwanzig.«
Ihre Lichter kreiseln. Sie antwortet: »Okay, ich beginne auf Seite siebenundzwanzig von Die Prinzipien des Drehbuchschreibens . ›Behalten Sie die Struktur, die Sie auf einer Seite skizziert haben, immer im Blick. Unter jeder Überschrift notieren Sie in ein, zwei Zeilen Ihre Ideen. Dann, unter Eröffnungsbild  – das werden Ihre ersten fünf bis zehn Seiten –, halten Sie kurz ein paar Themen und Schauplätze fest. Eine Frau in einem Boot oder vielleicht ein Detektiv, der im Schnee nach einer Blutspur sucht. Das machen Sie für alle Ihre fünfzehn Beats. Schreiben Sie immer alles in den Rechner …‹«
So geht es monoton weiter. Nicht unangenehm. Die Stimme beruhigt mich. Vielleicht ist es tatsächlich so einfach: Fünfzehn Sätze auf einer einzigen Seite, und man hat seinen Entwurf?
Ich bin allein in der Wohnung, Tabitha ist bei Arlo. Die Assistants sind brav, tun das, was sie tun sollen. Könnte sein, dass ich übertrieben habe. Ich habe nun mal schlimme Träume, manchmal bin ich ein bisschen ängstlich, vielleicht nehme ich zu viele Tabletten, nur um schlafen zu können, die können den Verstand etwas aus der Bahn werfen. Weiter nichts? Genau, weiter nichts. Ich drehe nicht durch, alles wird gut. Liam ist mit einer Frau zusammen und hat deshalb beschlossen abzutauchen; und zur Strafe dafür, dass ich meinerseits abgetaucht war, hat er mich ein bisschen erschreckt. Die vergehende Nacht macht mir die Lider schwer. Sechs Uhr. Drei Stunden sind verstrichen. Ich weiß nicht, warum, aber mein Hirn folgt einem Dreistundenzyklus, jedenfalls weiß ich, wenn ich um zwei oder um drei oder um fünf aus einem Albtraum hochfahre und drei Stunden wach bleibe, kann ich danach friedlich wieder einschlafen, aller Wahrscheinlichkeit nach ohne Unterstützung durch Alprazolam. Da hilft es, dass ich Freiberuflerin bin. Ich muss nicht um acht aufstehen.
Ich bitte HomeHelp, mit dem Vorlesen aufzuhören, und mache die Augen zu. Der Schlaf kommt schnell, umarmt mich, umklammert mich, ein willkommener Sukkubus, liegt tröstlich schwer auf mir wie ein Mann, wie Simon früher, als wir jung und irgendwie verliebt waren und ich es mochte, wenn er einfach auf mir lag.
Mein Denken verlangsamt sich, kippt schwer dem Nichts entgegen.
Ein leiser, sich wiederholender Klingelton holt mich zurück. Mein erster klarer Gedanke ist: die Assistants. Der Ton muss von ihnen kommen.
Im Dämmerlicht spähe ich zu HomeHelp hinüber. Nichts. Keine kreiselnden Lichter. Kein Ton.
Während der Schlaf sich zurückzieht, wird mir bewusst, dass ich die Tonfolge kenne. Ganz klar, so klingt es, wenn ein Skype-Anruf eingeht. Und es muss von meinem Laptop kommen, aus dem Wohnzimmer. Meine Tür steht halb offen, sodass ich sogar den hell schimmernden Bildschirm auf dem Tisch sehen kann.
Ein Skype-Anruf.
Ich wickle mich in meinen Morgenmantel. Es ist frisch in der Wohnung, aber nicht eisig. Die Heizung muss in der Nacht wieder angesprungen sein. Als ich barfuß durch den Flur tappe und ein par Lampen anmache, bin ich dankbar für das bisschen Wärme, das noch da ist. Der Skype-Ton erstirbt. Verpasst. Aber ich will wissen, wer es war. Wer ruft mich um diese Zeit an? Gähnend setze ich mich an den Tisch und schaue auf den Bildschirm. 06:20. Von Morgendämmerung noch keine Spur an einem Wintermorgen um diese Zeit. An den Fensterscheiben klebt Spitze aus Eis; die ersten Pendler, Lkws und Lieferfahrzeuge liefern sich zwischen den Ampeln auf der Delancey Rennen; graue Schatten, die durch Strudel von kaltem Dunst schießen.
Der Klingelton setzt wieder ein. Die Nummer sagt mir nichts. Sie ist lang. Ausland. Eine von diesen aberwitzigen Nummern, bei denen das Ganze über Namibia oder Singapur umgeleitet wird.
Ach, mein Bruder , denke ich. Der spinnt mal wieder da in L. A . Er ruft zu den unmöglichsten Zeiten an, vergisst die Zeitverschiebung, verrechnet sich mit den Stunden.
Ich drücke die Taste, nehme den Anruf an in der Erwartung, das immer noch hübsche Gesicht meines Bruders auftauchen zu sehen. Im Hintergrund seine helle Wohnung im südlichen Kalifornien. Ob sie es auch jetzt dort so beneidenswert warm und sonnig haben? Werde ich meinen süßen Neffen und seine Plastikdinos zu sehen kriegen? Wie viel Uhr ist es gerade in L. A.?
Auf dem Bildschirm erscheint eine Gestalt.
Eine merkwürdige Angst legt sich mir auf die Brust. Die Gestalt ist einfach eine Gestalt. Dunkel. Eine Silhouette. Der Schatten von jemandem. Sieht aus wie eine Frau. Langes Haar, schmale Schultern. Aber das Gesicht ist schwarz, es liegt tief im Schatten. Ich erkenne nichts als den Umriss.
»Hallo«, sage ich. »Wer ist da? Wer sind Sie?«
Schweigen.
»Ist Ihnen bewusst, dass es hier sechs Uhr morgens ist? Haben Sie sich verwählt?«
Die Gestalt sagt nichts. Sie rührt sich nicht.
»Hallo? Hören Sie, wenn das ein Scherz sein soll, legen Sie auf. Ich werde diese Nummer blockieren.«
»Hallo, Jo. Hier ist Jo. Ich bin du.«
Die Luft im Raum steht. Es ist kalt. Ich schweige. Mein Mund geht auf. Schließt sich. Bebende Lippen. Ich bin so verstört, so entsetzt, dass ich zurücktaumele. Physisch.
Ich bin diese Person.
»Hallo, Jo, sag dir Hallo.«
Mir brennen die Sicherungen durch. Sie hat recht. Das bin ich. Diese Person, diese Gestalt, dieser Schatten, dieses Ding, es spricht mit meiner Stimme. Mit mir.