19
Jo
I
ch versuche einzuschlafen. Ich schaff’s nicht. Ich nehme eine Xanax. Sie wirkt nicht. Ich liege genauso ängstlich da wie vorher, nur fühle ich mich schwerer. Träge und ängstlich. Aber auch wütend. Sind es Simon und Polly? Sind sie es nicht? Das muss ich herausfinden, sie ausschließen oder eben nicht. Ein für alle Mal.
Irgendwann kapituliere ich, stehe auf, verpasse mir eine Dosis Nespresso – und sobald die Uhr eine halbwegs zivilisierte Zeit anzeigt, sobald ich annehmen kann, dass mein Ex bei der Arbeit ist, rufe ich ihn an und lade ihn zum Essen ein. Für heute Abend. Dass es so schnell gehen muss, scheint ihn zu wundern, er wirkt äußerst zögerlich – murmelt irgendwas wegen Polly –, aber als ich ein bisschen drängle, ihn beinahe anflehe, willigt er schließlich ein.
»Na gut, okay«, sagt er. »Um sieben? Wo?«
»Vinoteca«, sage ich. Das ist das große, moderne, luftige Weinlokal nicht weit von Google und dem St Martins College, in der geschäftigen, runderneuerten Gegend um King’s Cross. Da sind wir oft gewesen.
Er sagt zu und legt auf. Ich gehe ins Wohnzimmer und lenke mich mit Kaffee und News-Lektüre und Arbeit und Twitter ab. Und damit, in die Kälte hinauszustarren.
Inzwischen ist der Vormittag vorbei und der Nachmittag mitsamt Dämmerung auch, und gegen halb sieben fahre ich mit einem Uber-Wagen zu dem Restaurant, wo ich zu einem netten Tisch in der Ecke geführt werde. In dem Laden mit den riesigen Fensterfronten herrscht reges Treiben, und es ist laut, viele gut aufgelegte junge Londoner, die
unter den coolen Leuchten Wein schlürfen. Ich lasse den Blick über die Tische schweifen und denke an die vergangene Nacht. Daran, wie ich mich selbst angerufen und mir Angst eingejagt habe – oder wie jemand anders, jemand, der sehr clever ist, mir Angst eingejagt hat, indem er so tat, als sei er ich.
Wie funktioniert das? Die Lache war so echt, genauso die Stimme, die Aussprache, der Gesprächsverlauf.
Einen fragenden Ausdruck auf dem jungen Gesicht, schwebt ein Kellner heran und fragt mit leichtem osteuropäischem Akzent, ob ich bestellen möchte. Ich schüttele den Kopf, sage, dass ich noch auf einen Freund warte. Es fehlt nicht viel, und ich ergänze: meinen Ex-Mann, der möglicherweise versucht, mich in den Wahnsinn zu treiben.
Der Kellner verschwindet.
Ein Blick aufs Handy sagt mir, dass es fünf vor sieben ist. Ich spähe nach draußen auf die dunkle Plaza – auf die »Vinoteca«-Säulen mit dem Kreuzgittermuster und die glänzende, hell angestrahlte Rotklinkerfassade des »German Gymnasium«. Hier ist alles entweder aus Stahl und Glas oder aus aufpoliertem viktorianischem Backstein.
Ein Mann starrt zu mir herüber. Er sitzt, in mehrere Mäntel gewickelt, im kalten Schein der Straßenlaternen draußen auf einer Bank. Reglos wie ein Leichnam, während um ihn herum Pendler vorwärtshasten, um dem schneidenden Wind zu entkommen.
Der Mann ist offensichtlich obdachlos. Warum guckt er so? Ich greife mir eine Gabel als Spielzeug, denke wieder an den Skype-Anruf und den Klang meiner eigenen Lache und erschauere. Die Gabel steckt in meiner feuchten Hand fest. Ich umklammere sie so krampfhaft, den Daumen über den Zinken, dass es wehtut. Als ich loslasse und sie scheppernd auf den Tisch fällt, sehe ich, dass eine Frau an der Bar ebenfalls zu mir herüberschaut. Schnell wendet sie sich peinlich berührt ab.
Ein Minischluck Wein. Ein ordentlicher Schluck Wein. Wieder ein
Blick aufs Handy. Eine Minute vor sieben. Simon ist pünktlich. Ich wette, er kommt Schlag sieben zur Tür herein.
7:03.
7:06.
7:09?
Ich bin sicher, dass er aufkreuzt. Es ist ja nicht das erste Mal nach der Scheidung, dass wir uns zum Essen treffen. Wir sind wirklich Freunde geblieben. Alles war einvernehmlich. Und er macht immer den Eindruck, als sei ihm an einem guten Verhältnis gelegen. Aber ich weiß auch, dass Polly von dieser bleibenden wechselseitigen Sympathie nicht gerade begeistert ist, weil
.
Weil in ihrer Welt eine Beziehung, die beendet ist, beendet ist; da erkennt man noch nicht einmal an, dass die oder der Ex überhaupt existiert hat. Man beseitigt noch die letzte Spur der Verbindung bis hin zu den Urlaubsschnappschüssen und den abgeschnittenen Fingernägeln. Als sei die Trennung ein Mord gewesen und man wolle nicht mit Beweisen erwischt werden.
Zwanzig nach sieben? Das wundert mich. Vielleicht hat Polly ihm zugesetzt; wahrscheinlich ist das Ganze sowieso verkehrt, und Polly hat recht: Simon und ich hätten den Kontakt abbrechen sollen. Haben wir aber nicht. Und jetzt brauche ich ihn hier, weil ich herausfinden muss, ob Polly und er es sind, die diesen Mist mit mir machen.
Oder aber mein Jugendfreund Simon zieht die andere Möglichkeit in Betracht: dass ich verrückt werde wie mein Vater.
Aus dem Augenwinkel sehe ich eine winkende Hand.
Mein Ex trägt eine von diesen wattierten Jacken und einen unauffälligen Schal. Beides drückt er einem Kellner in die Hand, und dann kommt er in Jeans und einem langen karierten Hemd über schwarzem Shirt auf mich zu. Die Software-Leute tragen alle solche Schlabberklamotten. Je wichtiger sie sind, desto lässiger kleiden sie sich – weil sie es können. Wobei Simon gar nicht so wichtig ist; er
verdient nicht solche Unsummen wie seine Freunde. Ich nehme an, dass er dafür insgeheim mich verantwortlich macht. Als hätte ich ihn irgendwie gebremst.
Er rückt sich einen Stuhl zurecht und verzieht das Gesicht.
»Mein Gott, du siehst furchtbar aus.«
Ich zucke die Achseln und trinke einen Schluck Wein.
»Danke! Hab nicht gut geschlafen.«
»Du siehst aus, als hättest du seit Ewigkeiten nicht geschlafen. Was ist los, Jo?«
»Nichts.«
Ich sehe zu, wie er sich niederlässt, sich Wasser einschenkt und das Glas mit einem Zug leert. Mir ist überhaupt nicht klar, wie ich darauf zu sprechen kommen soll, ohne gleich eine Anschuldigung zu erheben; ich möchte Liam erwähnen, weiß aber nicht, wie. Mein Hirn ist eine zerdrückte Avocado. Schließlich bringe ich einen Satz heraus.
»Ich möchte dich ein paar Dinge fragen.«
»Ja? Okay.« Er stellt das Wasserglas ab. Seine Miene ist feindselig. »Ach ja, tut mir leid, dass ich so spät dran bin – ich hatte noch ein paar eilige Mails aus Amerika.«
Der Kellner taucht wieder auf und bringt Speisekarten, lange, schmale Streifen aus weißer Pappe. Wir wechseln einen Blick und bemühen uns beide um ein Lächeln, versuchen eine Spur der alten Wärme zu entfachen. Es gibt hier ein Spezialgericht, das wir immer nehmen.
Ich spreche für uns beide.
»Zweimal das Bavette-Steak. Rare. Danke.«
Der Kellner nickt. »Und Getränke?«
Simon ist schon dabei, mithilfe des Handys die Weinkarte zu scannen, aber ich weiß, was dabei herauskommt. Er wird ein Bier bestellen. Es spielt einfach gern mit seiner Wein-App, die Weinkarten und einzelne Weine bis hin zu Jahrgang und Terroir bewertet. Er liebt
neue Apps. Er liebt neue Technik. Ein Early Adopter. Vielleicht hat er mich deshalb so verheerend früh geheiratet.
»Eigentlich will ich ein Bier. Eine Flasche Leffe.«
»Und ich bleibe bei meinem Rioja … vielleicht eine halbe Flasche. Geht das?«
Nickend steckt der Kellner seinen Notizblock weg und eilt davon.
Jetzt schaut Simon mich an. Ausdruckslos. »Bevor wir reden – das Übliche?«
Er hebt sein Handy hoch, schaltet es sichtbar stumm und legt es mit dem Display nach unten auf den Tisch. Das machen viele seiner Freunde bei gemeinsamen Essen oder Partys. Die neue soziale Etikette aus dem Silicon Valley. Ich tue es ihm nach; so versichern wir einander, dass wir bereit sind zu reden, bereit, uns auf echte menschliche Interaktion zu konzentrieren.
Als das Ritual vollzogen ist, fragt er: »Also, welche Dinge
wolltest du mich fragen?«
Es gibt kein Zurück mehr. Am besten bringe ich es schnell hinter mich. Sage es und warte ab, was kommt.
»Ich habe Probleme mit der Technik.«
»Zum Beispiel? Wo?«
»In der Delancey Street. Probleme mit der Heizung, mit dem Licht, den Home-Assistants, ich hab das alles nicht im Griff, manchmal machen die komische Sachen.«
Dabei lauere ich auf eine verräterische Reaktion, ein Blinzeln, einen wissenden Blick, eine Andeutung von schlechtem Gewissen, aber nichts davon tritt ein, er runzelt nur die Stirn. Die Getränke kommen, mein Rioja, sein Leffe, und er trinkt einen Schluck.
Schließlich sagt er: »Dann lässt du es eben in Ordnung bringen. Oder du sagst Tabitha, sie soll es in Ordnung bringen lassen. Sie ist doch so was wie deine Vermieterin. Ja?«
»Ja«, erwidere ich, »natürlich könnte ich das, aber es ist alles so
irre.«
Das Stirnrunzeln bleibt.
»Irre?«
Wie formuliere ich es, ohne Jamie zu erwähnen? Obwohl Simon den Hintergrund kennt, fühle ich mich bei diesem Thema immer blockiert. Ich versuche eine Antwort.
»Diese Assistants sagen seltsame Sachen, es ist, als … wüssten sie bestimmte Dinge über mich. Als würden sie lauschen. Als hätten sie Sachen … Sachen von früher gehört.«
»Okay«, sagt Simon mit dem leicht spöttischen Lächeln des Überlegenen. »Sie lauschen tatsächlich, Jo. Darum geht’s ja gerade. Sie sind so konstruiert, dass sie dir zuhören, deine Gewohnheiten kennenlernen, deine Bedürfnisse und Wünsche. Sie passen sich deiner Persönlichkeit an, eigentlich passen sie auch deine Persönlichkeit sich an. Was erzähle ich dir – du hast es doch selbst recherchiert: Sie werden zu Freunden für die, die keine Freunde haben, für die Kinderlosen werden sie Kinder. Diese Technik bedeutet, dass niemand mehr Einsamkeit und Isolation ertragen muss. Alte Leute, Leute im Krankenhaus – es wird echte, bewusste Stimmen geben, die mit ihnen reden. Die auf dem Regal stehen und jederzeit bereit sind.«
»Ja, aber«, ich wedele mit der Hand, »aber dass sie zuhören und alles beobachten? Die ganze Zeit?«
Er zuckt die Achseln. »Und? Das ist nichts anderes, als wenn ein Computer deine Mails oder deine Facebook-Posts liest und dir personalisierte Werbung zeigt. So funktioniert es nun mal. Und es ist doch cool, oder nicht? Mehr als cool. Wir sind kurz davor, überall KI
zu haben; bald werden die Maschinen alles
können, das ist total spannend. Arlo Scudamore, der clevere Mistkerl, ist da ganz dicht dran.«
Ich mustere das ernste Gesicht meines Ex-Mannes. In mir liefern sich Wut und Angst einen Wettstreit.
»Okay, vielleicht ist es spannend, aber es ist auch beängstigend, Simon. Zu unheimlich, zu intim. Ich kann’s nicht ertragen.«
Plötzlich werde ich rot. Und wie. Ich kann nichts dagegen tun. Die Angst, die die ganze Zeit vor sich hin gesimmert hat, droht überzukochen. Ich weiß nicht, was schlimmer ist: die Möglichkeit, dass ich verrückt werde, oder die Variante, dass jemand – womöglich mein Ex-Mann mit seiner angeblich so netten neuen Frau – mich in den Wahnsinn treiben will. Oder in den Selbstmord. Aber Simon wirkt so unschuldig; weder in dem, was er sagt, noch in seiner Körpersprache zeigt sich auch nur ein Hauch Schuldgefühl. Was bedeutet?
Ich darf nicht in Tränen ausbrechen. In einem trendigen Weinlokal im trendigen neuen King’s Cross. Nein, das bin nicht ich, das ist nicht Jo Ferguson. Hier, in der »Vinoteca«, habe ich einige der wichtigen Interviews für meinen Tech-Artikel geführt. Damals, als ich mein altes Selbst war: selbstbewusst, dynamisch, bohrend. Ich habe die Story wasserdicht gemacht, nichts ausgelassen – und manche Leute in der Techwelt, von Apple über Facebook bis zum ganzen Rest – nehmen mir das immer noch übel. Auch Simon. Könnte Polly ihn dazu gebracht haben?
Ich muss es wissen. Am liebsten würde ich es ihm auf der Stelle vorhalten, jetzt und hier.
Ja?
Nein.
Nein!
Ich muss schlauer sein, es geschickter anstellen, ihn dazu bringen, dass er es zugibt – wenn er denn darin verwickelt ist. Würde ich ihn direkt beschuldigen, ohne jeden Beweis, würde erst recht der Eindruck entstehen, dass ich verrückt werde. Umso mehr, wenn ich Polly die Verantwortung zuschiebe.
Der Kellner kreuzt auf, und dann stehen unsere Steaks da, mit
Spinat und Meerrettich und verlockend fettigen Pommes. Aus meinem Fleischstück rinnt Blut. Eine Sekunde lang denke ich an das bonbonrosa Zeug, das Jamie Trewin aus dem Mund gelaufen ist. Du wirst sterben, Jo. Du wirst dich umbringen.
»Simon.« Ich sehe zu, wie er genüsslich auf einem Bissen Fleisch herumkaut. »Das ist einer der Gründe, weshalb ich mit dir sprechen wollte. Du hast Arlo erwähnt.«
Er hebt den Blick. »Hm.«
»Na ja, offenbar hast du
auf Arlos Bitte hin die Assistants eingerichtet, das ganze Smarthome-Zeug in Tabithas Wohnung. Stimmt das? Warst du das?«
Er antwortet mit vollem Mund: »Klar. Ja. Und?«
»Und du bist nicht auf die Idee gekommen, mir davon zu erzählen?«
Er hört auf zu kauen und bedenkt mich mit einem ironisch zweifelnden Blick.
»Hab ich das nicht getan? Ich kann mich gar nicht erinnern.« Jetzt spült er das Fleisch mit einem Schluck Bier hinunter. »Vielleicht hab ich das gemacht, als du gerade mit Liam geschrieben hast, hm? Vielleicht war mir nicht so danach, mit dir zu reden. Zu der Zeit.«
Das läuft schief. Kurz überlege ich, ob ich von Liam erzählen soll, von dem seltsamen Gespräch, seinem Verschwinden, aber wenn tatsächlich Simon und Polly hinter dem Ganzen stecken, sollte ich nicht durchblicken lassen, dass ich ihnen auf der Spur bin.
Während ich noch mit mir ringe, sagt Simon: »Was spielt das überhaupt für eine Rolle? Ja, ich habe geholfen, ich versteh nun mal was davon, ich hab Kumpel, die solche Programme schreiben können; Arlo hatte sehr genaue Vorstellungen, wie es sein soll.«
Da hake ich ein.
»Du meinst, Arlo wollte sein Smarthome mit dem von Tabitha verbunden haben, damit er sie rund um die Uhr beobachten kann, und
jetzt kann er mich beobachten? Kann alles, was ich sage und tue, hören und sehen? Und das findest du nicht ein bisschen schräg?«
Ich lauere auf seine Reaktion. Seine Reaktion ist Gelächter. Als wäre ich eine Verschwörungstheoretikerin und hätte behauptet, die Royals seien Eidechsen.
»Mein Gott, Jo, er ist nicht die Geheimpolizei, und er lässt die Wohnung nicht von der CIA
überwachen.« Noch eine Gabel voll blutiges Fleisch. »Krieg dich ein! Warum machst du so ein Theater? Das ist doch nicht normal. Das ist nicht Jo Ferguson.«
Vielleicht sieht er, dass ich zusammenzucke, jedenfalls wird sein Ausdruck etwas versöhnlicher.
»Hör zu, Arlo kümmert sich gern um seine Verlobte, das ist alles. Er sorgt gern dafür, dass es ihr gut geht.« Er schüttelt traurig den Kopf. »So wie ich mich früher um meine Frau kümmern wollte. Bis du getan hast, was du getan hast.«
Ich versuche, mich nicht durch Schuldgefühle ablenken zu lassen. Ich esse noch nicht einmal mein blutiges Steak. Das Blut mischt sich mit dem Meerrettich, wie Blut und Erbrochenes. Jamie Trewin. Ich selbst via Skype. Stimmen in meinem Kopf. Wie kommt das zustande? Wer macht das mit mir? Ich selbst? Passiert das alles in meinem angeschlagenen Hirn?
»Nein«, sage ich laut. »Du verstehst das nicht! Du weißt, dass Arlo jederzeit reinhören kann; wie Big Brother sitzt er da in seinem Highgate. Und du hast ihm geholfen, es so einzurichten!« Es platzt schneller aus mir heraus, als ich denken kann. »Was ich wissen will, ist: Hörst du auch manchmal rein, Simon? Bist du auch angeschlossen? Zwingt Polly dich dazu, weil sie mich hasst? Du hast gesagt, dass sie mich hasst. Bringt ihr beide die Assistants dazu, mich zu quälen?«
»Herrgott«, sagt er. »Jetzt reicht’s!« Seine Gabel fällt auf den leeren Teller. Von den anderen Tischen schauen Leute zu uns herüber. Die ganze Welt schaut uns zu durch die hohen Glaswände, auf die der
Winterregen silbrige Verse kritzelt.
»Bitte, Simon, sei ehrlich, hast du irgendwas mit den Geräten angestellt, dass sie mir so zusetzen? Irgendwie würde ich es sogar verstehen, ich weiß, dass Polly mich nicht mag, und nach dem, was mit Liam gelaufen ist, würde ich dir auch keinen Vorwurf machen, ich muss es nur wissen …«
Es hat nicht funktioniert. Er ist sauer.
»Was
musst du wissen? Hör auf mit dieser Scheiße! Ich will keine Rache, verdammt. Das bist du selbst, du wirst paranoid, genau wie damals, als du mit dem Artikel fertig warst, da bist du auch allen auf die Nerven gegangen. Hast behauptet, dass Google unser Leben lenkt, dass Google unsere Gedanken vorhersagen kann, lauter dummes Zeug: Das war gaga, Jo. Purer Die-Erde-ist-eine-Scheibe-Mist. Vielleicht hast du dich damit als Journalistin etabliert, vielleicht hast du Millionen Klicks gekriegt und noch eine Million Reaktionen auf Twitter oder sonst was, aber trotzdem war es totaler Stuss!«
Er schiebt den leeren Teller weg. Mein ungegessener Batzen Fleisch wird ungegessen bleiben.
»Hör zu, Jo, ich hab versucht, dein Freund zu bleiben. Obwohl du diese Nacktbilder verschickt und das zwischen uns kaputt gemacht hast, hab ich’s versucht, und jetzt kommst du mir damit? Beschuldigst sogar Polly, die Mutter meines Kindes? Mein Gott, vielleicht sollten wir’s einfach lassen.«
»Hallo, ihr zwei!«
Eine vertraute Stimme. Ich drehe mich um. Und mir wird noch mulmiger. Oh, Gott. Was für ein Timing. Gul und Jenny. Unsere Freunde. Wir müssen uns normal benehmen, ihnen ein Glas Wein anbieten, obwohl vermutlich nicht zu übersehen ist, dass wir uns gerade streiten. Dass sie hier auftauchen, ist kaum ein Zufall, alle aus den großen Techfirmen kommen in die »Vinoteca«. Die Firmengebäude stehen ja alle hier. Warum wollte ich ausgerechnet
hierher?
Ich bin ein Idiot. Mein Urteilsvermögen ist gestört. Ich kann nur hoffen, dass Jenny, vielleicht sogar auch Gul, spürt, was bei uns los ist, und die Flucht ergreift.
»Hey, Leute«, sagt Simon angestrengt. »Wir sind gerade mit dem Essen fertig. Wollt ihr ein Glas?«
»… na ja, also …«
Jenny schaut vorsichtig zwischen uns beiden hin und her und kriegt zu meiner Erleichterung schnell mit, dass die Stimmung schlecht ist.
»Ich kann eigentlich nicht bleiben, Gul und ich haben so eine blöde Verabredung zum Essen; die Leute warten schon. Aber«, sagt sie in meine Richtung, »hab ich dir schon gesagt, dass ich ein neues Telefon und eine neue Nummer habe?«
Als ich nach meinem Handy greife, das umgekehrt auf dem Tisch liegt, ruft sie: »Nein, lass! Ich schreibe sie dir auf. Ich hab einen richtigen Stift und alles. Ist dir schon mal aufgefallen, dass die Leute überhaupt nichts mehr aufschreiben? Also, ich hab mich entschlossen, dagegenzuhalten.«
Während sie ein Stück Papier heranzieht – die Weinkarte von heute – und rasch die Nummer hinschreibt, denke ich: Genau, sie hat recht. Kein Mensch schreibt mehr mit der Hand. Wir tippen nur noch. Tipp, tipp, tipp, in die Handys und Rechner und Tablets. Tipp, tipp, tipp. Tipp, tipp, tipp.
Die ganze Welt tippt wie verrückt, und unsere älteren, schöneren Techniken vergessen wir. Neulich musste ich eine Rechnung unterschreiben und habe es kaum hingekriegt. Es fiel mir schwer, meinen eigenen Namen zu schreiben, wie damals, als ich vier war und mein Vater mir die Buchstaben beibrachte.
Er hatte eine sehr schöne Handschrift. Und er hat uns alle unterrichtet. Am liebsten hat er mit einem richtigen Füller, mit richtiger Tinte auf gutem Papier geschrieben. Ach, mein Daddy.
»Hier«, sagt Jenny und reicht mir das zusammengefaltete Stück Papier. »Ruf an, dann gehen wir was trinken. Jetzt bin ich erst mal jobmäßig unterwegs, aber wenn ich wieder da bin, ja?« Sie sieht uns nacheinander an, mich etwas länger, vielleicht etwas besorgt. Dann seufzt sie, sichtlich froh, der angespannten Lage zu entkommen. »Okay, also. Wir sollten gehen!«
Damit verschwindet sie.
Simon und ich wechseln einen erleichterten Blick, und dann warten wir darauf, dass Gul ihr folgt.
Aber das tut er nicht. Mir sinkt der Mut, als er sich einen Stuhl zurechtrückt und im Hinsetzen sagt: »Ach, diese Typen können warten. Ein Haufen langweiliger Säcke von eBay. Ich nehm gern ein Glas von dem Rioja.« Unaufgefordert langt er über den Tisch, bedient sich aus meiner halben Flasche und beginnt ein Gespräch mit Simon: unverständliches Techzeug. Simons Antworten ist deutlich anzuhören, wie verkrampft er ist. Er will, dass Gul verschwindet. Doch nun wendet Gul sich an mich. »Und? Wie geht’s, Jo?«
»Gut. Ich schreibe.«
Er mustert mich.
»Bist du immer noch allein da in Camden?«
»Ja, also … ich wohne bei Tabitha, aber …«
»Ist ein bisschen zu kalt, um so allein zu schlafen, oder?« Es folgt ein seltsames Lachen, gezwungen, besorgt, irgend so was.
Simon verdreht die Augen. Es herrscht unbehagliches Schweigen.
Schließlich leert Gul das Glas, schiebt seinen Stuhl zurück und sagt: »Wie auch immer … ich geh dann mal und labere mit diesen Programmierern. Man sieht sich. Tschüss.« Dann beugt er sich herüber und gibt mir einen weichen Kuss auf die Wange. »Don’t be alone in the snow, Jo.«
Wir schauen ihm hinterher. Irgendwann sagt Simon: »Er hatte schon immer was für dich übrig.«
Seltsam. Davon habe ich nie etwas gemerkt. »Wirklich?«
»Er redet ständig von dir. Fragt nach dir. Will wissen, ob … es dir gut geht. Verteidigt dich immer. Wirklich. Das hast du echt nicht gewusst? Er ist dein größter Fan. Abgesehen von Liam.«
Er leert sein Bierglas. Und seufzt mit fatalistischer Miene. »So oder so – gibt es noch etwas, das wir besprechen müssen?«
Dabei greift er in die Tasche, wohl um sein Portemonnaie hervorzuholen. Plötzlich bin ich unglaublich müde. Der miserable Schlaf letzte Nacht, der schreckliche Skype-Anruf. Und dann Jennys seltsamer Blick, als wüsste sie etwas und würde gern helfen. Und Gul? Hat was für mich übrig? Ehrlich? Was auch immer das bedeutet, im Moment fehlt mir die Kraft, darüber nachzudenken.
»Nein«, sage ich. »Lass mich zahlen, schließlich hab ich dich hergebeten.« Ich bin so erschöpft, so durcheinander, ich will nur noch Frieden schließen. Vorerst. »Tut mir leid, dass es so schiefgelaufen ist. Ich muss das noch mal genauer erklären, wenn ich nicht gerade so angeschlagen bin. Ich schreibe dir eine Mail, okay?«
Er zuckt vage die Achseln. Als er schon steht, lächelt er mir noch einmal mitleidig zu. »Sieh zu, dass du ein bisschen Schlaf kriegst, Jo. Und vergiss die Verschwörungstheorien. Krieg deine Paranoia in den Griff, hör auf, verrücktzuspielen. Hör auf, mir Rachegelüste zu unterstellen! Ich habe dich geliebt, und du hast es kaputt gemacht – und Ende. Wir sind fertig, du machst dein Ding, und ich muss nach Hause. Dort wartet ein Baby auf mich.«
Ich weiß, dass er es nicht böse meint. Aber er ist eindeutig sauer. Ohne Verabschiedung geht er hinaus in den Januarwind, der kleine Müllhaufen vor sich herwirbelt und die Leute dazu treibt, schnell in ein Taxi zu springen. Zu flüchten.
Ich kann nicht flüchten. Ich muss nach Hause in die Delancey Street, wo kein Baby wartet. Wo ich mit dem Schrecken allein bin. Sei er erfunden oder real.