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Jo
N och beim Verlassen des Lokals hole ich mein Handy hervor. Kurz denke ich: Uber? Aber dann: Nein. Zu Fuß, frische Luft. Also haste ich den King’s Boulevard hinunter in Richtung der Plaza vor dem Central Saint Martins College, wo die Springbrunnen jetzt ruhen, an warmen Sommertagen aber Kinder barfuß zwischen den lustigen Wasserstrahlen umherhüpfen. An diesem Winterabend ist alles öde, vom Wind leer gefegt, verlassen. Der Pop-up-Thai-VW -Kombi ist zu, die Jalousie unten; ich gehe daran vorbei, die grasbewachsenen Stufen hinunter zum Regent’s Canal.
Der Pfad am Kanal ist, wenn man von hier zu Fuß nach Camden will, der direkteste Weg. Genau genommen ist es der einzige, den man überhaupt zu Fuß gehen möchte. Und ich will durch die Winterluft gehen, um den Kopf freizukriegen. Ich habe das mit Simon dermaßen vermasselt.
Vor mir erstrecken sich Tunnel und Wasser, gesäumt von neuen, überdimensionierten Wolkenkratzern und direkt daneben den roten Glupschaugenscheinwerfern oben an Kränen, die aufragen wie gewaltige Metallinsekten mit gebrochenem Genick. Ich gehe schneller.
Am dunklen Kanalufer reiben sich Hausboote knirschend aneinander, auf manchen beleuchtet eine flackernde Sturmlaterne den mit Schnörkeln hingemalten Namen: Saliannah, Little Drifter, Celebration.
Hinter einem Bullauge taucht ein erschrockenes Gesicht auf, weit aufgerissene Augen starren zu mir herüber; gleich darauf verschwindet das Gesicht wieder. Sah aus wie ein Mann, allerdings mit knallrotem Lippenstift.
Ein Geräusch kommt näher. Aber ich werde nicht verfolgt, ich werde überholt. Der Radfahrer klingelt und entschuldigt sich, als er so schnell vorbeischießt, dass ich erschrocken nach links taumele und um ein Haar ins schwarze Kanalwasser kippe.
»Sorry!«, ruft er noch einmal, viel zu spät. Trotzdem wünschte ich, er käme zurück. Lass mich hier nicht allein. Dies ist der düsterste Abschnitt des Kanals; Bahngleise queren ihn über mehrere Bücken, was bedeutet, dass hier unten mehrere Tunnel aufeinanderfolgen, alle komplett von Graffiti bedeckt. Der nächste Tunnel ist so eng, dass ich den Kopf einziehen muss. Glucksend schwappt das eingezwängte kalte Wasser hin und her; es reflektiert schwarze Backsteinkonturen und weit vorn, am Ausgang, silbrige Straßenbeleuchtung.
Da muss ich hin, dann ist alles gut. Alles wird gut. Ich rede mit mir selbst.
»Komm schon, Jo, alles wird gut.«
Es macht nichts, dass ich Selbstgespräche führe. Hier ist niemand, der mich hören und über die arme Irre den Kopf schütteln könnte. Das Wasser im Kanal ist im Dunkeln schwarz wie Rohöl. Es sieht heimtückisch aus. Wenn ich reinspringen würde – wie lange würde es wohl dauern, bis ich untergehe und ertrinke? Vielleicht würde ich einfach dahintreiben?
Endlich verlasse ich den Tunnel und habe freien Himmel über mir. Fast geschafft, gleich zu Hause. Sind das da die modernen Glas-Stahl-Apartmenthäuser beim Sainsbury’s-Markt? Ich glaube, ja. Daneben steht ein weiterer Kasten von Wohnhaus, den ich noch nicht kenne. London verändert sich so rasant, auch dann, wenn man selbst sich überhaupt nicht rührt.
Ja, das ist Camden. Da ist das Schleusenwehr, da vorn sind die Bars und Horden junger Leute, die sich am Camden Lock von Kneipe zu Kneipe trinken. Das Handy piept in der Handtasche. Wohl eine SMS . Kann das Simon sein? Während ich die Stufen von dem Pfad nach oben gehe, hinein ins Gewimmel, ins bunte Leben zwischen Tattoostudios und Souvenirbuden, die selbst bei minus zwanzig Grad nicht schließen, angele ich das Handy hervor.
Ich weiß, wo du bist. Du bist am Kanal. Beim Camden Lock. Dir bleibt nicht mehr viel Zeit.
Ich starre auf die Nummer. Wo kommt das her? Diese Nummer kenne ich nicht.
Am liebsten würde ich schreien, das Handy ins Kanalwasser schleudern. Aber das sollte ich nicht tun. Stattdessen suche ich mit zitternden Fingern Simons Nummer, es muss doch Simon sein, außer ihm weiß niemand, dass ich in der »Vinoteca« war; außer ihm weiß niemand, wo ich langgegangen bin; er könnte mich gesehen haben, er muss gesehen haben, dass ich in Richtung Kanal gegangen bin, dass ich zu Fuß zurück nach Camden wollte.
Er meldet sich sofort.
»Du bist das!«, schreie ich, und es ist mir völlig egal, ob sich jetzt sämtliche italienischen Studenten in Camden nach der Verrückten beim Falafel-Laden umdrehen. »Du hast das gemacht. Du pfuschst an den Assistants herum, du pfuschst an meinem Telefon herum, du kennst dich damit aus! Du und keiner sonst. Hör auf damit!«
Kühl und ungerührt erwidert er: »Du bist diejenige, die aufhören muss. Das ist krank …«
»Was fällt dir ein? Ich bin nicht verrückt! Du bist es, der mir Angst macht, oder ihr beide seid es, Polly und du, oder du und deine ganzen IT -Freunde? Seid ihr es alle zusammen?«
»Komm runter, Jo. Ist dir klar, wie dieser Unsinn sich für andere anhören muss?« Er klingt so gemessen, so geduldig. Das macht es nur noch schlimmer. Als versuche er, ein Kleinkind zur Ruhe zu bringen. »Tut mir leid, aber du hast schrecklich ausgesehen vorhin, und diese ganze …« Er legt eine kurze Pause ein. »Diese Paranoia, diese ganze Aufregung: Das ist ein schlechtes Zeichen. Ich glaube, du bist mitten in einem Zusammenbruch. Such dir bitte einen Arzt! Ja?«
Damit legt er auf. Frustriert starre ich auf das Telefon hinunter. Angetrunkene junge Leute drängen sich an mir vorbei; sie johlen Fußballhymnen, wobei ihnen weiße Wölkchen aus dem Mund quellen, und steuern aufs »Spoons« zu, eine Kneipe auf der anderen Seite des Marktes.
Und jetzt verstehe ich.
Es muss nicht Simon sein. Woher sollte er so genau wissen, wo ich gerade bin? Das kann er gar nicht.
Tatsache ist aber, dass ich auf dem Handy eine App habe, die präzise darüber Auskunft gibt, wo ich mich aufhalte. Find A Friend. Und Simon ist damit nicht verbunden. Die beiden einzigen Leute, mit denen ich darüber verbunden bin, sind Will, mein Bruder in L. A., und Tabitha, meine beste Freundin.
Tabitha. Tabitha. Tabitha.
Tabitha schaut gern auf die App und schickt mir, wenn sie sieht, dass ich in der Kneipe bin, irgendeinen Spruch. Na, noch ’n Cocktail, Süße? Und ich mache umgekehrt das Gleiche. Ein Ritual, das zu unserer Freundschaft dazugehört. Oder zu dem, was ich für unsere Freundschaft gehalten habe.
Kann ich mich so getäuscht haben? Hat das alles überhaupt nichts mit Simon zu tun? Und wenn – hat dann Tabitha mir nur deshalb angeboten, bei ihr zu wohnen, damit sie mich quälen kann?
Ich wüsste nur nicht, welches Motiv sie haben sollte. Absolut nicht.
Damit bleibt nur eine Möglichkeit. Wenn Simon es nicht ist und Tabitha auch nicht, dann bin ich es. Dann terrorisiere ich mich selbst.
Wieder gibt das Handy einen Ton von sich. Ich bleibe stehen. Noch eine Nachricht. Noch eine Botschaft aus dem Nirgendwo.
Die Nachricht ist ein Bild, das auf dem Display aufleuchtet.
Ein Bild von meinem Vater. Mit mir auf dem Arm. Ich bin vielleicht drei, nuckele am Daumen. Mein Vater wirkt glücklich, strahlend steht er im Garten. Ein gesunder, gutaussehender Mann. Der Vater, den ich verloren habe.
Ich habe dieses Foto noch nie gesehen. Die Nummer, von der es geschickt wurde, ist wieder eine andere. Und mit der Nummer wird ein Name angezeigt, den ich garantiert nie in meine Kontakte geschrieben habe. Aus gutem Grund.
Wie es aussieht, kommt die Nachricht von Jamie Trewin .