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Jo
L
ondon ist nass. Die Straßen sind schwarz. Eine Pause in der Winterkälte – stürmischer Regen und Westwind – hat den grauen Matsch in den Sielen verschwinden lassen, im dreckigen, überdeckelten, kanalisierten Fluss Fleet, der genau unter diesen Straßen verläuft. Wo er einst unter Weiden und Eschen im Sonnenschein dahinplätscherte, durch Marschland und Wiesen, immer auf das ferne London zu, ist der arme Fluss unter uns nun dazu verdammt, sich mit Schmutz und Müll zu plagen und schließlich irgendwo bei Blackfriars wie Abwasser in die Themse zu fließen.
Ich finde die Vorstellung poetisch und zugleich etwas unheimlich: Der Fluss ist noch da – fließt noch –, aber er ist lebendig begraben. Er ist unsichtbar und plappert doch vor sich hin. Wie eine Verrückte, die in einem Verlies hockt und leise Selbstgespräche führt, eine unerwünschte Tante, die hinter dicken Steinen weggeschlossen ist. Da unten.
Plötzlich habe ich ein furchtbar schlechtes Gewissen wegen meiner Mutter. Mache ich mit ihr das Gleiche? Habe ich sie unter den geschäftigen Straßen meines Erwachsenenlebens begraben? Wenn ja, dann bin ich eine Heuchlerin. Denn so geschäftig ist mein Leben nicht. Jedenfalls ist es nicht mein dahinschwindendes Sozialleben, was mich daran hindert, mich auf den Weg nach Thornton Heath zu machen. Ich glaube, die schönen und dann schweren Erinnerungen an Daddy sind ein wesentlicher Grund, warum ich nicht gern dorthin fahre, um Mum zu besuchen. Das ist mir alles zu viel. Also treffe ich weder Mum noch
irgendwelche Freunde, sondern arbeite. So wie jetzt. Ich sitze allein in der Wohnung und arbeite.
Höre das Zischen der Autoreifen auf den nassen Straßen, sehe zwischen den leicht verbogenen Lamellen meiner Jalousien hindurch den Mond hinter den Wolken Verstecken spielen wie ein bleiches, ängstliches Kind, das sich hinter den eigenen, ständig in Bewegung befindlichen Händen versteckt; ich sitze, die Finger über den Laptoptasten, am Wohnzimmertisch und suche nach dem geeigneten Einstieg in den Artikel. Höchste Zeit, dass ich anfange. Der Text ist überfällig, ich versäume Deadlines, weil ich für eine Weile aus der Zeit gefallen war. Aber jetzt weiß ich wenigstens den Grund.
Das Xanax war schuld. Was mich verrückt gemacht hat, war das Xanax und nicht Electra oder HomeHelp.
Ich drehe den Kopf und schaue zu Electra hinüber. Still und gelassen thront sie auf ihrem Regal; seit ein oder zwei Tagen hat sie kein Wort gesagt.
Genau wie HomeHelp.
Schwach, scheu, schüchtern regt sich Hoffnung in mir. Ich tippe los.
Wenige Orte in England, vielleicht in der ganzen Welt, sind im sozialen Ansehen derart rasant gestiegen wie Camden. Noch in den 1960ern wurde die grüne Enklave Primrose Hill im Westen Camdens abfällig Soot-City, Rußstadt, genannt, weil die vielen Bahntrassen und Kohlendepots so große Mengen an Dreck und Dampf produzierten und die Umwelt verpesteten. Dazu ist die Gegend von sich dahinschlängelnden
Ich stocke. Dahin
schlängeln
. Ist das zu viel? Zu poetisch? Ich schaue hinaus auf die Schlucht voller Gleise, den Grand Canyon aus rußigen Lagerziegeln und Stahlbogen, den riesigen viktorianischen Graben, der die Hälfte meiner Aussicht einnimmt. Nein, dahinschlängeln
passt
nicht, dafür sind diese Gleisanlagen zu wuchtig, zu dominant. Aber dies ist der erste Entwurf.
Mein Blick wandert nach oben: In den neuen Wohnungen jenseits der nass glänzenden Schienen brennt hier und da warmes gelbes Licht. Keine Jalousien, keine Vorhänge, nur die dunklen Umrisse von Menschen, die herüberschauen und mich sehen, wie ich spät am Abend zu ihnen hinüberschaue …
Konzentrier dich, Jo, konzentrier dich.
Ich tippe weiter.
… dahinschlängelnden Industriekanälen durchzogen. Es mag paradox scheinen, aber gerade der Dreck und die sprichwörtlich schlechte Luft lockten Menschen an, arme Poeten wie Sylvia Plath und Ted Hughes – und vor diesen beiden Dylan Thomas und W. B. Yeats –, denn hier konnten sie sich Wohnungen leisten. So kam das Viertel zu seinem Ruf, ein Ort für Bohemiens zu sein, was wiederum seine Attraktivität steigerte, umso mehr, als der Ruß beseitigt und die Dampfloks abgeschafft wurden.
Heute dürfte ein Einzelhaus am pastell-hübschen Chalcot Square im Herzen von Primrose Hill zehn Millionen Pfund kosten, eine Summe, für die man vor hundert Jahren den ganzen Stadtteil hätte kaufen können.
Ich lehne mich zurück. Zufrieden bin ich nicht. Es ist okay, aber mir fehlt die Würze, irgendwas Überraschendes, Schockierendes, das die Leser bei der Stange hält. Ich kann so anfangen, aber dann braucht es was Dramatisches. Mord? Suizid? Verbrechen? Irgendetwas Surreales, Unerwartetes.
Was mir fehlt, ist Inspiration. Das stumm geschaltete Smart-Display auf dem Tisch ignoriere ich – mit diesem Gerät mit der aufdringlichen Kamera interagiere ich grundsätzlich nicht. Aber ich wende mich an den schwarzen Zylinder auf dem Regal.
»Electra, erzähl mir was über Camden.«
»Camden ist eine Stadt im Südwesten von New Jersey, nicht weit von Philadelphia am Delaware River gelegen. Camden ha…«
»Electra, stopp. Electra, erzähl mir was über Camden Town, London.«
»Camden Town, verkürzend auch Camden genannt, ist ein Stadtbezirk von London etwa vier Kilometer nördlich von Charing Cross.«
»Electra, stopp. Electra, erzähl mir was Interessantes
über Camden.«
Schweigen. Das Diadem leuchtet im abendlich dämmrigen Wohnzimmer auf und erlischt wieder.
»Electra, erzähl mir von berühmten Verbrechen in Camden.«
Wieder nichts. Aber ich habe auch nichts erwartet. Wenn ich ehrlich bin, will ich gar nichts hören. Ich wollte, dass Electra langweilig ist, leblos, seelenlos; dass sie ist, wie sie sein soll. Und so tippe ich weiter, es fließt einigermaßen, ich baue Fakten und Fabeln ein, den berühmten Duell-Schauplatz, der unter dem British Museum begraben ist, den Geist von Oliver Cromwell am Red Lion Square.
Ein Summen ertönt. Die Türklingel. Ich bin völlig versunken – ich glaube, das war die Türklingel.
Wer kann das sein? Um diese Zeit? Ein Blick zum Laptop, es ist fast Mitternacht. Die Zeit ist im Flug vergangen, wie immer, wenn ich konzentriert arbeite.
Ich gehe in den Flur, zur Gegensprechanlage und nehme den Hörer auf.
»Hallo?«
Keine Antwort.
»Hallo? Wer ist da?«
Schweigen. Ich höre das Zischen des nächtlichen Verkehrs auf nassem Asphalt, aber keine Stimme, keinen Menschen, keinen Besucher. Also hänge ich den Hörer wieder hin und frage mich:
Kinder? Ein Klingelstreich? Unwahrscheinlich. Dafür ist es zu spät. Vielleicht einer von den Verrückten aus der Säuferunterkunft an der Arlington Road? Vielleicht war es Autos. Ich kann mir das Summen auch einfach eingebildet haben, ich war so in die Arbeit vertieft.
Aber es war doch jemand da. Wer?
Ich kehre ins Wohnzimmer zurück, überwinde mich, öffne das Schiebefenster, trete hinaus auf den winzigen, zugigen Balkon und schaue nach unten und die Straße entlang. Nein. Da ist niemand. So weit ich sehen kann, ist alles menschenleer.
Trotzdem muss ich es genau wissen; ich kann mir nicht helfen, aber mein Gefühl sagt mir, dass etwas nicht stimmt. Ich ziehe eine Jacke über, verlasse die Wohnung, gehe die Treppe hinunter, öffne die Haustür und schaue mich um.
Der Fußweg schimmert feucht im Schein der Straßenlaternen. Gegenüber das Pub ist geschlossen, die Schotten sind dicht. Die Nachbarn schlafen alle längst, überall sind die Jalousien heruntergezogen. Der Winter scheucht uns alle ins Bett. Wachsam gehe ich ein paarmal auf dem Fußweg auf und ab. Ängstlich. Dabei gibt es keinen sichtbaren Grund, Angst zu haben.
Mit einem Seufzer kehre ich endlich ins Haus zurück, stapfe nach oben, schließe meine Wohnungstür und gehe wieder ins Wohnzimmer. Sobald ich dort bin, stehe ich plötzlich im Dunkeln, in totaler, schwarzer Finsternis.
Auf einen Schlag sind sämtliche Lampen ausgegangen. Die ganze Wohnung liegt im Dunkeln. Das Wohnzimmer mit seinen vielen Leuchten, der Flur, mein Zimmer: alles schwarz. Ich stehe zwischen Schatten. Das verwaschene Licht der Straßenlaternen reicht kaum einen Meter weit ins Wohnzimmer hinein.
»Electra, mach das Licht an!«
Nichts.
»Electra, mach das verdammte Licht an! Sofort!«
Nichts. Sie sagt nichts, und ich kann nichts tun, und die Panik hat mich voll im Griff. Gleich drehe ich durch.
Denn ich habe einen Schlüssel im Schloss gehört. Draußen im Flur. Eben hat jemand meine Wohnungstür abgeschlossen, von innen. Es ist jemand in der Wohnung; er muss reingekommen sein, während ich draußen war und die Tür offen gelassen hatte. Ich bin doch nur ganz kurz rausgegangen! In der Zeit hat derjenige sich in die Wohnung geschlichen, und jetzt hat er die Tür abgeschlossen; hat mich in der Falle.
»Wer ist da?«, frage ich. »Wer ist da? Antworten Sie!« Ich klinge wie eine von den Frauen aus den Drehbüchern, an denen ich mich ständig versuche. Nur ist das hier real. »Wer ist da? Wer?«
Eine Stimme höre ich nicht, aber Atemzüge. Schwere, männliche Atemzüge. Im Flur. Jetzt vielleicht mehr zu Tabithas Zimmer hin, aber trotzdem eindeutig. In meiner Wohnung ist ein Mann. Er muss reingekommen sein, während ich unaufmerksam war, muss über die leere Wohnung unten oder die oben ins Haus gekommen sein und die Gelegenheit genutzt haben.
Ich warte. Die Nerven zum Zerreißen gespannt. Immer noch dieser schwere Atem. Wie jemand, der wütend ist, aber abwartet. Ich versuche etwas zu erkennen. Kann es sein, dass ich trotz der Finsternis eine männliche Silhouette ausmache? Einen Schatten vor der Tür zu Tabithas Zimmer?
Ja. Nein.
Ja! Da. Eindeutig ein Schatten, der sich bewegt.
»Halt! Wer ist da?«
Der Mann antwortet.
»Warum hast du nicht auf mich gehört?«
Im Bruchteil einer Sekunde schießt es mir eiskalt von den Fingerspitzen bis ins Herz. Wie ein Stromschlag.
Das ist die Stimme von Liam.
»Was ist, Jo? Sexy Jo mit den sexy Pussy-Fotos. Warum hast du nicht auf meine Nachrichten gehört? Ich hab dich gewarnt.«
»Stopp.«
»Ach nein. Nein, nein. Zu spät.«
Eine warme, dunkle Stimme mit irischem Akzent. Es gab eine Zeit, da fand ich sie sexy; jetzt klingt sie unheilvoll, vielleicht mörderisch.
»Was machst du hier, Liam?«
Bodendielen knarren. Sehen kann ich nichts, aber er kommt näher. Der Schatten löst sich von Tabithas Zimmertür und verschmilzt, indem er näher kommt, mit der Dunkelheit.
»Erst das ganze Theater, dann bist du plötzlich verschwunden. Wie eine Hexe. Deswegen hab ich dir gesagt: Es wird einen erwischen.«
»Hör auf, Liam, oder ich rufe die Polizei.«
»Ach ja? Jetzt? Ich habe dein Telefon. Also wirst du es nicht tun.«
Meine Stimme wird eng und kratzig vor Angst. Er hat recht, ich habe das Telefon nicht. Wahrscheinlich habe ich es in meinem Zimmer gelassen. Und zwischen dem Zimmer und mir ist er.
»Warum willst du mir solche Angst machen, Liam? Komm ins Licht, damit ich dich sehen kann.«
»Gleich. Ich überlege noch, was ich mit dir anstelle.«
Er klingt irre. Vielleicht war er schon immer irre. Ich wünschte, ich könnte sein Gesicht sehen, aber er steht nach wie vor im Dunkeln. Pechschwarz. Unsichtbar.
»Bitte, Liam! Hör auf, du machst mir Angst!«
Dielen knarren. Liam kommt auf mich zu. Ich vermute, er hat ein Messer. Ich soll zerstückelt werden. Ich stürze los in Richtung Fenster, nehme mir vor, eines aufzureißen, rauszutreten auf den Balkon und, wenn es sein muss, zu springen, ich könnte mir das Genick brechen oder das Kreuz, aber ich hätte die Chance, um Hilfe zu schreien …
»Hübsche, sexy, selbstsüchtige Jo, hast mir diese schmutzigen
Nachrichten geschickt. Und mich abserviert. Gut … hier ist die Quittung.«
Ich schreie.