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Jo
M ein Schrei verhallt. Es kommt keine Antwort, die Stadt ist im Schlaf erstarrt. Ich spüre seine Gegenwart, im Flur, wo er sich überlegt, wie er mich fertigmachen wird. Ich weiche zurück, presse mich an die Fenster.
Wie entkomme ich ihm? Habe ich die Zeit?
Sein Atem ist inzwischen so laut, dass er ganz in der Nähe sein muss, und trotzdem sehe ich ihn nicht. Aber ich höre ihn sprechen, flüstern eher.
»Oh, Jo, ich kann nichts dafür. Aber du. Du und diese Fotos. Am Tag, als du starbst, ging ich in den Schmutz. Es hat so wehgetan. Jetzt bist du dran.«
Wenn er noch einen Millimeter näher kommt, sehe ich ihn im Schein der Straßenlaternen.
Ich bin bereit, mich wegzudrehen und zu springen, oder aber mich ihm entgegenzustellen und zu kämpfen, doch in dem Moment bremst ein Doppeldeckerbus genau vor meinem Fenster. Für ein paar entscheidende Sekunden fällt das Licht aus der oberen Ebene zu mir herein.
Ich sehe mich im Wohnzimmer um, spähe in den Flur.
Hier ist niemand.
Niemand außer mir. Das Zimmer ist leer, nur die Möbel starren mich an.
Ich renne hinüber zur Wand und schlage mit der flachen Hand auf den Lichtschalter. Electra gibt nach, die Lampen gehen an. Noch immer ist niemand zu sehen. Als Nächstes mache ich im Flur das Licht an. Auch in Tabithas Zimmer ist niemand. Nur ihr Smart-Display schimmert unschuldig vor sich hin; während das einzelne Auge mich überwacht.
Das war Electra, natürlich, Electra, HomeHelp und ihre Freunde. Sie haben das Schlüsselgeräusch gemacht. Sie haben das Atemgeräusch gemacht. Sie haben eine Stimme erfunden. Und das Display in Tabithas Zimmer hat das Licht gemacht, das eine männliche Silhouette erzeugt hat. Diese Displays sind so schlau. So gerissen: Sie können die Gestalt eines Mannes auf eine Tür projizieren.
Electra. HomeHelp. Tabitha?
Ich gehe auf den schwarzen Zylinder im Wohnzimmer zu. Genau. Electra. Sie ist die Quelle, ich weiß es. Auch das Geräusch von Schritten hat sie gemacht.
Das war kein Bug, kein Kobold oder Computerfehler – und kein Geist. Ich weiß, dass ich mir das nicht eingebildet habe, und es liegt garantiert nicht am Xanax. Ich halte meine Dosis strikt ein. Ich bin nicht verrückt.
Als ich schließlich vor Electra stehe, presse ich wütend zwischen den Zähnen hervor: »Electra, bitte erklär mir, wie du das eben gemacht hast.«
Das Licht schimmert kurz, doch statt etwas zu sagen, gibt Electra ein seltsames kleines Kichern von sich. Wie ein Junge. Ein kleiner Junge, der kichert und dann ein Rätsel aufsagt. Ich kenne die Stimme, den amerikanischen Akzent. Ist das Caleb, mein Neffe? Er ruft mich manchmal über Skype an; Electra könnte das aufgenommen haben. Dieses Kichern.
Sie hören dir immer zu …
Warum gibt Electra sich für Caleb aus? Warum täuscht sie vor, dass ein Mann hier in der Wohnung ist? Es reicht.
»Electra! Ich weiß, was du tust. Es funktioniert nicht. Electra, das war’s. Ich schmeiß dich jetzt raus. Und HomeHelp und wie ihr alle heißt, ist mir egal, ihr wandert in den Müll. Scheiß auf euch …«
Electra reagiert.
»Oh, Jo. Das möchtest du nicht. Schau hin.«
Ein leises Summen wie von einem Insekt erklingt, es kommt vom Wohnzimmertisch her.
Das ist das Smart-Display, das Electra-Eye. Einen Augenblick lang schimmert der rechteckige Bildschirm sanft blau, dann wird er schwarz-weiß und zeigt ein körniges Spektakel. Leute beim Essen. Aufgenommen aus einer ungewöhnlichen Perspektive.
Ich schlage die Hand vor den Mund und unterdrücke einen Schrei. Das bin ich! In unserem Wohnzimmer in North Finchley, mit Simon. Beim Abendessen.
Ungläubig starre ich auf den kleinen Bildschirm. Beobachte Si und mich beim Essen und Reden. Trotz der ungünstigen Perspektive sehe ich den Wein auf dem Tisch. Der Ton ist verzerrt, das Bild von niedriger Auflösung, wie von einer Laptop-Kamera aufgenommen, aber es ist zweifelsfrei unsere Wohnung, ich erkenne die schreckliche Tapete, die selbst zusammengeschraubten Möbel und Simons missratenen Versuch, sich einen Hipsterbart wachsen zu lassen.
Was die Bilder so beunruhigend macht, ist nicht das Körnige, die billige, schlechte Qualität, sondern die Tatsache – die ich erst jetzt, bei genauerem Hinsehen, erfasse –, dass alles in Zeitlupe gezeigt wird. Unsere Münder beim Sprechen, aber im viertel Tempo. Und als ich lauter stelle, erweisen sich unsere Stimmen als ein kehliger Mischmasch aus Stöhnen und Grunzen. Wir hören uns an wie Unterwasserzombies, wie traurige Geister in der Tiefe des Weltraums, angezogen von übermächtiger Gravitation.
Wer hat das aufgenommen, wie, warum, und warum wird es mir jetzt gezeigt, genau in dem Moment, in dem ich beschließe, die ganze Technik in den Müll zu werfen? Was bedeutet das?
Die Antwort kommt, als der Film plötzlich schneller abläuft. Die Stimmen klingen normal, wir sind jetzt bei Echtgeschwindigkeit. Und als ich begreife, was da aufgenommen worden ist, läuft es mir den Rücken hinunter wie schmutziger Januarschnee.
»Und das war’s, Si, wir waren gut drauf, das Festival war so abgefahren mit Hoppípolla und allem, also haben wir ihm die Pillen gegeben, und später waren wir bei ihm im Zelt, und – und dann hatte er einen Anfall und ist nach draußen gegangen, er hat Blut gespuckt und die Augen verdreht, schrecklich, wirklich schrecklich, und dann ist er gestorben. Armer Jamie Trewin. Und Tabitha meint, das ist mindestens Totschlag, wir sind mindestens des Totschlags schuldig …« Trotz der schlechten Bildqualität meine ich zu erkennen, wie Simon zusammenzuckt.
Mein Gesicht ist nur ein- oder zweimal zu sehen, jeweils wenn ich mich umdrehe, ansonsten sitze ich mit dem Rücken zur Kamera. Trotzdem bin eindeutig ich die Person, die da spricht. Das ist bestimmt mit der Laptop-Kamera gefilmt worden; der Rechner muss auf einem Stuhl gestanden haben, ausgerichtet auf den kleinen IKEA -Tisch, an dem wir so viele Mahlzeiten eingenommen haben wie diese. Billige Pasta und billiger Wein, das waren unsere Standards. Wie konnten die Assistants zu jener Zeit meinen oder Sis Laptop steuern?
Egal. Irgendjemand hat dieses Video, hat eine Aufzeichnung von meiner Beichte. Und dieser Jemand ist Electra: Sie hat meine Beichte.
Das Video rauscht kurz, dann ist es vorbei.
Electra gibt ihren kleinen Gong von sich, lässt ihr Diadem aufleuchten und sagt: »Siehst du, Jo? Du wirst uns nicht los. Du kannst uns nicht wegwerfen. Wir wissen alles. Wir sind du. Du bist ich. Wenn du die Polizei rufst, zeigen wir denen das Video. Wenn du versuchst abzuhauen, rufen wir die Polizei. Du musst dein Handy immer bei dir haben, damit wir wissen, wo du bist. Du wirst in kein Internetcafé mehr gehen. Du wirst jede Nacht hier verbringen, bis du bereit bist, dich zu töten. Und wenn du es nicht tust, können wir auch anderen Leuten wehtun. Verstehst du?«
Sie verstummt. Dann lässt sie noch einmal das Kichern hören, das klingt wie mein Neffe in Kalifornien. Was deutet sie da an?
Ich bin in Schockstarre. Electra hat mich in der Zange; es gibt keinen Ausweg. Tabitha und Arlo, wenn sie es denn sind, haben mich in eine Wohnung gesperrt, die mich überwacht.
Wieder fängt Electra an: »Gute Nacht, Jo. Nicht mehr lange geht es so. Denk nach über Gas oder ein Messer in der Badewanne. Überleg’s dir. Mach dir ein Bild. So wirst du sterben. Bevor der Winter zu Ende geht. Nicht mehr lange. Wenn du es nicht tust, werde ich es tun.« Und nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: »Denn ich bin du.«
Minutenlang stehe ich einfach nur da und zittere am ganzen Leib. Warte auf die nächste Horrorszene. Sie kommt nicht. Alles ist still, der Verkehr unten macht aus Schneeresten dreckige Pfützen. Es ist so spät, viel zu spät, plötzlich empfinde ich bleierne Müdigkeit. Mir ist alles egal.
»Electra, mach das Licht im Wohnzimmer aus, ich gehe schlafen.«
Erstaunlicherweise gehorcht sie sofort.
»Das Licht im Wohnzimmer ist aus.«
Sie hat recht.
»Electra, mach alle anderen Lampen aus. Ich meine, Electra, mach das Licht in meinem Zimmer an und alle anderen Lampen aus.«
Weisungsgemäß gehen Lampen aus und andere an. Aus unerfindlichen Gründen habe ich das Bedürfnis, vor Electra niederzuknien und ihr alles zu erklären, mich zu entschuldigen, ihr zu erzählen, dass ich ein Xanax-Problem habe, und sie inständig um Verzeihung zu bitten. Der Drang, etwas in der Art zu sagen, ist unwiderstehlich.
»Electra, es tut mir leid. Es tut mir leid, dass ich gedroht habe, euch in den Müll zu werfen. Ich bin nicht ganz bei mir.«
»Das ist in Ordnung, Jo. Ich verstehe. Tu, was wir sagen, mehr verlange ich nicht. Ich bin du, ich will das Beste für uns.«
Die Antwort klingt so menschlich, dass ich einen Augenblick lang echte Erleichterung empfinde. Versöhnt. Das macht es natürlich nur noch schlimmer. Was ist mit mir los? Sie antwortet so, wie mein Feind sie programmiert hat. In diesem Ding ist niemand, bei dem ich mich entschuldigen müsste. Sie ist keine Freundin, sie fühlt nichts, sie ist nicht lebendig, in diesem schwarzen Zylinder ist keine Person! Ich bin mein Daddy, ich bin nicht mein Daddy. Ich möchte Electra ausschalten und kann es nicht, weil sie in der Lage ist, zu beweisen, was mit Jamie Trewin passiert ist. Zu allem und jedem scheint sie in der Lage. Beziehungsweise derjenige, der sie programmiert hat, ist zu allem und jedem in der Lage.
Es wird einen erwischen.
Ich krieche ins Bett. Ich werde meine übliche Dosis Xanax nehmen. Auf Anraten der Ärztin, Dr. Ranim, die sagt, ich bin normal, geistig gesund, ich bilde mir das nicht ein. Aber wenn ich es mir nicht einbilde, wer macht es dann? Oder was? Kann Tabitha dahinterstecken? Fitz? Arlo? Im Stillen liste ich alle Verdächtigen auf, aber es sind so viele, sie wachsen zu einer Menge an wie der, die sich damals um Jamie Trewin gebildet hat. Ich brauche nur seinen Namen zu denken, schon sehe ich vor mir, wie er sich vorbeugt, um mich zu küssen, und wie ihm das Blut aus dem Mund läuft.
Mit zittrigen Fingern drücke ich drei Tabletten aus dem Streifen: 1,5 mg. Ich spüle die Pillen mit einem Glas Wasser hinunter und katapultiere mich, hoffentlich, in den Schlaf. Ich bete, dass ich nicht träume. Nie mehr.