24
Jo
G eräusche wecken mich. Tageslicht. Wintersonne. Ich muss, gleich nachdem ich die Pillen genommen hatte, weggesackt sein und durchgeschlafen haben. Die Uhr zeigt 08:30. Und die Geräusche? Das ist Tabitha. Ich höre sie summen. Sie ist in der Küche. Das Klappern von Tellern und Besteck sagt mir, dass sie Frühstück macht. Erzähle ich ihr von gestern Abend? Soll ich wirklich verschweigen, was hier Gruseliges abgelaufen ist? Und dass ich sie immer wieder im Verdacht habe?
Ich schlüpfe in meinen Bademantel und tapse verschlafen in die Küche.
»Hey!«, sagt sie und lächelt, schick wie immer, in Kaschmir und Leder. »Jo-Jo Ferguson. Genau im richtigen Moment. Ich habe locker genug für zwei.« Sie füllt etwas auf und nimmt einen zweiten Teller aus dem Schrank. Dabei redet sie die ganze Zeit weiter. »Geräucherter Wildlachs und Rührei. Ich weiß, ich weiß, dekadent. Dazu ein bisschen Sauerteigbrot von Waitrose; ich hab’s schon getoastet, wärst du so lieb, Butter draufzuschmieren?« Während sie den Schrank inspiziert, summt sie fröhlich vor sich hin. »Oh, Gott, ich hab so Lust auf Sriracha, aber das können wir nicht machen, oder? Nicht zum Lachs. Ich will zu allem Sriracha, warum ist das nicht erlaubt? Wer macht diese dummen Gesetze?«
Ich bemühe mich um ein Lächeln, aber es gelingt mir nicht. Stattdessen reibe ich mir den Schlaf aus den Augen. Ich bin ein Roboter: Ich werde Electra. Aber ich versuche, normal zu sprechen.
»Das ist lieb, danke! Ich geh nur rasch Zähne putzen. Bin gleich da.«
»Okay, aber wir müssen schnell machen, ich hab mal wieder einen wahnsinnig vollen Tag. Dachte nur, ich seh kurz nach dem Rechten, und dann hab ich, als ich den Parkway raufging, auf einmal Hunger gekriegt! Aber ich muss flitzen.«
Ihr Lächeln ist eisern und strahlend und direkt: als wolle sie mich testen. Ich flüchte ins Bad. Mein Gesicht ist verquollen, und ich habe Ringe unter den Augen, und das, obwohl ich geschlafen habe. Die Erinnerung an gestern Abend verfolgt mich wie ein sehr schlechter Traum, der einfach nicht verschwinden will. Ich muss ruhig sein, ruhig bleiben, ruhig wirken.
Ein paar Minuten später sitzen wir am Wohnzimmertisch und kratzen den letzten Rest Ei von unseren Tellern. Sie legt Messer und Gabel zusammen und senkt den Blick.
»Ich seh’s ein. Ich glaube, das waren für längere Zeit die letzten Eier, die ich gegessen habe.«
Mein Blick wandert über den Tisch. Mein Teller ist leer, mein Bademantel könnte eine Wäsche vertragen, ich selbst eine Dusche. Ich will, dass Tabitha geht, und ich will, dass sie bleibt und meine Freundin ist.
Ich schaue ihr in die perfekt geschminkten Augen und frage: »Was? Warum isst du keine Eier mehr?«
Sie erwidert meinen Blick.
»Stehen die nicht auf der Liste? Du weißt schon? Eier, Pastete? Weichkäse? Wein?« Sie legt theatralisch die Stirn in Falten und blickt zum Fenster. »Oh, mein Gott, kein Wein mehr.«
Ganz allmählich geht mir ein Licht auf.
»Du meinst …« Ich warte, bis sie mich ansieht. »Du meinst, du bist schwanger?«
Die sorgenvolle Miene weicht einem Lächeln, einem echten, warmen Lächeln.
»Ja. Seit gestern weiß ich es. Hundertpro schwanger, in anderen Umständen und total neben der Spur. Arlo reserviert schon einen Platz in Eton oder Winchester oder so. Der kann mich mal. Ich schicke mein Kind doch nicht in so einen vornehmen Knast! Außerdem wird es sowieso ein Mädchen, ich weiß es einfach. Ich werde sie Britney Boudicca nennen, nur um Arlo zu ärgern.«
»Aber …« Mir schwirren tausend Dinge durch den Kopf. »Das ist doch toll, oder?«
Sie versucht seit Jahren, ein Kind zu bekommen. Ich freue mich ehrlich für sie – wäre da nur nicht in meinem Kopf die teuflische Stimme, die mir vorrechnet, was das für mich bedeutet.
Ich unterdrücke sie, doch tief in meinem Innern tönt sie weiter, während ich über den Tisch lange und Tabithas Hand nehme.
»Wahnsinnsneuigkeiten, Tabitha! Gott, du probierst es schon so lange. Einfach toll. Super!«
Sie strahlt und drückt meine Hand.
»Danke. Arlo will natürlich, dass ich sofort bei ihm einziehe, als wär ich irgendwie gebrechlich. Aber ich fürchte, ich muss, bald, in ein, zwei Wochen – damit ich mich rechtzeitig daran gewöhne.« Sie sieht sich in ihrem Wohnzimmer um. »Das hier wird mir fehlen, ach. Aber was soll’s?«
Sicher steht mir die Panik ins Gesicht geschrieben. Ich habe mich nicht im Griff.
»Du verkaufst also, okay … dann werde ich wohl … mal anfangen, mich umzuhören …«
Sie schüttelt den Kopf.
»Nein. Gott, nein, mach dir keine Sorgen! Du kannst hierbleiben. Arlo will, dass ich verkaufe, aber der Zeitpunkt ist total ungünstig, und ich werde meine beste Freundin nicht zur Obdachlosen machen. Such dir eine Mitbewohnerin, wenn du willst, ist mir egal. Ich werde Mutter; mein IQ sinkt jetzt schon. Bald werde ich hier sitzen und wiederkäuen.«
Sie grinst. Ich will ja lachen, aber da sind die Ängste, die vielen Ängste, die vielen Stimmen in meinem Kopf.
»Aber du ziehst zu Arlo? Bald?«
»Ja. Ha! Dann ist Schluss mit Internetpornos. Komm, lass mich abräumen. Du willst sicher duschen – entschuldige, dass ich hier so reingeplatzt bin und dir Essen aufgezwungen habe.«
Ich versuche, mir die Bestürzung nicht anmerken zu lassen. Im Prinzip lebe ich ja allein, aber zumindest habe ich mir Tabitha immer als Mitbewohnerin vorgestellt, und das hat die Einsamkeit gelindert. Nicht mehr lange, und ich bin ganz und gar allein. Mit ihnen . Vielleicht sollte ich es riskieren auszuziehen. Aber ich kann nicht, ich habe kein Geld, seit ein paar Wochen habe ich kaum Aufträge. Seit ich so mit der Angst beschäftigt bin. Wie ich es der Ärztin gesagt habe: Ich habe kaum noch etwas angeboten, ich bin nicht mehr offen für Themen.
Vor allem aber: Würde ich umziehen, würden die Assistants mich anzeigen. Das haben sie gesagt. Sehr deutlich. Mit dem kleinen Homevideo, das so kurz und technisch miserabel ist – und mich so sehr belastet.
Also will ich nichts dringender, als an einem Ort zu bleiben, an dem ich terrorisiert werde.
»Ist alles in Ordnung, Jo?«
»Ja.« Ich sehe ihr in die Augen. Ihr Blick wirkt ehrlich Anteil nehmend. »Na ja, fast. Es gibt ein paar Sachen, die … mir Sorgen machen.«
Sie runzelt die Stirn.
»Und?«
Ich nehme allen Mut zusammen.
»Ich weiß, es klingt verrückt, aber es geht um die Home-Assistants. Electra. HomeHelp. Du weißt schon, die .« Ich zeige auf den schwarzen Zylinder, der stumm hinter ihr auf dem Regal steht, dann auf das Smart-Display auf dem Tisch. »Haben die sich schon jemals irgendwie schräg benommen? Dir gegenüber?«
»Was? Wie denn schräg? Was meinst du damit?«
Ihre Miene wird immer unwilliger, und ich muss mich durchringen, überhaupt zu antworten.
»Zum Beispiel, indem sie Gedichte rezitieren. Oder die Lampen einfach so an und wieder aus machen. Erinnerst du dich? Davon habe ich dir erzählt. Und es ist noch viel schlimmer geworden. Die Dinger schreien mich an, sie jagen mir Angst ein, sie reden über meine Vergangenheit, sie wissen Sachen über mich, alles.« Jamie Trewin kann ich noch immer nicht erwähnen, das Tabu bleibt, aber alles andere kann ich ansprechen. »Außerdem machen sie komische Geräusche, Dielenknarren, Keuchen und so, und manchmal erreichen mich über mein Telefon Sachen, die auch von ihnen zu kommen scheinen.«
Tabitha steht mit dem Stapel Teller da und zieht ein Gesicht wie jemand, der wirklich Wichtigeres zu tun hat; vergebens versucht sie, ihre Skepsis zu verbergen.
»Jo, Süße, ich weiß nicht, wovon du redest. Hast du genug Schlaf? Tut mir leid, aber das klingt alles ein bisschen gaga. Mit den Geräten ist alles in Ordnung, die Technik ist auf dem neuesten Stand. Meinst du, ich hätte es nicht gemerkt, wenn in meiner eigenen Wohnung was schiefläuft?« Als sie in Richtung Küche verschwindet, höre ich ein leises »Tss«. Im Flur bleibt sie noch einmal stehen und ruft über die Schulter: »Hör zu, Jo, ich weiß, du bist ein bisschen gestresst, deshalb sage ich jetzt nichts mehr. Vielleicht können wir später noch mal reden. Jetzt muss ich wirklich los. Ich stelle schnell die Teller weg, und du kannst weitermachen.«
Die Küchentür geht zu. Gedämpfte Geräusche dringen heraus, Wasserrauschen, das Klappern von Geschirr, das in die Spülmaschine geräumt wird. Das dumpfe Klappen von Schranktüren.
Und dann geht es los. Electra, links von mir, fängt an, in all ihren Tonlagen zu raunen.
»Es wird Zeit, Jo. Los, Jo. Jo the Go, du musst. Zeit, dass du gegangen bist. Vielleicht sitzt du in einem Auto, vielleicht nimmst du Tabletten. Auch wenn du davon kotzen musst. Vielleicht ist das nur richtig. Nach dem, was du getan hast. Jo die Gegangene. Also tu’s einfach, Jo, tu es. Sei wie Daddy.«
Immer weiter faselt sie, bis ich schließlich begreife: Das ist sie.
Meine Chance.
»Tabitha!«, schreie ich. Das muss sie hören. »Tabitha?!«
Ein Geschirrtuch in der Hand, kommt meine Freundin angerannt und starrt mich erschrocken an.
»Was? Was ist los?«
»Hör mal«, sage ich triumphierend. »Hör Electra zu.«
Wir verstummen. Wir fixieren den schwarzen Zylinder voller Elektronik.
Und natürlich gibt Electra keinen Mucks von sich. Kein Wort, kein Raunen. Nichts regt sich.
Verzweifelt drehe ich mich zu Tabitha um. »Du musst mir glauben, eben hat sie es wieder getan. Sie hat gestichelt, hat gesagt, ich soll mich umbringen, hat über meinen Vater geredet, darüber, wie er nach dem Ausbruch der Krankheit war, sie hat – oh, Gott, bitte, Tabitha, das ist kein Witz!«
In meiner Hysterie fahre ich zu Electra herum.
»Bitte, Electra, wiederhol, was du gesagt hast.«
Der kleine Gong, das blaugrüne Krönchen, das gleich wieder erlischt.
»Heute werden es zwei Grad, und es besteht die Möglichkeit, dass es schneit.«
»Nein!«, brülle ich. »Nein, Electra, sag das, was du vor einer Minute gesagt hast. Das ganze Zeug über Jo the Go, Sylvia Plath. Den Selbstmord. Sag es, Electra!«
»Das weiß ich leider nicht.«
»Electra!!!«
Ich verstumme. Atemlos. Zu spät.
Tabitha fixiert mich mit einem mir vertrauten Ausdruck. Den kenne ich. So haben die Leute meinen Vater angesehen, wenn er etwas schrecklich Peinliches, Irres von sich gegeben hatte. Sie erröteten leicht und erstarrten mit bedauernder Miene.
Genau so sieht Tabitha jetzt mich an.