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Jo
J
enny lädt mich für heute Nachmittag auf einen schnellen Drink ein; sie hat in Camden zu tun, bei einer Software-Firma hier um die Ecke. Erfüllt von absurder, fast hysterischer Dankbarkeit starre ich auf den sparsamen Text.
Können wir uns gegen 15 Uhr im »York & Albany« treffen?
Auf diese Gelegenheit warte ich, seit wir uns in der »Vinoteca« begegnet sind, obwohl sie gleich gesagt hat, dass sie erst noch beruflich unterwegs sein würde. Jedenfalls erscheint mir die Einladung in verschiedener Hinsicht wie ein Rettungsring; etwas, das mir hilft, den Kopf über dem eisigen Strudel zu halten. Ein paar Drinks, eine Bar in der Nähe, und zwar die schicke mit Blick auf den Park.
Drinks. Normalität. Freundschaft. Alltag
.
Mehr will ich gar nicht. Ein netter Plausch mit einer witzigen Freundin, und mein Leben wird einen anderen Kurs nehmen, weg von den schwarzen Felsen, die anscheinend meinen Untergang bedeuten. Und tief in mir bewahre ich die kostbare Erinnerung an den besorgten Blick, den Jenny mir in der »Vinoteca« zugeworfen hat, so, als wüsste sie etwas über meine Probleme und könnte mir vielleicht helfen.
Es ist ein mickriger Strohhalm, aber ich klammere mich daran.
Als es drei wird, öffne ich die Haustür, und mir schlägt eisiger Wind entgegen. Und – Januar – es dämmert bereits, so elend früh. Die Dunkelheit lagert vor der Stadt, eine Armee, die darauf wartet, die Herrschaft zu übernehmen. Dieser kalte Winter verwandelt die Stadt
in einen stummen Schmerzensschrei. Schwarze Baumkronen krallen sich verzweifelt in einen glatten weißen Himmel. Auf den Frontscheiben der vorbeifahrenden Autos klebt der Frost der vergangenen Nacht wie schmutzig weiße Spitze. Weitere Schneefälle sind angekündigt. Wir kommen hier nicht raus.
Ich überquere die Delancey, biege ab, schaue den Parkway rauf zu den Nash Terraces und entdecke Jenny, die, warm eingepackt in rotem Mantel und blauem Schal, vor dem Pub sitzt und hektisch raucht. Warum ist sie bei diesem Wetter draußen? Sie schaut hinüber zu einer Schar von Kindern, die aus der North Bridge Prep School kommen und die Straße überqueren – Kindergarten- und Vorschulkinder, bunt und quirlig, die Richtung U-Bahn oder Bushaltestelle oder Mamis Auto auseinanderstieben. Normalerweise machen sie ziemlichen Lärm, aber jetzt ist es so kalt, dass sogar sie gedämpft wirken.
Trotzdem starrt Jenny sie die ganze Zeit aufmerksam an. Selbst, als sie ihre Zigarette ausdrückt und das Feuerzeug einsteckt.
Dann hört sie mich kommen und dreht sich um.
Auf ihrem vertrauten runden Gesicht liegt ein Ausdruck, den ich noch nie gesehen habe. Angst? Nein. Verlegenheit? Vielleicht. Wut? Vielleicht. Ich werde nicht schlau daraus.
Oh, Gott, ich wollte eine normale, wenn nicht sogar helfende Jenny. Ich wollte die typische lustige, entspannte, liebenswerte, kluge Jenny mit dem neuesten Klatsch aus der Hightechwelt und herrlich krassen Kommentaren zu Männern und Sex. Eine verlegene oder schlecht gelaunte Jenny kann ich nicht gebrauchen, heute schon gar nicht.
»Hi«, sage ich und zeige auf die Kinder. »Guckst du dir Schulen an? Geht’s los mit der Familienplanung?«
Sie lächelt nicht. Der fremde Gesichtsausdruck bleibt, verstärkt sich eher noch.
»Meine Nichte ist an dieser Schule. Mich haben meine Eltern auch
in so eine Privatschule geschickt.« Sie gibt einen schroffen Seufzer von sich. »Da kann das Mobbing besonders übel sein.«
Ihr Ton ist ausdrucklos, aber es klingt nicht nach Gleichgültigkeit, sondern eher, als versuche sie eine starke Regung zu unterdrücken.
Sie mustert mich von oben bis unten.
»Wollen wir reingehen? Ich musste eine rauchen, aber es ist furchtbar kalt.«
»Okay.«
Wo bleibt die übliche Umarmung? Wo der Austausch kleiner, liebevoller Spitzen? Im Moment komme ich mir eher vor wie bei einem förmlichen Interview, oder als würde ich irgendeinem Check unterzogen.
Das Pub mit seinen riesigen lila Samtsesseln und den glamourösen modernistischen Leuchten ist so gut wie leer. In einer Ecke sitzt ein Paar bei einer Flasche Sekt und redet. Wir lassen uns in einer anderen Ecke nieder. Jenny wirft ihren Mantel über den freien dritten Stuhl. Sie würdigt mich keines Blickes.
Ein gutaussehender Kellner in Jeans, weißem Hemd und Weste steht schon bereit.
»Was darf ich Ihnen bringen?«
Jenny sieht ihn an und antwortet, immer noch in diesem gleichförmigen Ton, der irgendeinen tieferen Sinn zu haben scheint: »Gin Tonic. Slimline Tonic. Tanqueray. Danke.«
Sie trinkt Gin Tonic? Um drei Uhr nachmittags? Der Kellner sieht mich an.
»Ich nehme … ein kleines Glas von diesem Weißwein, wie heißt er noch …? Pic irgendwas …«
»Picpoul?«
»Ja.«
Er nickt, lächelt und sagt: »Gute Wahl!«, und als er geht, versuche ich, das Gespräch über eines unserer üblichen Themen in Gang zu
bringen.
»Wieso sehen Männer in Westen immer besser aus? Ist das maskuliner, oder was? Ich versteh gar nicht, wie die je aus der Mode kommen konnten.«
Jenny antwortet nicht. Sie starrt mich ausdruckslos an, starrt an mir vorbei, auf ein eher abstraktes Bild an der Wand, eine nackte Frau in einem Wald, der an den Rändern in ein wildes, diffuses Farbengemisch übergeht. Vielleicht bin ich genau das: eine Nackte in einem Wald, der sich in ein Labyrinth von Wahnsinn verwandelt.
Nein. Ich werde nicht verrückt. Werde ich nicht! Aber warum benimmt Jenny sich so seltsam? Ich beuge mich vor.
»Was macht die Arbeit? Hast du Anna getroffen und Gul? Alles okay? Gibt’s neuen Klatsch?«
Sie zuckt die Achseln.
»Ist okay.« Jetzt sieht sie mich an, dann wieder die Wand, dann wieder mich. »Bei der Arbeit ist alles gut.«
Unbehagliches Schweigen. Die Drinks kommen, und sie nimmt einen großen Schluck, und dann schüttelt sie den Kopf und sagt: »Was ist los, Jo, hab ich dir was getan?«
»Was? Wieso?«
Jetzt zittern sogar ihre Lippen. »Ich weiß, ich hab dich oft vertröstet, war keine Superfreundin, hatte oft keine Zeit. Aber ich hatte so viel zu tun …«
Ich wiederhole mich. Verunsichert. »Entschuldige, Jenny, aber …«
Sie fällt mir ins Wort. »Aber selbst wenn ich nicht so für dich da war – womit habe ich das verdient?«
Erschrocken fahre ich zurück. Ich habe keine Ahnung, wovon sie redet.
Abfällig grinsend hebt sie ihr Glas und trinkt noch einen Schluck.
»Tu nicht so, als wüsstest du nichts davon. Du hast diese Mail doch geschrieben. Du.
Und ich dachte, du bist meine Freundin. Wie
konntest du nur?«
Meine Welt kippt. Ich bin eine Nackte in einem Wald, der immer dunkler und fremder wird.
»Ich … ich habe nichts geschickt«, stammele ich. »Ich schwör’s dir. Ich weiß überhaupt nicht, was du meinst. Welche Mail?«
Sie beugt sich zu ihrem Mantel hinüber und zieht ein Blatt Papier aus der Innentasche.
»Hab ich mir gedacht, dass du es leugnest. Deshalb hab ich sie ausgedruckt. Hier, sieh dir an, was du geschrieben hast. Warst du betrunken, Jo? Aber selbst wenn«, ihre Augen sind feucht, sie scheint den Tränen nahe, »selbst wenn, wie konntest du so gemein sein? Und warum um Gottes willen?«
Das gefaltete Blatt landet auf meinem Schoß. Beklommen klappe ich es auf. Und lese mit wachsender Scham. Die Mail wurde eindeutig von meinem Account gesendet. Ich kann mich an kein einziges Wort erinnern, aber sie ist von meinem Account gekommen. Vor sechs Tagen. Und sie ist eine einzige Tirade, ein Schwall von Hass und Verachtung. Ich verspotte Jennys Kleidungsstil, ihr Übergewicht, ihre »alberne Art« zu reden, ihre »Anspruchshaltung«, ihren »absurden Narzissmus«, ihre »widerliche Arroganz« und immer so weiter. Aber noch schlimmer, viel schlimmer ist das, was da über ihren familiären Hintergrund steht. Vor allem bei einem Absatz könnte ich aufheulen vor Scham.
Im Grunde bist du einfach bescheuert, Jenny. Alle kennen dein Geheimnis. Alle wissen, was Daddy mit dir gemacht hat. Deswegen klappt es nicht mit einem Freund, weil du missbraucht worden bist, ja, ja. Wir wissen es. Aber es hat dir gefallen, oder? Der Missbrauch. Insgeheim hast du es gemocht und wolltest mehr davon. Kleines Miststück. Nackt in der Küche, damit Daddy dich findet. Und dann jammerst du rum, dass du keinen Freund abkriegst? Also ehrlich.
Vielleicht musst du mal erwachsen werden. So langsam. Zwanzig Jahre zu spät. Schlampe.
Mir zittern die Hände, als ich das Blatt fallen lasse.
Bei Jenny zittert die Stimme. »Woher weißt du es, verdammt? Hast du es die ganze Zeit gewusst? Und warum um Gottes willen musst du mir eine solche Hasstirade schicken?«
Der Kellner kommt, um uns nachzuschenken; er braucht einen Moment, dann erfasst er die Stimmung und zieht sich wieder zurück.
Meine Stimme überschlägt sich. »Ich hab dir das nicht geschickt, Jenny! Ich schwör’s. Auch wenn es meine Mailadresse ist, ich weiß, das sehe ich …« Verzweifelt zeige ich auf das Blatt, das jetzt auf dem Tisch liegt. »Aber ehrlich: Ich habe das nicht geschrieben. Ich wusste von alldem nichts, das mit dir und deiner Familie, und … und … und selbst wenn ich es gewusst hätte, wäre ich nie auf die Idee gekommen, es so auszunutzen, das musst du mir glauben! Du warst meine beste Freundin, als wir klein waren. Du bist meine älteste Freundin. Gott! Du weißt doch, dass ich so etwas nie tun würde! Das hat jemand anders geschrieben. Jemand, der sich für mich ausgibt. Der meinen Account gehackt hat. Da spielt jemand Spielchen, glaub mir, bitte!«
Jenny steht bereits. Zieht ihren Mantel an. Ihr weißes, zornig abweisendes Gesicht verrät, dass sie mir kein Wort glaubt.
»Ich bin Programmiererin, Jo, auf einem hohen Level. Programmieren und Software – darin bin ich ziemlich gut. Damit verdiene ich meinen Lebensunterhalt. Also habe ich alles gecheckt, die IP
-Adresse, das Routing, alles. Das da ist vor sechs Tagen von dir auf deinem Rechner geschrieben worden – es sei denn, es wäre jemand bei dir eingebrochen und hätte schnell heimlich eine Mail geschrieben. War’s so?«
Ich öffne den Mund, weiß nicht, was ich sagen soll.
»Natürlich nicht.« Angewidert starrt sie mich an. »Du warst das.
Okay, du kannst deine Mail behalten und herumerzählen, was du willst. Mach’s gut, Jo. Aber sprich mich nie wieder an. Schick mir keine Mail, ruf mich nicht an, melde dich nicht auf Facebook oder Twitter; wenn du mich auf der Straße siehst, mach einen Bogen um mich; ich will nie wieder von dir oder über dich hören, ich will dich nie wieder sehen. Bis zu dem Tag, an dem ich sterbe.«
Steif marschiert sie davon. Der E-Mail-Ausdruck raschelt im Wind, als die Tür des Pubs auf- und wieder zugeht. Ich wende mich ab, ich will nicht, dass der neugierige Kellner die Scham und Verzweiflung in meinem Gesicht sieht.
Sie war eine der Letzten, mit denen ich noch freundschaftlich verbunden war. Verständnisvoll und witzig, manchmal auch traurig, in sich gekehrt und reserviert. Jetzt weiß ich, warum. Ich hatte keine Ahnung, dass sie missbraucht worden ist. Diese Enthüllung macht vieles klarer: dass sie sich, als wir klein waren, immer mehr zurückgezogen hat. Ich dachte, sie hätte Angst vor meiner Familie, aber es war ihre eigene – ihr Vater. Das erklärt alles. Die Scheidung ihrer Eltern. Dass sie so überstürzt weggezogen sind. Arme Jenny.
Der Schrecken schnürt mir die Kehle zu. Es ist ein ätzender Geschmack.