26
Jo
D
er angekündigte Schnee ist da. Bevor er kam, gab es Blitz und Donner, schwarze und gelbe Risse im sonst weißen Himmel. Die Leute gehen durch eine stille, gedämpfte Welt. Auf Skype meldet sich Caleb, mein kleiner Neffe. Sein fröhliches, sonniges Gesicht strahlt aus dem fröhlichen, milden Kalifornien zu mir herüber. Hinter seinem Blondschopf und dem süßen Lächeln nimmt ein lichtdurchflutetes Haus den gesamten Bildschirm ein. Auf einem blitzenden Glastisch thront ein Geburtstagskuchen.
»Danke, Tante Jo! Vielen Dank für die Spielsachen zum Geburtstag! Ich hab dich lieb!«
»Ich hab dich auch lieb, Caleb!«
»Der Teddy ist super. Ich glaub, ich werf ihn auf Papa, der mag das.«
Er hat einen breiten amerikanischen Akzent. Irgendwo aus dem Hintergrund dröhnt das Lachen meines Bruders.
»Nein, Caleb, Papa mag das nicht«, ruft er sehr britisch. »Wir haben schon eine Kissenschlacht hinter uns. Und jetzt sag Tante Jo bye-bye, deine Freunde kommen gleich.«
»Bye-bye-bye-bye-bye-bye, Jo-Jo-Jo!«
Er winkt mir zu und grinst. Und kichert. Ich denke an Electra, daran, wie sie dieses Kichern wiederholt hat, und schiebe die Erinnerung schnell beiseite.
Lieber winke ich zurück.
»Hab dich liiiieb!«
Der Bildschirm erlischt. Einen Augenblick lang fühle ich ganz klar, dass ich auch ein Kind haben möchte. Dieses Gefühl stellt sich nur ein, wenn ich mit Caleb spreche oder ihm begegne. Das ist wohl genetisch. Er hat meine Gene. Aber es ist auch Liebe, echte Liebe. Caleb muss man einfach lieb haben. Mein Bruder da drüben hat es gut.
Gut, weil er nicht hier ist.
Wenn ich schon keine kalifornische Sonne abkriege, kann ich doch wenigstens an die frische Luft. Ich wickele mich so fest in den Schal, dass ich aussehe wie einer, der mit einer schweren Kopfverletzung aus dem Ersten Weltkrieg heimkehrt. Vielleicht bin ich das ja in gewisser Weise.
Während ich langsam auf die Tür zugehe, habe ich das Gefühl, dass das Smart-Display mich beobachtet, dass es schweigend registriert, wie ich die Wohnung verlasse. Wie eine sehr strenge, aber gewissenhafte Mutter.
Es ist kalt. Knirschende Schritte bringen mich den Parkway hinauf und an den schmiedeeisernen, mit je einer kleinen Schneehaube versehenen Stäben des Gloucester Gate vorbei in den verlassenen Regent’s Park. Die Welt ist schwarz-weiß. Krähen und Schnee, Eis und Schmiedeeisen. Die cremeweißen Nash Terraces mit ihren Säulen muten in dieser Winterwelt – neben der strahlend weißen Schneedecke auf Spielplatz und Fußballfeldern, jenen ausgedehnten Rasenflächen, auf denen an milden Sommerabenden alkoholisierte junge Londoner Softball spielen – russisch an, wie Paläste aus einem fiebrigen Traum von Sankt Petersburg. Die großen Flächen sind jetzt verwaist.
Kein Vogelgezwitscher. Ein einzelner alter Mann ist mit seinem Hund unterwegs, weit, weit entfernt, kaum zu erkennen in der eisigen Luft, in der eine Art glasiger Dunst liegt. Sieht so aus, als gingen Mann und Hund auf den Inner Circle zu; gleich verschwinden sie in der Allee aus knochigen Kirschbäumen.
Sonst ist niemand da. Der verlassene Park gehört mir.
Schon setzt die Dämmerung ein, bald werden sie die Tore abschließen, und ich bleibe womöglich über Nacht eingesperrt; wahrscheinlich sind die Tore und Zäune für eine kleine Frau zum Drüberklettern zu hoch. Kurz frage ich mich, ob es mir überhaupt etwas ausmachen würde, eingesperrt zu werden. Ich könnte mich beim See oder im kahlen Rosengarten in den Schnee legen und schlafen oder in den eisigen weißen Musikpavillon mit seiner gotischen Girlande aus Eiszapfen. Ich wäre eine Prinzessin, die, magisch behütet, für immer im Eiskönigreich schläft.
Nein.
Stattdessen hole ich mein Handy hervor und tue, was ich seit Tagen tun will und immer wieder vergessen habe.
Ich will ein paar von den seltsamen Sätzen googeln, die Liam von sich gegeben hat. Oder eher: die Electra ihm in den Mund gelegt hat. Im Rückblick erscheinen sie so schrill, dass sie vielleicht ein Hinweis sind.
Als Erstes gebe ich den ein, der mir am deutlichsten in Erinnerung ist. Es wird einen erwischen.
Nichts. Oder alles. Der Satz klingt leicht exzentrisch, aber er kann sonst woher stammen.
Also andere. Was mir gerade in den Sinn kommt. Es fällt mir schwer, mich zu erinnern, weil ich solche Angst hatte. Und erinnere ich mich überhaupt richtig?
Ich werde nichts dafürkönnen. Ich weiß es jetzt. Ich weiß über dich Bescheid. So viel Schwärze und Schweigen, und dann das?
Nichts Interessantes. Zufällige Treffer.
Ich bin kurz davor aufzugeben. Wind fegt über die Schneeflächen und bläst mir kleine kalte Flocken ins Gesicht. Die gusseisenschwarzen Bäume in der Ferne knarren und neigen sich in der eisigen Bö. Vielleicht ist das alles Unsinn.
Einen seltsamen Satz probiere ich noch, etwas, das kein normaler Mensch sagen würde.
Am Tag, als du starbst, ging ich in den Schmutz.
Ich zwinkere, einmal, zweimal und noch einmal.
Laut Google stammt dieser Satz aus einem Gedicht von Sylvia Plath.
Plath.
Natürlich.
Sofort wechsle ich zu Amazon. Bezahle die digitale Version eines Plath-Gedichtbandes und lade sie herunter. Darin finde ich das ganze Gedicht. Es geht darin um ihren Vater, natürlich, aber es scheint auch ihren Suizid schon anzudeuten.
Das Gedicht heißt Elektra auf dem Azaleen-Pfad
. Electra?
Es verfestigt sich etwas, wie Eis, das auf Wasser zu einer durchsichtigen Haut gerinnt. In dem, was mit mir passiert, gibt es ein Muster. Vielleicht ist das Muster Bestandteil davon? Ein grausames, irreführendes Rätsel, das ich entwirren muss? Subtile Hinweise, subtile Quälerei? Vielleicht kriege ich Hinweise, die langsam, aber sicher zu meinem eigenen Tod führen?
Als ich klein war, habe ich überstanden, dass mein Vater verrückt wurde; genauso kann ich überstehen, was jetzt geschieht.
Schaudernd, leicht verwirrt und mit einer Spur Trotz schließe ich das E-Book, stecke das Handy weg und lasse den Blick über den starren, unheimlich stillen, im Schnee gefangenen Park schweifen. Meine Lippen sind taub, und trotzdem zucken sie ständig. Ich schaue nach Norden, zu den dunstumschleierten Toren und der strengen Silhouette der St Mark’s Church mit ihren Türmen, wo in den Steinblüten auf den Gräbern Schneekugeln ruhen wie geisterhafte Eiscreme.
An diese Entdeckung muss ich mich halten. Dieser ganze Irrsinn hat eine Logik, auch wenn ich sie nicht erkenne. Noch nicht. Aber ich fange an, in dem weißen Einerlei Gestalten zu erahnen. Jenny zum Beispiel. Wie passt Jenny in das alles hinein? Vor ein paar Tagen haben
meine Assistants ihr diese Mail geschickt. Warum sollen sie und ich auseinandergebracht werden? Ich schätze, weil sie wussten, dass sie mir hätte helfen können. Den Eindruck hat sie in der »Vinoteca« gemacht. Da war eine Andeutung von Mitleid und Verständnis, offenbar der Drang, mich zu unterstützen. Irgendetwas weiß sie.
Und nun will sie nie wieder mit mir reden. Der einzige Mensch, der mir hätte helfen können, das Rätsel zu lösen, ist durch die Assistants erfolgreich verscheucht worden. Und das Gleiche werden sie wohl mit allen machen, die in der Lage wären, mir beizustehen.
Ich passiere das Tor, kehre dem Park den Rücken, überquere den Kanal und lasse den überfrorenen Pfad und die Hausboote hinter mir, um ins menschenleere Herz von Primrose Hill vorzudringen.
Inzwischen ist es fast dunkel; der Abend ist da, eine Besatzungsmacht mit tödlicher Sperrstunde; kein Mensch ist in der Kälte unterwegs, niemand dreht sich um und wundert sich, warum ich in der Fitzroy Avenue vor dem Haus Nr. 23 stehen bleibe und hineinspähe. Ins Todeshaus von Sylvia Plath.
In der Küche im Souterrain brennt gelbliches Licht. Sieht so aus, als wohnten hier reiche Leute. Die Küche ist neu und schick, mit Induktionskochfeldern und teuren Geräten. Schöne Holzmöbel, reihenweise ausgesuchte Öl- und Balsamico-Flaschen, die im warmen Licht glänzen. Opulent. Weinregale, Kupferpfannen. Ich stelle mir vor, dass sie kein Gas haben. Mein früheres Ich hätte darüber einen bösen Witz gerissen, heute finde ich das alles andere als witzig.
Ich male mir aus, wie Sylvia Plath zu einer Zeit, als die ganze Gegend viel ärmer war, allein in diesem Haus saß, während ihre Kinder schliefen. Wie ist es ihr an jenem Abend ergangen? Hat sie sich so gefühlt, wie ich mich fühle, wenn die Home-Assistants loslegen? Sie war vor ihrem Selbstmord ähnlich isoliert wie ich. Es gab Leute, die ihr helfen wollten, aber sie hat Hilfe abgelehnt.
Sie war isoliert. In einem Winter, so hart wie dieser.
Plötzlich werden die Jalousien der Souterrainküche geschlossen, und ich, verlegen, schuldbewusst, weiche so hastig zurück, dass ich um ein Haar auf dem verschneiten Fußweg ausrutsche und falle. Die Besitzer müssen gesehen haben, wie ich gegafft habe. Wie oft sie das wohl erleben? Dass gnadenlos neugierige Leute stehen bleiben, zu ihnen hineinstarren und denken: Hier hat sie es also getan.
Langsam trudele ich nach Hause, vorbei an dunklen Fünf-Millionen-Pfund-Häusern und Schneeverwehungen, über die sich eine Schicht im Schein der Straßenlaternen unschuldig glitzernden Neuschnees gelegt hat. Es herrscht kaum Verkehr, London steht beinahe still, nur die weißen Lieferwagen kommen ihrer Pflicht nach; unermüdlich rollen sie über den vorsorglich gestreuten Splitt, obwohl es immer und immer weiter schneit.
Die Wohnung wirkt irgendwie leer, selbst was mich angeht. Als wäre ich gar nicht hier. Als wäre ich überhaupt an keinem bestimmten Ort. Unentschlossen, unruhig, bemüht, jeden Gedanken an Daddy oder an Selbstmord auszublenden, wandere ich in die Küche und nehme ein Messer aus der Schublade, um ein paar Tomaten aufzuschneiden. Für einen Salat mit etwas Avocado und Mozzarella. Ich habe Hunger – und überhaupt keine Energie.
Essen, ich muss essen.
Mein Blick fällt auf das Messer; ich fahre mit dem Daumen die Klinge entlang. Wie fest ich wohl zudrücken müsste, damit Blut fließt?
»Electra, sag mir, was ich machen soll.«
»Du solltest etwas zu Abend essen.«
»Electra, woher weißt du, dass ich Hunger habe?«
»Entschuldigung, das weiß ich leider nicht.«
Langsam, methodisch bereite ich den Salat zu. Dann nehme ich den Teller mit ins Wohnzimmer, stelle ihn auf den Tisch und klappe, während ich esse, zum ersten Mal heute den Laptop auf.
Fünfzehn ungelesene Mails. Diese plötzliche Häufung hat etwas zu
bedeuten. Die Nachrichten kommen von praktisch allen Freunden, die mir noch geblieben sind. Und allein die Betreffzeilen lassen mich den Teller schnell beiseiteschieben.
Der Hunger ist mir vergangen; mir ist schlecht. Mit verschränkten Armen beuge ich mich vor und lese die Betreffzeilen der Reihe nach.
Was ist los?
Entschuldige, Jo.
WARUM
?