28
Simon
E
r saß zwölf Stockwerke hoch über Shoreditch in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch, starrte auf den Eisregen, der gegen die Fensterscheiben schlug und kleben blieb, und fragte sich, wie lange Polly wohl noch brauchen würde. Sie war mit Grace zur Großmutter gefahren und musste sich jetzt durch Londons von Schnee und Eis nahezu lahmgelegten Bahn- und Busverkehr nach Hause kämpfen.
Also hatte er die Wohnung für sich. Und was ihn beschäftigte, brauchte den Raum. Damit er verstand.
Er öffnete sein Posteingangsfach und las die Mail, die er morgens von Jo bekommen hatte, noch einmal. Es war eine ellenlange Suada, die strotzte vor Verachtung und Hass; über seine Unzulänglichkeit als Liebhaber ließ sie sich aus, seine dazu passende Unfähigkeit, es bei der Arbeit zu etwas zu bringen, seine »unfassbar dumme Ehe mit diesem Trampel, dieser Polly Henderson, dieser langweiligen Kuh, ich wüsste echt gern, ob sie bei der Empfängnis gemuht hat, es muss geklungen haben wie auf dem Bauernhof, ich wette, es hat sich angehört wie auf dem Bauernhof«.
Nichts als Gemeinheiten, und dennoch, als Simon die Mail jetzt las und noch einmal las – und praktisch tat er schon den ganzen Tag nichts anderes –, hatte er das Gefühl, dass sie nicht nach Jo Ferguson klang. Die Syntax passte nicht, grammatikalisch war das nicht ihr Stil. Er hatte, als Freund, Liebhaber und Ehemann, im Lauf der Jahre genug von ihr gelesen, Offizielles und Privates, auch Liebesbriefe,
damals, als sie jung gewesen waren; ihre Schreibe war immer etwas raffinierter gewesen, doppelbödig und trocken, und – das war vielleicht das Auffälligste – ihre Interpunktion war anders. Sie liebte Semikolons.
In dieser Mail kam kein einziges Semikolon vor. Ebenso wenig in dem Auszug aus einer Mail, den Gul ihm am Abend zuvor im Pub gezeigt hatte; einer weiteren Schmähschrift von Jo – in diesem Fall an Guls Adresse.
Gul zog aus dem Ganzen den Schluss, dass Jo jetzt entweder ihr wahres Gesicht zeigte oder aber verrückt wurde. So oder so, die Mail war so widerlich, dass er nichts mehr mit diesem neugierigen Miststück zu tun haben wollte, konnte sie sowieso nie leiden – dieser alberne Artikel über die Techfirmen, blöde Kuh; früher fand ich sie ganz witzig, aber Anna hat sie auch solchen Scheiß geschickt, Jenny hat mir erzählt, was sie gekriegt hat, alle Welt kriegt diese ekelhaften Mails …
In dem Pub in King’s Cross am Vorabend, wo er mit seiner Flasche Camden Hells IPA
im Gedränge gestanden hatte, war es Simon leichtgefallen, sich Guls Tirade anzuhören und beschwichtigend zu nicken: Ich weiß auch nicht, was in sie gefahren ist, sie stößt alle vor den Kopf, sämtliche Freunde, wirklich schräg.
Aber jetzt, hier, war er sich nicht mehr so sicher. Er schwang auf seinem Drehstuhl herum und schaute hinüber zu den weiter entfernten Hochhäusern der City. Unter dem schmutzig grauen Winterhimmel hatte die Londoner Skyline etwas beunruhigend Chaotisches, Planloses, Übertriebenes. Außer Kontrolle geraten. Schizoid.
Wie Jo Ferguson?
Nein.
Er konnte das nicht glauben. Jedenfalls wollte er es nicht glauben.
Jo doch nicht. Sie war immer die Zielstrebigste gewesen,
extrovertiert, gut organisiert. Sie war ans King’s College gekommen und hatte eine Eins gemacht, nicht eine schlappe 2,2 wie er. Jo Ferguson. Jo the Go. Das schlaueste Mädchen in seinem Oberstufenjahrgang, eine der Hübschesten an der Uni, für ihn unerreichbar; die Frau, die er geliebt hatte, seit er fünfzehn war; die Frau, die alle mit dem Plan überrascht hatte, Journalistin zu werden, und die sich dann aufgemacht und genau das getan hatte. Innerhalb eines Jahres war sie so weit gewesen, dass sie Vollzeit für überregionale Zeitschriften und Zeitungen arbeitete, mit Autorenzeile, Foto und Namen. Und dann war sie Freelancerin geworden, bekam manchmal zwei, drei Seiten für sich, und bei einer dieser Gelegenheiten hatte sie den kritischen Artikel über die Big Tech lanciert.
Der Artikel hatte ihn schwer irritiert, nicht zuletzt die Tatsache, dass Jo sich so lässig die Feindschaft mächtiger Leute eingehandelt hatte, und zugleich hatte er sie dafür bewundert – wenn nicht darum beneidet –, dass sie die Verbindungen und Netzwerke, selbst die perfekt verborgenen, so mutig und klug und geradezu kriminalistisch aufgedeckt hatte. Ebenso hatte er ihre Fähigkeit bewundert, wirklich clevere Leute so weit zu bringen, dass sie ihr sehr aussagekräftige Zitate lieferten. Leute wie Arlo und Gul.
Der Schnee, der gegen die Fenster schlug, wurde grobkörniger, fast hagelartig. Simon stützte das Kinn auf die zusammengelegten Hände und starrte ins Nichts. Starrte auf seinen leeren Bildschirm. Suchte eine Antwort auf die Frage, die sich nicht beantworten ließ: Warum hätte Jo diese Mails, die ihr doch selbst schadeten, verschicken sollen? Ging es darum, eine Reaktion zu provozieren; versuchte sie, ihre These zu beweisen, dass die Techindustrie böse war und danach strebte, die Herrschaft über das Leben des Einzelnen zu übernehmen? Vielleicht hoffte sie auf eine Reaktion seitens der Branche, seitens seiner Kollegen, denn dann hätte sie eine weitere brandaktuelle Story.
War das wahrscheinlich?
Die Alternativen waren nicht viel besser: a) sie wurde dazu gezwungen, b) sie wurde verrückt.
Wie die Antwort auch aussah, er musste Jo helfen, denn er liebte sie nach wie vor und würde es immer tun. Er liebte sie so sehr, dass sie manchmal in seinen Fantasien vorkam, Jo, wie sie mit diesem Typen Sex hatte, diesem Liam; das törnte ihn an, auch wenn es ihn gleichzeitig eifersüchtig machte. Er hatte immer noch Fotos von Liam, von denen er wusste, dass sie Jo gefielen, und zwar genau aus dem Grund: wegen der Fantasien. Zugleich schämte er sich deswegen und hatte Gewissensbisse, denn Polly liebte er auch, und das Baby vergötterte er. Aber Polly würde das nie verstehen.
Er hob den Blick und schob den Tagtraum von Schuld und Verwirrung beiseite, denn er hatte aus dem Gang draußen etwas gehört. Vielleicht war Polly schon zurück, und Grace erzählte vor sich hin, während ihre Mama die Tür aufschloss?
Nein, das waren Nachbarn. Es gab sehr viele junge Familien in diesem Block. Polly hatte ihm eine SMS
geschickt: Das kann dauern.
Er hatte genug Zeit nachzudenken.
Vielleicht fand sich in der Mail selbst ein Hinweis darauf, weshalb und wie Jo diese Nachrichten verschickte beziehungsweise ob sie es überhaupt absichtlich und aus freiem Willen tat. Entschlossen tippte er drauflos, sah sich die Hintergründe an, das Routing, den Verlauf. Die Mailadresse war zweifelsfrei die von Jo. Die Zeiten: stimmten auch. Return Path? Ja, ergab Sinn. Die Quelle war Jo Ferguson. Mit geübtem Blick prüfte Simon die weiteren Informationen: received: by mac.com ([
10
.
13
.
11
.
252
]) by ms
031
. mac.com (Sun Java System Messaging Server
6
.
2
–
8
.
04
.
700
) …
Es passte alles. Authentifikation. DomainKeys. MIME
. Alles. Die geballten Daten, die Zahlen und Buchstaben, ergaben Sinn.
Diese Mail war von Jo Ferguson geschickt worden. Alle diese Mails
waren von ihr. Er gab sich wirklich Mühe, zu einem anderen Schluss zu kommen.
Kummer machte sich in Simon breit. Ein langer dunkler Schatten fegte den kläglichen Rest grauen Lichts vom Himmel. Über der City fiel Schnee. Da unten in Sturm und Kälte griff das Verkehrschaos um sich. Nach und nach gingen die Autoscheinwerfer an.
Er wusste nicht weiter. Es gab nichts, dem er nachgehen konnte – abgesehen vielleicht von einem etwas ungewöhnlichen Stil und dem Fehlen von Semikolons. Das war lächerlich, aber vielleicht gelang es ihm doch, da Sherlock-mäßig etwas herauszuholen. Warum nicht; warum nicht einen letzten Versuch wagen?
Er straffte sich, trank einen bitteren Schluck grünen Tee und ging die Kontakte auf seinem Handy durch. Es war Sonntagnachmittag, da hingen bei diesem Wetter sicher alle zu Hause herum. Also erwischte er sie in einem günstigen Moment. Sie hatten Zeit zu reden.
Er wählte die erste Nummer.
Gul Foxton.
Mailbox.
Die zweite – und hier zögerte er – war Jenny Irving. Die Mail, die sie von Jo bekommen hatte, sollte besonders übel sein, das hatte Anna erzählt. Es standen Sachen über Jennys Eltern darin, Behauptungen über ihre Kindheit, ihren Vater, sexuellen Missbrauch. Zeug, das so mies war, dass es Jenny zum Weinen gebracht hatte. Und die kluge, schlagfertige Jenny weinte nie.
Er wählte ihre Nummer mit einen unguten Gefühl und war beschämend erleichtert, als er ihre Stimme vom Band hörte. Sorry. Hab zu tun. Hinterlasst eine Nachricht.
Bei wem konnte er es noch versuchen? Noch einmal ging er seine Kontakte durch, und diesmal alle, von A bis Z. Als er zu T wie Tabitha kam, dachte er darüber nach, dass Tabitha, neben Jos Bruder und ihrer Mutter, zu den wenigen gehörte, die Jo nahestanden und nicht
so eine hässliche Mail bekommen hatten. Tabitha … und Arlo. Allerdings gab es dafür eine Erklärung. Tabitha hatte Jo praktisch bei sich aufgenommen. Jo konnte es sich nicht leisten, sie zu verärgern. Aus demselben Grund war auch Arlo als Tabithas Verlobter und Vater ihres ungeborenen Kindes vor Angriffen sicher.
Jo – oder wer immer über ihren Laptop, ihr Tablet, ihr Telefon, ihr digitales Ich vorgab, sie zu sein – schlug nur auf Leute ein, die ihr für den Moment keinen größeren Schaden zufügen konnten, als den Kontakt zu ihr abzubrechen und sie in allen sozialen Kanälen zu blockieren.
Nach einem letzten Schluck eklig kaltem Tee scrollte Simon vom Z wieder hinauf zum A. Und hielt beim F inne.
Fitz.
Konnte er mit Fitz reden? Fitz und er waren nie gut miteinander klargekommen. Simon hatte immer geargwöhnt, dass Fitz ihn für einen Langweiler hielt, einen Techno-Nerd, den farblosen Ehemann, dessen Antrag Jo dummerweise viel zu jung angenommen hatte. Er war in Fitz’ Gegenwart immer ein wenig gehemmt gewesen, aber nur, weil Fitz auf so einschüchternde Art witzig war: Er konnte extrem lustige Kommentare abgeben und aus dem Nichts bissige Zitate hervorzaubern, sodass man sich selbst lahm vorkam und trotzdem über die Sprüche lachen musste.
Aber was spielte das jetzt für eine Rolle?
Vielleicht wurde Jo verrückt. Jo, seine einzig wahre Liebe. Die, die er immer gewollt hatte, selbst als er sich scheiden ließ, weil er im Grunde wusste, dass sie seine Liebe nie erwidert hatte. Die Demütigung war auf die Dauer zu groß gewesen.
Zögernd, angespannt, den Blick auf den Mond gerichtet, der verschwommen über der gespaltenen Spitze von The Shard hing, wählte er eine Nummer, die er bislang vielleicht dreimal im Leben gewählt hatte, immer auf der Suche nach Jo, die gerade in der Stadt
unterwegs gewesen war. Mit Fitz. In einer Mitsing-Schwulenbar an der Old Compton Street.
»Ja?«
Fitz war am Apparat.
»Hallo, Fitz, hier ist … Si. Simon Todd.«
Schweigen. Ein perfekt platziertes Ich-bin-West-End-Theaterdirektor-Zögern.
»Simon … Todd.«
Simon sah ihn in seinem Haus in Islington vor sich. Hohe, vorhanglose Fenster, Fitz, hingegossen auf ein Fünf-Riesen-Sofa, wie er hinausstarrte in dasselbe endlose Schneetreiben wie er selbst. Im Regal stellte er sich glänzende Preis-Trophäen vor, BAFTAs, Tonys, und was es sonst noch so gab.
»Ahh.« Fitz gähnte wenig überzeugend. »Jos Ex. Simon. Simon Todd
, ja. Wie geht’s dem Baby?«
Simon murmelte: »Der Kleinen geht’s gut«, und staunte darüber, wie Fitz es durch das bloße Wiederholen seines Nachnamens und die Betonung desselben schaffte, leisen Spott zu lancieren. Nicht schlimm, natürlich, aber doch ein unmissverständlicher Hinweis darauf, dass Edward Amwell Fitzpatrick sich gerade dazu herabließ, mit jemandem zu reden, dessen IQ
zehn bis fünfzehn Punkte unter dem seiner gewohnten Gesprächspartner lag.
Nicht zum ersten Mal fragte er sich, warum Jo mit diesem hochnäsigen Wichser befreundet war. Konnte Fitz derjenige sein, der hinter der ganzen Sache steckte? Er war auf so beiläufige, wenn auch amüsante Weise fies. Er spielte mit Menschen. Scheißkerl.
Simon spürte die Versuchung, irgendeine homophobe Grobheit hinzurotzen und aufzulegen, aber er hielt sich zurück.
Er musste das tun. Für Jo.
»Hör zu, Fitz, ich weiß, wir waren nie besonders eng, aber wir machen uns doch beide Gedanken um Jo, oder? Deshalb rufe ich an.«
Diesmal dauerte das Schweigen länger und war unangenehmer. Entweder überlegte Fitz, was er sagen sollte, oder er war unsicher, ob er überhaupt zustimmen sollte. War das ein Zeichen? War Fitz der Täter oder nur ein weiteres Opfer? Simon setzte auf Letzteres.
»Ich nehme an, du weißt, worum es geht. Jo hat diese fiesen Mails, SMS
und Facebook-Nachrichten verschickt, sie sind wirklich extrem verletzend und beleidigend. Sie hat dadurch viele Freunde verloren, so gut wie alle, und ich möchte verstehen, warum sie das macht. Hat sie einen Zusammenbruch, oder was ist los? Ich kapier’s nicht.«
Am anderen Ende der Leitung, eine Meile weit weg, in einer anderen Ecke des eingeschneiten London, herrschte weiter Schweigen.
»Bestimmt kennst du ihre Geschichte«, fuhr Simon fort. »Dass ihr Vater geisteskrank war. Deshalb mache ich mir solche Sorgen. Ich möchte einfach sichergehen, dass wirklich sie diese Nachrichten verschickt hat.«
»Was soll das heißen, dass sie sie verschickt hat? Was meinst du denn, wer sie sonst verschickt? Hitlers ungeliebter Bruder?«
»Also hast du auch eine gekriegt?«
»Ja«, knurrte Fitz. »Ist schon eine Weile her.«
»Und?«
Fitz seufzte. Ganz unironisch. »Niederträchtig, genau wie du sagst. Eine geballte Ladung Dreck, abgeschossen auf elektronischem Weg. Sie hat unverzeihliche Sachen geschrieben – und Jo und ich haben einander im Lauf der Jahre so manches verziehen.«
Verwundert registrierte Simon, dass Fitz – der zynische, weltgewandte, unerschütterliche Fitz – traurig klang. So hatte er ihn noch nie gehört.
»Wenn du es genau wissen willst«, fuhr Fitz fort, »ich habe seitdem kein Wort mit ihr gesprochen. Aus dem einfachen Grund, dass ich nicht weiß, wie ich darauf reagieren soll, ohne unsere Freundschaft für
immer zu beenden. Ich versuche einfach, Zeit ins Land gehen zu lassen. Vielleicht wird es was mit dem Heilen. Ich habe da allerdings Zweifel.«
Ohne zu wissen, warum, hatte Simon das Gefühl, der Lüftung eines Geheimnisses nahe zu sein. Jo hatte also auch Fitz beleidigt. Einen ihrer allerbesten Freunde.
»Hast du die Mail da?«
»Leider.«
»Würdest du mir den Gefallen tun, sie dir noch mal anzuschauen? Ich möchte sicher sein, dass wirklich Jo dahintersteckt. Was schreibt sie, wie drückt sie sich aus?«
Lustlos antwortete Fitz: »Es ist eine Abfolge wohlgewählter, widerwärtiger Bemerkungen über meine Sexualität, meine Promiskuität, meinen Mangel an Moral. Außerdem hat sie diese Mails und Selfies an meinen Freund geschickt und aufgelistet, wie oft ich ihm untreu war. Das heißt, sie hat ihn in cc gesetzt, sehr geschickt. Mit meinem Freund und mir ist es aus.«
Schweigen. Vermutlich las Fitz die Mail gerade noch einmal. Dann meldete er sich wieder.
»Ich fürchte, es ist so, Simon. Es liest sich wie sie, wenn sie in einer bestimmten Verfassung ist – nur wütender. Verstehst du? So, wie sie ist, wenn sie besonders ironisch und bissig ist und kein Blatt vor den Mund nimmt, so vielleicht nach zwei Gin-Martini, aber nicht betrunken. Gib einen großen Schuss Wut hinzu, und dann – ja, das ist sie.«
»Aber …«
»Was, aber? Die Beleidigungen sind zielsicher und geschickt formuliert, so, dass sie da treffen, wo sie am meisten wehtun. Und Jo weiß, wo das ist. Außerdem stehen Sachen drin, über die ich mich jetzt nicht auslassen will, Sachen, die nur sie wissen kann. Sie erwähnt einen Freund von mir, der ermordet worden ist, und das tut sie in
unfassbar gemeiner Weise … geradezu teuflisch.«
Simon stutzte. Ein Mord? Dem wollte er nachgehen. Allerdings war klar, dass Fitz nicht mehr dazu sagen würde.
»Was ist mit Semikolons? Benutzt sie Semikolons? Du weißt, dass sie die inflationär gebraucht; sie hat mal erzählt, dass die Redakteure immer welche rausstreichen. Siehst du in der Mail eins?«
Fitz lachte bitter. »Behauptest du ernsthaft, dass die Mails nicht von Jo stammen, weil die Interpunktion untypisch ist?«
Nach kurzem Zögern bejahte Simon.
»Nun, ich fürchte, es gibt ein paar Semikolons«, gab Fitz zurück. »Doch. Damit ist deine brillante Interpunktionshypothese den Bach runter.«
Sie verfielen beide in Schweigen. Als Fitz schließlich anfing, das Ende das Gesprächs einzuläuten, fiel Simon ihm ins Wort.
»Warte kurz … bitte.«
Alles deutete auf einen Zusammenbruch hin, deshalb wollte er wissen, wann die Mail an Fitz geschrieben worden war. Vielleicht ließ sich daraus ableiten, wie lange sich dieser Zustand in Jo schon anbahnte. Besser als nichts.
»Eine Frage noch, Fitz, bitte, dann lasse ich dich in Ruhe.«
»Wenn’s sein muss.«
»Du meintest, es ist schon eine Weile her, dass Jo die Mail geschrieben hat. Kannst du sagen, wie lange genau? Vielleicht lässt sich daran besser ermessen, wie groß ihr Problem ist.«
Fitz brummelte gelangweilt vor sich hin, aber er sah nach. »Weißt du, was? Ich leite sie dir weiter. Du bist der Fachmann.« Kurzes Schweigen. »Okay, fertig. Sieh’s dir selbst an. Sie hat die Mail am Dienstag, dem zwölften, um neunzehn Uhr dreißig geschickt. Abendessenszeit. Vielleicht hat sie auf ihre Vorspeise gewartet und währenddessen mal kurz meine Beziehung zerstört.«
»Okay, danke, Fitz. Vielen Dank. Und es tut mir leid, dass ich dich
genötigt habe, noch mal darin herumzustochern.«
»Es tut dir leid? Mir auch. Und meinem Ex-Freund ebenso. Mach’s gut.«
Die Stille, nachdem sie aufgelegt hatten, währte nur kurz. Aus dem Schnee war echter Hagel geworden, der nur so gegen die Scheiben trommelte.
Simon legte das Telefon weg, starrte hinaus in den eisig schwarzen Winterhimmel und dachte eine Weile nach. Dann prüfte er die Mail an Fitz, prüfte das Routing, checkte alles wie bei der anderen. Wieder bestätigte sich, dass die Mail von Jo geschickt worden war.
Am Dienstag, dem zwölften, um 19:33 Uhr? Zur Abendessenszeit?
Warum irritierte ihn das? Das Datum?
Er nahm das Handy wieder zur Hand und öffnete die Kalender-App. Und diesmal fand sich ein Grund zu stutzen.
Am Dienstag, dem zwölften, um 19:33 Uhr hatte Jo Ferguson tatsächlich beim Abendessen gesessen. Das wusste er, weil sie mit ihm gegessen hatte – das war der Abend, an dem sie sich in der »Vinoteca« getroffen hatten. Um 19:33 Uhr hatte Jo lustlos auf ihr Bavette-Steak hinuntergestarrt. Und vor dem Essen hatten sie beide ihr Handy stumm geschaltet und außer Reichweite umgedreht auf den Tisch gelegt. Wie sie es immer machten.
Weshalb sie die Mail nicht geschickt haben konnte. Nicht einmal zeitversetzt: Im Routing fand sich nicht der kleinste Hinweis auf den Einsatz besonderer E-Mail-Timing-Software. Null. Er verdiente mit diesem Mist sein Geld. Jetzt hatte er einen Beweis. Hier hatte er einen Beweis:
Wenn sie nicht eine bislang unbekannte Gabe entwickelt hatte, ihren Laptop durch Telepathie zu steuern, hatte Jo diese Mail an Fitz nicht verschickt.
Der Hagel am Fenster machte ihn wahnsinnig. Körner groß wie Steine. Hart, als könnte das Glas unter ihnen zerspringen.
Nun boten sich verschiedene Erklärungen an, die geprüft werden
mussten. Vielleicht gab sich jemand als Jo aus und verschickte diese Nachrichten, um sie sozial zu zerstören. Jemand, der ihren Account gehackt hatte. Das warf natürlich die Frage auf: Woher wusste diese Person so viel über Jo? Und ihre Freunde? Fitz, Jenny, Gul?
Wie auch immer die Antwort aussah, er hatte seinen Beweis.
Jo war unschuldig. Sie war nicht verrückt. Vielmehr war sie das Opfer eines sehr ernsten Angriffs.