31
Jo
S o froh ich auch bin, meinen Beweis zu haben, sosehr ich diesen kleinen Triumph auch genieße – als ich die Haustür öffne, fängt der Horror von vorn an.
Aus meiner Wohnung dringen Geräusche. Und je weiter ich nach oben komme, desto lauter werden sie. Und immer noch lauter. Irgendetwas macht in meiner Wohnung einen Höllenlärm. Das ist nicht einfach ein Fake-Baby, das jammert und quengelt, es ist viel schlimmer. Sobald ich die Wohnungstür öffne, erkenne ich einen von HomeHelp kommenden Mix aus lautem Babygeschrei, einer brüllenden Männerstimme und Hoppípolla , und Electra schickt von irgendwo anders her Gedichtzeilen.
Wie lange dauert diese Kakofonie schon? Vom einen Ende der Wohnung schallen Babygeschrei und schwülstig deklamierte Zeilen – Jetzt ist sie erledigt, die Halslappen-Lady , jetzt ist sie erledigt – , aus der Küche dringen Babyrufe und aus meinem Zimmer Verse – In mir hat sie ein junges Mädchen ertränkt  –, gefolgt von weiterem Babygeheul am anderen Ende und Hoppípolla und Hoppípolla rückwärts, dazu heiseres Kreischen und dann unheimliches Babygeheul und noch mehr herausposaunte Verszeilen – In Angst und Schrecken versetzt hat mich dies dunkle Ding .
Ich stehe inmitten des immer noch anschwellenden Crescendos, inmitten grässlicher Schreie und Stimmen und überlauter Musik, und komme zu einem Schluss. Es reicht. Es ist genug.
Mir fällt wieder ein, was Paul gesagt hat. Ich bin nicht verrückt, ich kann hier die Oberhand behalten. Logisch denken. Ich werde das Risiko eingehen. Ich lösche die Home-Assistants, lösche die Apps, ziehe die Stecker und finde einen Weg, neue Geräte zu kaufen, leihe mir das Geld. Wenn ich schnell genug bin, werden sie keine Zeit haben, die Polizei zu verständigen.
Ich weiß ja, dass ich nicht verrückt bin. Wenn ich diesbezüglich noch Zweifel hatte, so sind sie nun ausgeräumt. Autos hat die Lampen beobachtet und die Stimmen gehört, also ist es weder das Xanax noch Schizophrenie, sondern mit diesen Geräten stimmt etwas nicht; es gibt eindeutig jemanden, der mich über die Geräte attackiert, und jedes Gerät kann ersetzt werden. Selbst wenn es mich Geld kostet. Morgen kaufe ich sie, genau die gleichen. Tabitha wird voraussichtlich tagelang nicht hier aufkreuzen. Das ist meine Chance. Sie wird es nie erfahren. Sie ist mit Arlo unterwegs, und wenn Arlo etwas mitbekommt – ach, zum Henker mit ihm.
Als Erstes greife ich mir das iPad und lösche die Electra-App. Einfach so. Schnell, schnell, schnell. Geschafft. Dann sind die HomeHelp-App und alle anderen dran. Nach und nach ersterben die Geräusche. Noch bin ich nicht fertig. Mit fliegenden Fingern angele ich mir mein Handy, um auch hier die Apps zu löschen. Wenn das erledigt ist, habe ich es wirklich geschafft. Dann kann ich die Geräte wegwerfen, so, wie ich die Apps wegwerfe, und das bedeutet, sie haben keinen Zugriff mehr auf mein Leben; meine Online-Präsenz, alles wird von ihnen abgeschnitten. Ende. Für immer. Ich war schneller, ich habe sie geschlagen.
Da kommt eine SMS auf mein Handy. Von Jamie Trewin.
Entsetzt starre ich auf das Display.
Wir haben dir gesagt, wir verständigen die Polizei. Du weißt nicht, wie schlimm es ist. Du weißt nicht, wie schlimm es werden kann, Jo. Es kann noch viel schlimmer werden.
Hastig lösche ich auch diese Nachricht, aber noch während ich das tue, erwacht der Fernsehschirm zum Leben.
Ich gehe näher heran. Es läuft ein weiteres Homevideo. Meine Kehle wird eng.
Die Szene kenne ich. Den kleinen Film. Es ist das Schwarz-Weiß-Video von Simon und mir vor ein paar Jahren, wie wir in North Finchley beim Essen sitzen und reden. Da habe ich meine Beichte abgelegt.
Diesmal geht der Film allerdings weiter. Er endet nicht damit, dass ich über Jamie Trewin und die Pillen rede. Ich erzähle Simon noch viel mehr, gebe alles Mögliche zu, während er nickt und wiederholt zusammenzuckt und mich die ganze Zeit ansieht.
»Aber das ist noch nicht alles«, sage ich. »Ich habe Purple Man, den, der uns die Pillen gegeben hatte, später noch mal gesehen. Da war ich allein. Er hat mich gewarnt. Nimm die Pillen nicht, hat er gesagt, es ist schon jemandem schlecht geworden davon, ich glaube, sie sind gefährlich, schmeiß sie weg, und ich habe Jaja gesagt, aber dann ist Jamie bei unserem Zelt aufgekreuzt und meinte, er würde die Pillen nehmen, und … ich hab Jamie nicht gewarnt. Warum? Weil ich Angst hatte? Keine Ahnung. War das dann Mord? Kann ich dafür wegen Mordes belangt werden? Si?«
Die Miene meines Ex-Mannes ist undurchdringlich. Oder sehe ich doch eine Mischung aus Ablehnung und Angst?
Der Film ist zu Ende.
Die Assistants sind vollständig verstummt. Sie haben ihre Aufgabe erfüllt und bewiesen, dass sie etwas gegen mich in der Hand haben. Viel mehr, als ich gedacht hatte. Viel Schlimmeres. Es ist eindeutig Fake, aber das kann ich nicht beweisen.
Ich starre Electra an. Mir ist klar, worum es hier geht. Um Leben oder Tod.
Autos hat recht, das mit den Lampen ist wirklich passiert, aber wer immer mir das alles antut – auf schreckliche Weise Rache nimmt, mein Leben zerstört –, derjenige hat Beweise, anhand derer er die Erpressung noch verschärfen kann. Und, schlimmer noch, es ist ihm gelungen, meine Stimme zu fälschen, so, wie er schon Mails von mir gefälscht hat, und er hat den letzten Teil des Gesprächs zwischen Simon und mir, den, in dem von Mord die Rede ist, frei erfunden und mit der gefälschten Stimme einfach hinzugefügt; bezeichnenderweise sieht man kein einziges Mal mein Gesicht, sondern immer nur meinen Hinterkopf.
Das, was sich da wie ein Postskriptum zwischen Simon und mir abspielt, hat so nie stattgefunden. Ich habe Purple Man nicht noch einmal gesehen. Das ist nicht passiert. Und ich habe das nie gesagt. Diese Beichte ist Fake.
Ja, wir haben Jamie die Pillen gegeben – ja, wir waren bei ihm im Zelt, wir haben gesehen, dass er einen Anfall hatte, dass ihm, als er mich küssen wollte, Blut aus dem Mund quoll, aber das Nächste, was wir dann mitbekommen haben, war, dass er in der Nähe des äußeren Zauns lag und Krampfanfälle hatte, bis seine Augen wegdrehten und er starb.
Trotzdem wirkt der künstlich hergestellte Beweis, dieses Video, absolut glaubhaft. Wenn ich jetzt zur Polizei gehen und alles zugeben würde, eine Anklage wegen Totschlags riskieren, aber hoffen würde, um eine wegen Mordes herumzukommen – wer würde mir glauben? Niemand würde mich als verlässliche Zeugin zu meinen eigenen Gunsten betrachten. Sollte dieses Video jemals bei der Polizei landen, würde es als Beweis gelten, der mich schwer belastet. Ich könnte tatsächlich wegen Mordes belangt werden. Nicht nur wegen Totschlags.
Zehn Jahre Gefängnis?
Vom Regal her meldet sich Electra. Ihre blaue Krone schimmert.
»Jetzt verstehst du es. Wir haben versucht, es dir klarzumachen. Wir sind in dir, wir wachsen mit dir, wir sind das Kind, das du nie hattest. Du kannst nicht aus dieser Wohnung ausziehen. Wenn du versuchst, uns loszuwerden, schicken wir das Video an die Polizei. Es ist zu spät, Jo. Also geh lieber schlafen. Mehr kannst du nicht tun. Du gehörst zu uns, wir gehören zu dir. Und bald wirst du dich umbringen.«
Bei allem Entsetzen bin ich irgendwie ruhig. Ich beschließe, mich gehorsam zu zeigen, so, als hätte ich ohnehin keine Wahl. Also nicke ich in Richtung Assistant, ja, ich mache einen Knicks wie eine Dienerin vor ihrer Königin. Dann nehme ich das iPad zur Hand und installiere die Apps sorgfältig neu. Eine Gefangene, die ihre eigenen Ketten enger zieht. Anschließend fordere ich Electra auf, sämtliche Lampen auszumachen und die Heizung einzustellen. Bitte, Electra. Bitte.
»Die Heizung ist bis morgen Vormittag elf Uhr auf einundzwanzig Grad Celsius gestellt. Gute Nacht, Jo.«
»Gute Nacht, Electra.«
Ich krieche ins Bett.
»Okay, HomeHelp, bitte stell den Wecker auf halb neun. Danke.«
Stille. Der kleine Lichterreigen.
»Der Wecker ist auf halb neun gestellt.«
»Danke.«
»Immer wieder gern!«
Ich schließe die Augen. Fest. Versuche, tiefer zu atmen. Stelle mich schlafend. In Wahrheit aber liege ich da und frage mich, wann und wie die Geräte den letzten Schritt machen und mich zwingen, mir das Leben zu nehmen. Oder einen anderen Weg finden, mich umzubringen.
Plötzlich wirbeln HomeHelps kleine Lichter auf, und sie sagt leise:
Und den Dörflern warst du schon immer egal,
Sie tanzen und stampfen dich zu,
Sie wussten, du warst es, du,
Daddy, du Drecksack, jetzt hab ich genug.
Ich drehe mich um und erwidere leise: »Okay, Simon, Tabitha, Arlo, wer auch immer: Es reicht. Ihr habt mich genug gequält.«
Die Lichter tanzen, wie Kinder mit bunten Hütchen, die einander bei den Händen halten und im Schnee Ringelreihen spielen, und HomeHelp sagt: »Gute Nacht, Jo.«