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Jo
E in kleines höfliches Klopfen an der Tür. Tabithas Stimme, leise, beschwichtigend.
»Hey, Jo-Jo, kann ich reinkommen? Etwas sagen?«
Ich sehe mich in dem kleinen Raum um. Blitzend weißes Waschbecken, Duftspender mit Liliennote, frisch lackierte Tür – Tabitha macht immer alles so schön. Das habe ich gar nicht verdient. Ich Verrückte. Warum hat sie mich überhaupt aufgenommen?
»Warte, ich komme raus.«
Ich öffne die Tür und trete in den Flur.
Tabitha mustert mich verlegen. Ich muss schlimm aussehen, mit Panda-Augen und völlig verquollen. Ohne ein Wort zu sagen, nimmt sie mich in den Arm. Ich rieche ihr teures Shampoo, das sie neuerdings bei Arlo stehen hat. Wie sie überhaupt ihre Sachen nach und nach zu ihm bringt.
Ich schaue über ihre Schulter. An der Wand hängt ein gerahmtes Foto von Arlo und ihr: lachend zusammen auf einem Pferd, irgendwo an einem Strand.
Endlich werde ich aus der schwesterlichen Umarmung entlassen. Sie lächelt mir aufmunternd zu, so gut sie kann.
»Tut mir leid, wenn das zu grob war. Aber was du da über Jamie – wie hieß er noch? –, Jamie Trewin gesagt hast, den armen Kerl, dass wir damit etwas zu tun gehabt hätten«, ein ratloses Achselzucken, »das war einfach so … verrückt. So unwirklich, das hat mich etwas aus der Fassung gebracht, verstehst du?«
Ich schaue mich um und denke an Electra im Wohnzimmer. Alles, was jetzt gesagt wird, können die Assistants hören. Wie passt diese Wendung – dass ich alles nur erfunden habe – dazu, dass sie mir drohen, mich erpressen? Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Ein leichter Schwindel packt mich.
»Aber …«, Tabitha hält mir ihr Handy hin, als sei es ein Beweisstück. »Ich weiß, das ist ganz schlechtes Timing, aber die Klinik hat angerufen. Wenn ich nicht sofort hinkomme, geht mir der Termin flöten.« Ein tiefer Seufzer. »Das tut mir echt leid. Und gleich danach müssen Arlo und ich mit den Os zu einem Essen und irgendeinem komischen Ausflug aufs Land, Jagd oder so was Blödes …« Ihr Lächeln wirkt echt. »Aber wir reden, auf jeden Fall. Unbedingt. Müssen wir, werden wir. Und bitte, bitte, versprich mir, dass du zu einem Arzt gehst, ja? So schnell wie möglich.«
»Ja«, murmele ich.
Sie hakt nach, will sich vergewissern. Ich kann es ihr nicht verdenken.
»Ich meine es ernst, Jo. Du kannst nicht komplett erfundenes Zeug über den Tod von irgendwelchen Leuten erzählen.« Einen Moment lang scheint sie zu überlegen, ob das, was sie noch sagen will, zu hart ist. »Du kannst nicht so was erzählen und weitermachen, als wär alles normal. Oder? Wie auch immer, bitte pass auf dich auf. Wir sehen uns. Bald. Du kannst jederzeit anrufen oder schreiben!«
Das ist nett, es ist freundlich, unter den gegebenen Umständen ist es sogar großzügig, denn sie möchte nicht in meiner Nähe sein. Flüchtig frage ich mich, ob das mit der Klinik geflunkert war, ein Trick, um hier wegzukommen. Und wenn – ich wüsste nicht, warum ich ihr das übel nehmen sollte. Warum sollte sie keine Ausreden erfinden, um mir aus dem Weg zu gehen? Der ungepflegten Frau, die ihren Freunden Hassmails schickt und an Sachen glaubt, die so nie passiert sind.
Ich winke Tabitha, und die Tür geht hinter ihr zu. Meine Freundin hat sich in die Kälte und ihr reicheres, besseres Leben verabschiedet, ich bleibe allein in der warmen Wohnung, allein mit meinem Wahn. Und den Home-Assistants.
Als ich ins Wohnzimmer komme, ist das Smart-Display an. Es zeigt das Foto von meinem Daddy mit mir auf dem Arm, das mir an dem Abend in der »Vinoteca« auch aufs Handy geschickt worden ist.
Ich bin so benommen, dass das Foto mich kein bisschen schockt. Im Gegenteil, es rüttelt mich wach, bringt mich zum Nachdenken. Mir fällt ein, was Simon an dem Abend über die Assistants gesagt hat.
Sie werden zu Freunden für die, die keine Freunde haben, für die Kinderlosen werden sie Kinder.
Was bedeutet: Sie sind für Leute wie mich gemacht.