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Jo
I n der Wohnung bleibt alles, wie es war, während mein Leben sich von Minute zu Minute verändert, zerfällt, sich auflöst. Eine Explosion in Zeitlupe, wunderschöne Feuerbälle in Orange und Schwarz, flammende Geschosse, die dahinschweben und herabsinken. Von draußen gesehen muss die Zerlegung meines Lebens ein Riesenspektakel sein, umso mehr, wenn klar ist, dass sich inmitten von alldem ein Mensch befindet.
Der bei lebendigem Leib brennt.
Da.
Das Buch. Es liegt unverändert im Flur und verrät, welche Pillen für einen sanften Suizid am besten geeignet sind. Nein. Na los … Nein. Ich hebe das verhasste blaue Ding auf, stapfe in die Küche, klappe den Mülleimerdeckel hoch, sodass ein erschrocken aufgerissenes Stahlmaul klafft, und stoße das Buch in die Abfälle. Schließe den Deckel. Und öffne ihn wieder. Schließe ihn ein zweites Mal. Klappe ihn wieder hoch und starre hinein.
Das ramponierte Buch ist noch da, ist noch lesbar, bietet noch immer freundliche und weise Ratschläge dazu, wie man seinem Leben unter möglichst wenig Schmerzen ein Ende setzen kann.
»Lies es«, sagt Electra vom Wohnzimmer her. »Lies es, Jo. Nimm den guten Rat an.«
»Sei still.«
Sie verfällt in Schweigen. Ich sehe das beleidigte gelbe Lichtkreiseln förmlich vor mir.
Trotzdem lange ich in den Müll, ziehe das verdammte Buch heraus und greife mir ein Feuerzeug vom Küchenregal. Dann gehe ich zur Spüle und fange an, es zu verbrennen, indem ich Seiten herausreiße und anzünde, bündelweise Seiten, die brennen, brennen, brennen. Es dauert minutenlang, ich keuche wütend, aber schließlich sind sämtliche Seiten verkohlt und durchnässt, und das Wasser aus dem Hahn spült den gesamten grauen Matsch in den Ausguss.
Nun ist es unlesbar. Ein Klumpen aus nassem, verkohltem Papier, Heftfäden und Leim. Zufrieden mit diesem kläglichen Sieg, werfe ich die Überreste in den Müll und sehe die Miniatur-Electra auf der Mikrowelle an.
Zum Henker mit ihnen. Zum Henker mit ihm. Oder ihr. Wer auch immer es ist. Vielleicht habe ich in Bezug auf Jamie ein paar wahnhafte Vorstellungen, aber dass ich diese Suizid-Grundausstattung nicht bestellt habe, weiß ich genau. Das Messer, das Bleichmittel – das war nicht ich. Das waren sie. Sie. Es gibt jemanden, der all das tut. Wilder Hass flammt in mir auf. Gut. Das muss ich nutzen. Muss die Wut für mich einspannen.
Ich gehe in mein Priesterloch – die Luftblase, den Fluchtraum, das kleine Bad –, hole mein Handy hervor und befinde, dass mir nichts anderes übrig bleibt. Alle Freunde, die ich je vor den Kopf gestoßen habe – ich brauche ihre Hilfe. Um herauszufinden, wer von ihnen versucht, mich zu vernichten. Wer sonst wüsste diese Details? Irgendwer muss es sein.
Ich rufe Fitz an. Sein Büro. Er ist bei der Arbeit. Ich ahne, wie die Antwort seiner Assistentin ausfallen wird. Sie sagt sehr förmlich Guten Tag und erklärt, sie wolle nachsehen, ob er da sei.
»Es tut mir leid, er ist in einem Meeting. Soll er Sie zurückrufen?«
»Ja, bitte.«
Mir ist klar, dass er nicht zurückrufen wird. Neuerdings hasst er mich. Ich habe seine Beziehung kaputt gemacht. Auch wenn ich das gar nicht war. Sondern jemand anders.
Anna. Ich muss es bei Anna versuchen.
Bei ihr geht sofort die Mailbox an. Ich fürchte, sie hat mich geblockt. Alle blocken mich. Zeit, dass ich mich selbst blocke.
Nein.
Ich scrolle zum J und lande bei Jennys Nummer.
Blitze erwartungsgemäß ab: »Hallo, tut mir leid, sie ist geschäftlich in Kalifornien, vielleicht schicken Sie ihr eine Mail oder einen Tweet?«
Das werde ich nicht tun. Es wäre sinnlos. Jenny hasst mich wirklich. Kindesmissbrauch.
Aber woher habe ich das gewusst? Ich habe es nicht gewusst. Auch das beweist, dass ich klar im Kopf bin. Trotz allem. Klar im Kopf, aber gefangen.
Wer noch? Simon. Pfeif drauf, dass er meine SMS und Anrufe blockiert; ich versuche es trotzdem. Und ich will wissen, ob dieses Gespräch zwischen uns – meine Jamie-Trewin-Beichte – wirklich stattgefunden hat. Das würde zeigen, wie lange ich schon unter dieser drogeninduzierten Wahnvorstellung leide, diesem Drogendesaster. Wenn es eine Wahnvorstellung ist.
Das Rufzeichen ertönt. Ich rechne damit, nur die Mailbox zu erreichen. Aber nein. Jemand nimmt das Gespräch an.
»Hallo, Simon?«
Schweigen. Er ist drangegangen, sagt aber nichts.
»Simon, bist du das? Ich … wir müssen reden, Simon.«
»Hier ist Polly.«
Oh, Scheiße. Wieso ist Polly an seinem Telefon? Hat er es zu Hause gelassen? Verstehe ich nicht.
»Ja, äh«, stottere ich, während das Wasser aus dem Hahn direkt in den Abfluss rinnt, um meine Stimme zu ertränken, um mich vor den Assistants zu schützen. Mein Lebensraum ist auf das kleine Bad zusammengeschrumpft. Ich fürchte mich vor Einrichtungsgegenständen.
»Ruf diese Nummer nie wieder an, Jo Ferguson. Ich habe das Video, das du mir geschickt hast, gesehen, von dir und ihm, wie ihr es tut. Gut hingekriegt, sehr freundlich. Wirklich lieb. So was von lieb.«
Ich habe Polly ein Video geschickt? Nein, habe ich nicht! Das war jemand anders. Ist Simon damit endgültig raus? Das würde er niemals tun, oder? Also ist er es nicht. Aber wer dann? Tabitha? Jenny? Gul?
Polly?
»Ich habe überhaupt nichts geschickt, Polly. Irgendwer hat meine Rechner gehackt und lauter schreckliche Sachen verschickt. Das tut mir furchtbar leid, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, wenn du nur …«
Sie fällt mir ins Wort. Ihre Stimme bebt vor Zorn.
»Unsere iPhones sind jetzt miteinander verbunden. Ich kriege seine Anrufe, ich sehe seine Nachrichten, alles ist transparent, ich kann seine sämtlichen Mails lesen. Ich weiß, dass du schon seit einer Weile versuchst, ihn zu erreichen, und ich habe diese Mails und SMS geblockt, er hat sie gar nicht gesehen. Du kommst nicht zu ihm durch, und das wird auch so bleiben, denn ich sehe alles. Sollte er je Kontakt zu dir aufnehmen, werde ich es wissen, und er wird es auch nicht versuchen, denn er will sein Kind und mich nicht verlieren, und sobald ihr beide irgendeine Art von Kontakt habt, bin ich weg. Du bist schamlos. Schamlos und grausam. Wir haben ein kleines Kind, mein Gott …« Ihre Stimme bricht, und mir bricht das Herz; ich weiß, dass sie ein Baby hat, und ich würde dieser Familie, dieser Kleinen, nie im Leben wehtun wollen.
»Bitte, Polly, versteh doch, das bin nicht ich. Ich würde niemals … nein, ICH WAR DAS NICHT
»Schluss jetzt. Wir wollen nie wieder von dir hören. Leb wohl.«