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Jo
I ch stehe im Wohnzimmer, ignoriere die Paracetamol-Schachteln und schaue hinaus auf die Delancey. Von Autos keine Spur. Ich frage mich, ob er in seiner Unterkunft drüben an der Arlington Road auf einer Pritsche liegt und vor sich hin murmelt, bis er eines Tages für immer verstummt, ohne dass jemand ihn geliebt hätte oder vermisst.
Und ich?
Wahrscheinlich bin ich der einzige Mensch, mit dem er je tatsächlich redet. Und ich weiß genau, was er gesagt hat:
In deiner Wohnung sind Geister. Du solltest keine Angst vor ihnen haben. Vor den Geistern!
Es gibt keine Geister. Das ist idiotisch. Also sollte ich aufhören, mich idiotisch zu benehmen. Ich weiß, dass hinter alldem jemand Lebendiges und Böses und sehr Reales steckt und dass dieser Jemand jedes nur erdenkliche Mittel nutzt, einschließlich meiner Assistants, und über sie meinen Rechner und mein Handy. Jedes Mal, wenn ich dieses Telefon benutze, gebe ich Informationen preis, aber wegwerfen kann ich es nicht, das weiß ich. Die Assistants würden es merken.
Mein Handy.
Darauf hätte ich viel früher kommen müssen. Es gibt eine andere Möglichkeit. Ich hatte immer zu große Angst, die Rechner von anderen Leuten zu benutzen, aus Sorge, dass meine Suchverläufe nachvollzogen werden könnten. Wahrscheinlich wussten die Assistants, dass ich im Internetcafé war, weil mein Handy ihnen meinen Standort verraten hat. Oder sie haben Zugang zu Material aus Überwachungskameras. Wie auch immer, ich weiß nicht, wie weit sie mich verfolgen können. Aber es gibt eine Möglichkeit, von ihrem Radar zu verschwinden, und sie werden nichts davon mitbekommen.
Ja. Endlich.
Ich drehe mich zu Electra um.
»Hallo, Electra!«
»Hallo, Jo.« Der blaue Ring leuchtet auf.
»Ich muss ein paar Lebensmittel einkaufen. Es ist so kalt, ich leihe mir einen von Tabithas Schals, sie wird nichts dagegen haben.«
Electra schweigt.
Rasch durchquere ich den Flur und öffne die knarrende Tür zu Tabithas elegantem, duftendem Zimmer. Hier ist alles so ordentlich, so schick und unberührt. Der Schilfhalm in dem schlanken Gefäß verströmt den Duft eines sehr teuren Spas in der Schweiz. Im Regal stehen moderne Keramiken aus Kalifornien und altes Silber aus Java. Und das Smart-Display, dessen perlenförmiges Auge auf mich abgerichtet ist.
Das Gerät kann mich hören und sehen, aber ich glaube, ich schaffe das, was ich will, außerhalb des Radius.
Unter lautem Rascheln und Knistern wühle ich in den Mänteln und Schals, die an der einen Wand hängen. Dazu summe und murmele ich unentwegt vor mich hin. Dann beuge ich mich, immer noch »Nehme ich diesen oder den da?« vor mich hin flüsternd, über Tabithas kleinen Nachtschrank, wo sie in einem Fach weiter unten noch mehr Tücher und Schmuck und andere Sachen liegen hat. Unter diesem Fach liegt das, worauf ich aus bin, aber der rechteckige schwarze Bildschirm, der mich von seiner Ecke aus die ganze Zeit observiert, darf nichts davon mitbekommen.
Leise und geschmeidig lässt die Schublade unter dem Fach sich öffnen. Da liegt er, mein Hauptgewinn. Hier bewahrt Tabitha eine Brieftasche voller Euroscheine auf, die von ihren Reisen übrig sind. Die nehme ich. Zweihundert sind es vielleicht, ich nehme alles. Dann schließe ich – langsam, lagsam, langsam – die Schublade wieder. Sie fängt an zu quietschen.
Ich erstarre, warte. Um das Geräusch zu übertönen, sage ich schließlich laut: »Ach, ich nehme den hier.«
Genau genommen brülle ich es über den Flur.
»Electra, ich habe den Schal!«
Das Quietschen wird von meiner Stimme verdeckt, schon ist die Schublade zu, und ich schnappe mir einen Schal, stürze nach draußen und nehme mein Telefon mit, damit SIE oder ER keinen Verdacht schöpft.
»Tschüss, Electra!«
Schnell, schnell, schnell. Den vereisten Parkway runter. In den U-Bahn-Eingang. Dort schalte ich auf meinem Handy den Flugmodus ein und hoffe, SIE oder ER nimmt an, dass ich in der Bahn bin und keinen Empfang habe, aber so ist es nicht. Stattdessen kehre ich um und laufe zur nächsten Bank, wechsle die Euroscheine in Pfundnoten, überquere die Straße und betrete einen der vielen kleinen Handy-Läden an der Camden High Street. Es dauert eine Weile, bis ich den Verkäufer so weit habe, dass er mir heraussucht, was ich brauche: ein altes Android-Handy, secondhand, refurbed, billig.
Absolut anonym.
Ich zahle für meinen Schatz, mein kostbares neues Mülltelefon, und kaufe mir eine Prepaid-SIM -Karte von einem Anbieter, den ich vorher noch nie genutzt habe. Ich bin nicht besiegt. Ich wehre mich. Ich wehre mich wirklich. Klar, das hätte ich schon vor Wochen tun sollen: ein zweites Telefon kaufen und geheim halten.
Egal, jetzt tue ich es.
Als ich aus dem Laden trete, fällt mein Blick auf die gegenüberliegende Seite der Kreuzung. Auf jenes berühmte Pub. »The World’s End«, »Mother Damnable«. Das Gasthaus, das einer Hexe gehört hat und in das der Teufel eingekehrt ist. Das erste Gebäude in Camden.
Ein Pub.
Mir kommt eine Idee. Ein Hoffnungsschimmer. Liam hat in einem Pub gearbeitet. Über Liam muss ich mehr herausfinden. Wie passt er in das Ganze? Warum zitiert er Plath – genau wie die Assistants? Da gibt es eine Verbindung, die ich sehe, aber nicht entschlüsseln kann. Und mir ist noch etwas eingefallen, das Liam Goodchild mir erzählt hat, damals, bevor er aus dem Internet verschwunden ist. Ich weiß, wie das Pub hieß, in dem er gearbeitet hat: »Lamb and Flag« in Hampstead. Er hat erzählt – geschrieben –, dass er mehrere Jahre dort war, dass es ihm gefallen hat, das Urige, das historische Flair von Hampstead Village.
Das wird der erste Anruf, den ich mit meinem neuen hässlichen Telefon mache. Die Nummer finde ich auf Google. Es ist elf Uhr vormittags. Die Kneipe dürfte geöffnet haben, aber nicht voll sein. Sehr gut.
»Hallo, ist da das ›Lamb and Flag‹?«
Die Stimme einer Frau. Älter. Herrisch. Ich frage, ob sie die Chefin ist.
»Ja, bin ich – und Sie sind …?«
Jetzt muss ich aufpassen – und schnell sein.
»Mein Name ist Felicity, und ich, also es ist etwas kompliziert, ich bin auf der Suche nach einem alten Freund, wir haben uns aus den Augen verloren, aber ich weiß, dass er in einem Londoner Pub arbeitet, das ›Lamb and Flag‹ heißt …«
Sie fährt dazwischen. »Es gibt haufenweise Pubs mit diesem Namen. Wie heißt denn Ihr Freund?«
»Liam Goodchild. Groß. Ein Ire. Gutaussehend, dunkelhaarig. Er hat gesagt, er ist Barmann im ›Lamb and Flag‹ …«
»Nö.«
»Wie?«
»Der arbeitet hier nicht, hat nie hier gearbeitet. Kein Mann, auf den die Beschreibung passt, niemand dieses Namens. Und ich muss es wissen.«
Liam Goodchild, der vorher wie aus dem Nichts aufgetaucht schien, war eine Fiktion. Ich versuche es noch mal.
»Sind Sie ganz sicher?«
Die Frau lacht, kurz und nicht gerade freundlich. Sie will zurück an die Arbeit.
»Absolut. Ich führe den Laden jetzt seit fast zehn Jahren. Viel Glück, ich hoffe, Sie finden Ihren Freund. Hier hat er jedenfalls nie gearbeitet. Tschüss.«
Das Gespräch ist zu Ende, der Verkehr rollt unvermindert weiter. Und ebenso dreht sich mein Gedankenkarussell. Ich frage mich, ob es Liam Goodchild überhaupt je gegeben hat.
Mein Gefühl sagt mir, dass er von vorn bis hinten erfunden war. Erfunden zu dem Zweck, mich fertigzumachen?
Das anonyme Telefon fest in der Hand, verziehe ich mich in den nächstbesten Coffeeshop, wo überraschend viele Leute auf Shoppingtour Zuflucht vor der Kälte suchen und über das Wetter reden. Mir dagegen ist warm vor Aufregung. Vor Freude darüber, dass ich mich endlich zur Wehr setze.
Als ein Kaffee vor mir steht, hole ich das Handy wieder hervor. Das Handy, von dem niemand weiß, dass ich es habe. Anonym, nicht zu orten.
Ich muss tiefer in die Vergangenheit eintauchen.
Es dauert einen Augenblick, bis ich die Meldungen gefunden habe. Glastonbury vor fünfzehn Jahren. Da. Die Headlines:
Tragischer Tod auf Festival
Überdosis vermutet
Polizei bittet Zeugen, sich zu melden
Der in Neuseeland ansässige Vater des jungen Mannes, der am Wochenende beim Glastonbury Festival zu Tode gekommen ist, hat seinen Schmerz darüber bekundet, dass sein Sohn so leidvoll sterben musste. Der Student und vielversprechende Rugby-Spieler Jamie Trewin, 20, war am Samstagabend gegen Mitternacht auf dem Festivalgelände zusammengebrochen. Es wird vermutet, dass er Amphetamine konsumiert hatte, die Anfälle verursacht und zum Herzstillstand geführt haben. Colin Trewin hat heute zu Hause in Auckland mit der BBC gesprochen …
Das ist die Macht des Netzes. Es ist alles da, jede Information ist binnen Sekunden verfügbar. Aber was bringt mir diese Information? Sie beweist nur, was wir alle wissen: Jamie Trewin ist gestorben. Sie beweist – oder widerlegt – nicht, dass Tabitha recht hat und ich durch Drogeneinfluss, oder was auch immer, einem Wahn erlegen bin.
Es fängt wieder an zu schneien; Flocken, die mir die Sicht nehmen. Die mich mit makellosem Weiß bedecken, die die ganze Welt zudecken wie ein Tuch einen Leichnam.
Nein.
Ich greife wieder nach dem Telefon, denke nach, grübele. Sie werden nicht gewinnen. Aber wer sind sie? Können es Tabitha und Arlo sein? Inzwischen sind sie die einzigen Freunde, denen ich keine Hassmail geschickt habe. Arlo hat die Assistants gekauft. Und Arlo mag mich nicht. Also hat er ein Motiv, wenn auch ein schwaches. Aber er ist, oder war, ein ziemlich hohes Tier bei Facebook, jedenfalls war er so mächtig, dass er jemanden hätte erfinden und dann im Netz verschwinden lassen können.
Nach einem Schluck Kaffee googele ich »Arlo Scudamore«. Eine Wikipedia-Seite hat er nicht, was mich überrascht. Ich hätte gedacht, er hätte Diener, die seine Seite täglich pflegen und mit schmeichelhaften Fotos aktualisieren. Trotzdem taucht er in vielen Zusammenhängen auf: Meldungen über die Techbranche, die Geschäftswelt, den Aktienmarkt. Der jüngste Artikel kreist um sein neues Unternehmen, das »verdammte Unicorn«, wie Tabitha es nennt. Irgendein Analyst, der sich mit Londons vielversprechenden Start-ups beschäftigt, sieht es auf Platz vier einer Rangliste.
Thinkr .
Ich lese weiter.
Obwohl es nächstes Jahr an den Start gehen soll, wird um Thinkr noch ein großes Geheimnis gemacht; dennoch geht man davon aus, dass es sich in der Welt von Finanztechnologie, KI und Social Media schnell ganz vorn positionieren wird. Gründer Arlo Scudamore hat bereits eine steile Karriere bei Facebook hingelegt. Dort wird er noch dieses Jahr seinen Hut nehmen, um sich ganz auf Thinkr konzentrieren zu können.
Also wird er es zu noch mehr Geld bringen. Wichser.
Als KI -Experte müsste er sich mit genau der Technologie auskennen, mit deren Hilfe sich etwas wie Liam Goodchild erschaffen ließe.
Alles Spekulation. Aber es scheint zu passen.
Was kann ich noch versuchen?
Ich wappne mich und gebe »Jo Ferguson« und »Jamie Trewin« ins Google-Suche-Fenster ein. Nichts. Ich bin mir nicht sicher, ob ich erleichtert sein soll oder nicht. Als Nächstes gebe ich »Tabitha Ashbury« und »Jamie Trewin« ein, und es gibt einen Treffer. Da geht es ums King’s College, eine Studentenaktion, eine Theateraufführung, an der sie, Monate vor seinem Tod, beide mitgewirkt haben. Das ist schon alles. Unwichtig.
Hier drin riecht es nach feuchten Klamotten, nach Leuten, die auf ihrer Shoppingtour nass geworden sind, und nach zu stark geröstetem Kaffee. Ich will raus, ich will frei sein.
Los, Jo. Streng dich an. Denk nach. Thinkr .
Ich habe ein Handy, das geheim ist. Das heißt, ich kann anonym alles Mögliche googeln. Buchstäblich alles. Nur auf Verdacht versuche ich es mit »Arlo Scudamore« und »Jamie Trewin«.
Ich meine, wer weiß?
Überrascht sehe ich, was auf dem Display erscheint. Etwas Neues. Ganz oben in der Liste. Es ist der einzige Treffer, bei dem die Namen Trewin und Scudamore zusammen auftauchen, eine obskure Meldung aus der Somerset County Gazette . Erschienen ein paar Jahre nach dem fraglichen Festival.
Zu der Zeit waren Tabs und ich in Indien unterwegs. Selbst wenn ich je in der Stimmung gewesen wäre, die Somerset County Gazette zu lesen, was ich nie war, hätte ich von diesem Artikel also nichts mitbekommen. Aber jetzt, Jahre später, bin ich von der Titelzeile über den drei Absätzen elektrisiert.
Verdächtiger im Fall des Festival-Toten auf freiem Fuß
Mit weit aufgerissenen Augen überfliege ich den Text. Offenbar hatten die Polizisten etliche Monate nach Jamies Tod einen vagen Verdacht, oder sie hatten doch noch einen Fingerzeig bekommen.
Den wichtigsten Absatz lese ich bestimmt sechs- oder siebenmal.
Der Mann, der vergangene Woche in Verbindung mit dem Fall des an einer Überdosis gestorbenen Festivalbesuchers festgenommen worden war, ist wieder frei. Gegen Xander Scudamore, 33, Radio-Produzent, werde nicht weiter ermittelt, sagte ein Polizeisprecher und dankte dem Befragten für seine Unterstützung. Zugleich betonte der Sprecher, die Ermittlungen würden fortgesetzt, obwohl sich in den zwei Jahren, die seit dem Tod des 20-jährigen Neuseeländers Jamie Trewin während des Glastonbury Festivals vergangen seien, keine neue Spuren ergeben hätten.
Vor allem wird mir beim Anblick des Fotos von diesem Xander Scudamore schwindlig. Das ist Purple Man, natürlich ohne lila Schminke. Ein schmaler, gutaussehender Mann um die dreißig, in Anzug und Krawatte, ohne die Spur eines Lächelns. Die Ähnlichkeit mit Arlo ist nicht zu übersehen. Ein Cousin? Vielleicht sogar ein Bruder? Nein, so eng wohl nicht. Aber auf jeden Fall verwandt. Allein der Name – und die Wangenknochen.
Damals hat Tabitha gesagt, der lila angemalte Typ sei ein entfernter Bekannter. Ein Freund der Familie. Sein Vater und ihr Vater kannten einander. Und ich weiß, dass Tabitha und Arlo einander bei einer großen, noblen Weihnachtsfeier kennengelernt haben, die ihr Vater geschmissen hat.
Freunde der Familie, Cousins, Liebhaber. Sie sind alle miteinander verbunden. Und hier ist mein Beweis. Ich leide nicht an einer Wahnvorstellung oder falschen Erinnerung. Es ist so gewesen in Glasto, genau so, wie ich immer dachte. Und deshalb hat Tabitha mir, was Jamie, das Zelt, die Küsse und das Blut angeht, eine Lüge aufgetischt. Arlo und sie sind sehr wohl in den Tod von Jamie verstrickt, mehr als ich, denn Arlos Bruder oder Cousin hängt genauso drin.
Hätte ich das doch nur früher gewusst! Aber die Umstände waren nicht so.
Vielleicht hätte ich, wenn Tabitha und ich nicht diesen Schwur abgelegt hätten, viel früher nachgefragt, wer dieser Purple Man war, und wäre schon vor Jahren dahintergekommen. Vielleicht hätte ich, wenn Xander Scudamore keine lila Gesichtsbemalung mit gelben Flammen um die Augen getragen hätte, selbst Jahre später noch die Ähnlichkeit zwischen ihm und Arlo gesehen und den Zusammenhang erkannt. Aber er hatte nun mal in Glasto die Farbe im Gesicht, also habe ich nichts erkannt.
Wie auch immer, das ist Geschichte. Ich verfüge jetzt über einen sicheren Beweis – nur weiß ich nicht, wie ich ihn einsetzen soll. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass Tabitha lügt. Auf übelste Art und Weise. Sie ist Teil dieses Spiels. Und trotzdem ist sie meine Freundin. Ich weiß, dass ich ihr viel bedeute. Das kann sie nicht fünfzehn Jahre lang vorgetäuscht haben. Warum also?
Mein Zorn findet ein Ziel.
Arlo. Und Tabitha.