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Jo
W
ie geht’s dir, Mama? Ganz ehrlich.«
Ich lege meiner Mutter den Arm um die schmalen Schultern, die mir noch schmaler vorkommen als sonst. Sie ist blass, nervös; als sie Kaffee einschenkt, zittern ihre Hände.
»Ach, mach dir um mich keine Sorgen, Liebes. Das ist das Wetter, weißt du. Ich bin gern an der frischen Luft, aber es ist einfach zu kalt, um rauszugehen.«
»Sicher? Du bist so blass. Ist mit dem Schrittmacher alles in Ordnung?«
Sie lacht leise und senkt den Blick auf die Strickjacke, die sie über zwei übereinandergezogenen Pullovern trägt. Sie mag Lagen, meine Mum. In puncto Lagen könnte sie eine Goldmedaille gewinnen.
»Der Schrittmacher? Ha. Der ist noch das Beste an mir! Das Einzige, was richtig funktioniert. Atomkraft, mein Schatz. Ich habe Atomkraft.«
Jetzt beugt sie sich hinab, um Cindy hinter dem Ohr zu kraulen. Der alte Hund schaut genauso melancholisch drein wie sie. Für ausgedehnte Spaziergänge ist es zu kalt. Dieser eisige Winter hält alle in Schach.
Während sie noch einen Schuss Milch in den Kaffee gibt, lehne ich mich zurück und beobachte Mum. Zweifle. Sie redet nur zu gern über ihre Gänge ins Krankenhaus, aber wenn es etwas Ernstes gibt, verschweigt sie das; man muss zigmal nachfragen, bis sie endlich zugibt, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. Für diese
Gelassenheit habe ich sie lange bewundert; ich hoffe, ich habe wenigstens ein bisschen davon geerbt, aber dieses Phlegma, dieser Mangel an Sorge um sich selbst, kann auch gefährlich sein. Und dann ist da noch das andere Thema, das unbedingt angesprochen werden muss. Nachdem ich die Anspannung mit dem Kaffee hinuntergeschluckt habe, formuliere ich eine möglichst behutsame Frage.
»Hast du mit Will gesprochen, Mama?«
Ich mache mich auf alles Mögliche gefasst, doch sie zuckt nicht zusammen, sie blinzelt nicht, sie zögert noch nicht einmal. Stattdessen seufzt sie, lächelt traurig und schüttelt den Kopf.
»Natürlich nicht. Du weißt doch, dass er nur einmal im Monat anruft. Ich nehm’s ihm nicht übel, ich weiß ja, dass er viel zu tun hat – seine Arbeit, der Kleine und diese Frau! Wenn er zehn Minuten im Jahr für mich hat, kann ich froh sein. Ich hoffe, er bringt Caleb bald mal wieder rüber. Wie letztes Jahr. So ein süßer Junge.«
Was für eine Erleichterung! Also weiß Mum nichts von den Anschuldigungen und falschen Behauptungen, die ich nach Kalifornien geschickt haben soll. Vielleicht hat Will aus denselben Gründen den Mund gehalten, die mich daran hindern, von meinen wachsenden Schwierigkeiten zu erzählen: Als der Schrittmacher eingesetzt wurde, haben die Ärzte uns ausdrücklich gewarnt. Vielleicht hat sie noch fünf Jahre, vielleicht zehn.
Wir können es nicht sagen. Da ist schon sehr viel kaputtgegangen.
Das ist fünf Jahre her.
Wir müssen immer behutsam sein. Streitereien, so wie letztens, als es um Simon und das Thema Kinder ging, vermeiden wir, wenn irgend möglich. Größere Aufregungen kommen nicht infrage, es sei denn, sie wären absolut unvermeidbar.
Heute, hier mit ihr beim Kaffee, macht mir das extrem zu schaffen; gerade heute wünschte ich, sie wüsste alles. Sie ist meine Mutter. Mummy
. Vielleicht die letzte mir verbliebene Freundin, der letzte Mensch auf Erden, der echtes Mitgefühl für mich aufbringen würde. Alle anderen sind, wenn auch auf unterschiedliche Weise, vergrault, und zwar durch mich. Oder eher durch Arlo und Tabitha. Inzwischen bin ich mir sicher, dass sie hinter allem stecken, hinter so gut wie allem. Tabitha hat glattweg gelogen. Sie hat unser Vergehen, das es zweifellos gegeben hat, geleugnet. Und das hat sie getan, weil, wie sich herausgestellt hat, Arlos Cousin in den Tod von Jamie Trewin verwickelt war. Und das kann heißen, dass Arlo mich für immer zum Schweigen bringen möchte.
Irgendwie ergibt das Sinn. Das Problem ist: Ich weiß nicht, wie ich dieses Wissen nutzen, wie ich die beiden damit konfrontieren soll. Arlo ist reich, gut versichert, mächtig. Er wird alles genau geplant haben. Er könnte mir noch viel mehr zusetzen oder meinen Angehörigen Schaden zufügen. Und seinetwegen – weil er so mächtig ist – habe ich auch Angst, zur Polizei zu gehen. Deshalb bleibe ich tief, sehr tief in meinen Problemen stecken.
»Wie ist der Kaffee?«
»Sehr gut, Mum.«
Sie bedenkt ihre Tochter mit einem liebevollen Blick aus sanften braunen Augen, und ich könnte heulen. Sie ist so lieb; die E-Mails, meine irren Angriffe auf andere, erwähnt sie noch nicht einmal. Dabei weiß sie nicht, dass diese Mails nicht von mir sind, und muss von dem, was sie gehört hat, sehr verstört sein. Trotzdem verliert sie kein Wort darüber.
Das Nächste fällt mir am schwersten, aber ich will es hinter mich bringen.
»Ich hatte Probleme mit meinem Konto, Mama.«
»Probleme?«
»Ja, ich glaube, die Bank ist der Meinung, dass es gehackt worden ist, dass sich jemand da Zugang verschafft hat. Jedenfalls ist es auf
einmal leer geräumt.«
Jetzt blinzelt sie verwirrt. Aber mitfühlend.
Schon wieder kommen mir die Tränen, aber ich zwinkere sie weg. Das ist mir so unangenehm!
»Ja. Also, ich dachte …«
»Möchtest du dir etwas leihen?«
Gott sei Dank, sie spricht es zuerst aus. Sie kennt mich. Sie ist meine Mutter.
»Wie viel brauchst du, Liebes?«
Ich stocke trotzdem. Eigentlich brauche ich Tausende, dreitausend oder mehr, allein schon für die Steuernachzahlung, aber darum würde ich niemals bitten, auch wenn Mama eine solche Summe beiseitegelegt hätte, was ziemlich sicher nicht der Fall ist.
»Na ja, ein paar Hundert? Damit ich erst mal über die Runden komme – bis die Bank die Sache aufgeklärt hat. Sobald das geregelt ist, gebe ich dir das Geld zurück.«
Sie nickt und schweigt. Durchdrungen von jener Mischung aus Liebe und Schuldbewusstsein, die wohl alle im Umgang mit ihren Eltern kennen, beobachte ich, wie sie zum Schrank geht und eine Schublade aufzieht.
Und ich mache große Augen. Die Holzschatulle, die sie hervorholt, ist bis zum Rand mit Scheinen gefüllt. Mum lacht leise über sich selbst.
»Ich weiß, ich weiß, ich bin bestimmt der letzte Dummkopf in Großbritannien, der Geld in einer Kiste aufbewahrt. Aber ich habe nun mal gern eine kleine Reserve – für alle Fälle.«
Es tut mir weh, zuzusehen, wie die Schatulle um die Hälfte geleert wird. Meine Mum lächelt.
»Hier, fünfhundert Pfund, und wenn du mehr brauchst, sag es einfach.«
Bedürftig, verschämt, nehme ich das Geld, bedanke mich mehrmals und überschlage schon, wie lange ich mit fünfhundert auskommen
werde. Drei Wochen? Vier? Egal, es ist vollbracht, und ich kann mich entspannen. Die folgende halbe Stunde reden wir so dahin, finden jenes gut und dieses schön. Wie in alten Zeiten. Als uns allmählich der Gesprächsstoff ausgeht, wandert mein Blick durch den Raum, und erst da sehe ich es. Da steht ein Home-Assistant. Ein schwarzer Zylinder.
Sie hat auch einen?
»Hey«, sage ich. »Der ist aber neu. Wo hast du den denn her?«
Sie dreht sich um.
»Ach, dieser Home-Assistant? Den hat Simon mir mal mitgebracht, ist schon eine ganze Weile her. Ich glaube, er war ein Überbleibsel aus eurer Wohnung.« Sie schüttelt den Kopf. »Er dachte wohl, ich probiere ihn gleich aus und gebrauche ihn eifrig, es heißt ja, so ein Ding wäre eine Art Ersatzfreund, aber ich habe ihn kaum benutzt.« Sie zuckt die Achseln. »Ehrlich gesagt finde ich, dass er nicht viel bringt. Zum Nachrichtenhören ist er gut, und ich kann mir Rezepte ansagen lassen.«
Das gefällt mir nicht. Was soll ich daraus schließen? Am liebsten würde ich Simon sofort anrufen und ihn zu alldem befragen, vor allem zu Tabitha und Arlo, aber das geht nicht, da ist Polly im Weg. Also sitze ich in der Falle, genau wie Cindy durch den Winter ins Haus gesperrt ist. Keine Spaziergänge, keine frische Luft, ein Leben wie im Gefängnis.
Und es fällt immer noch mehr Schnee. Mein Blick geht nach draußen in den verschneiten Garten. Er hat sich nicht verändert. Nie. Rosenbüsche, ein kleiner Teich, eine alte Schubkarre.
Und der kleine Apfelbaum. Immer noch da. Da hat Daddy mich in die Luft geworfen – oder hochgehoben, damit ich Äpfel pflücken konnte. Ach, Daddy.
Plötzlich kann ich dem Drang, sie zu fragen, nicht widerstehen.
»Vermisst du Daddy noch? Ich meine, ich weiß natürlich, dass er dir fehlt, aber denkst du noch viel an ihn, oder hört das irgendwann
auf? Verblasst das?«
Statt zu antworten, wendet sie den Kopf und schaut hinaus zum kahlen Apfelbaum. Und dann sagt sie ganz leise: »Er hat dich immer hochgehoben, stimmt’s? Damit du welche von ganz oben holen konntest. Daran denke ich oft. Du hast immer so gelacht. Ihr alle hattet so viel Spaß, deine Freunde und du.«
»Ja, daran denke ich auch oft.«
Ich beiße mir auf die Lippe. Tränen sind nicht erlaubt.
Auch Mums Augen glitzern. Vor Trauer und vor Erinnerungen.
»Jeden Tag denke ich an ihn, Jo, jeden Tag. Das hört nie auf. Und du? Wie ist es bei dir?«
Ich seufze, und es kommt von Herzen.
»Genauso. Ich denke jeden Tag an ihn. In gewisser Weise wird es sogar schlimmer. Manchmal kommt es mir vor, als würde ich die ganze Zeit vor dem, was dunkel war, weglaufen. Aber es verfolgt mich.«
Sie legt ihre Hand auf meine. Die Berührung treibt mir erneut Tränen in die Augen, doch ich halte mich zurück.
Stattdessen sage ich: »Er war lustig, oder? Mir ist klar, dass ich nicht mehr alles weiß, ich war noch zu klein, als er starb. Aber ich habe ihn lustig in Erinnerung, warmherzig, liebevoll. Das stimmt doch, oder?«
Sie wischt etwas weg, das verdächtig nach einer Träne aussieht.
»Er war ein guter Mann, Liebes, der allerbeste. Der Einzige, den ich je wollte. Klug, humorvoll, gutaussehend, aber nie arrogant oder großspurig. Nie.« Sie greift meine Hand fester. »Selbst als … selbst während der Krankheit hatte er noch ein Gespür für Richtig und Falsch. Am Ende hatte er schreckliche Schuldgefühle. Das hat er mir gesagt.«
Das ist mir neu, es klingt traurig, ich will mehr darüber wissen.
»Inwiefern?«
Mum schüttelt den Kopf und schaut seufzend zu Boden.
»Kurz bevor er sich umgebracht hat, hatte er eine klare Phase, ein paar Tage lang schien er völlig gesund und bei sich. Da hat er hier, in diesem Raum, zu mir gesagt: ›Ich ertrage nicht, was ich euch angetan habe, vor allem den Kindern. Dass sie so unter mir leiden mussten.‹«
»Er hat direkt von Will und mir gesprochen?«
»Das waren seine Worte, es tat ihm leid für euch Kinder, für sein kleines Mädchen, das seine Geisteskrankheit ertragen musste. Ein paar Tage danach hat er sich dann ins Auto gesetzt und Schluss gemacht. Um uns nicht noch mehr wehzutun.« Jetzt blickt sie auf und drückt meine Hand. »In dir habe ich immer viel von ihm gesehen, weißt du, du bist ihm viel ähnlicher als dein Bruder. Und er hat dich sehr geliebt. Will hat er auch geliebt, aber dich hat er vergöttert.«
Ich erwidere den Händedruck. Meine Mutter kann ja nicht wissen, wie sehr diese Worte, so schmeichelhaft sie auch klingen, mich beunruhigen und traurig machen. Es ist ein unentwirrbar verschlungenes Durcheinander von Emotionen. Ich würde gern noch mehr Fragen stellen, zu dem Suizid selbst, zu Daddys Krankheit, zu so vielem, aber ich traue mich nicht. Auch würde ich gern hierbleiben, mich von der Delancey fernhalten, aber das geht nicht, die Assistants würden es mitbekommen, und sie haben die Kontrolle.
Stattdessen sitzen wir beide, Mutter und Tochter, schweigend am Küchentisch und sehen zu, wie neue weiße Flocken auf den Apfelbaum segeln; wir reden nicht, aber das ist auch nicht nötig. Und dann ist es drei, und die Dämmerung setzt ein, und ich sage, dass ich gehen muss, und Mum sagt: »Ich weiß.«
An der Tür nehme ich sie noch einmal fest in den Arm.
»Ich sage das nicht so oft, Mum, aber ich hab dich sehr lieb.«
Meine Mutter lächelt und schüttelt den Kopf.
»Du brauchst es nicht zu sagen, Liebes. Und du weißt, dass ich dich auch lieb habe.«
»Danke noch mal für die Hilfe. Es tut mir leid, dass ich darum bitten musste.«
»Du bist meine Tochter!«, sagt sie entschieden. »Das ist meine Aufgabe. Also, mach’s gut, und komm mich bald wieder besuchen, ja?« Ich nicke und küsse sie ein letztes Mal, hänge meine Tasche über die Schulter und gehe durch den überfrorenen Vorgarten. Beim Tor angelangt, drehe ich mich um und winke.
Wie sie da so steht, umrahmt von der Türöffnung des kleinen Hauses, wirkt sie sehr blass. Ein weiches, ovales Gesicht, weiß wie der Schnee in ihrem Garten. Plötzlich kommt mir der schreckliche Gedanke, dass meine Mum eines Tages da nicht mehr stehen wird.
»Nächstes Wochenende komm ich wieder, versprochen!«
Sie lächelt vorsichtig, winkt und sagt: »Bis bald.« Und ich gehe und drehe mich trotzdem die ganze Zeit um und winke, bis sie immer weiter hinter dem dichten Schneetreiben verschwindet, und irgendwann bin ich um die Ecke und sehe sie gar nicht mehr.